Archiv für den Monat: Juni 2015

Ich liebe Dich sehr, aber komm‘ bloß nicht her! Ein Ammergauer Possenspiel in drei Akten

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Ansichtskarte aus Oberammergau. Ein Geschäft mit Schnitzwaren. Im Hintergrund ruft der Hausberg, der Kofel.

Oberammergau, 8.8.1958:  „Meine liebe, gute Christl! / Bist Du sehr enttäuscht, daß Du so lange auf eine Antwort warten mußtest? Und dabei hatte ich mich so gefreut, nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte. / Christl, in erster Linie freue ich mich natürlich auf Dein Kommen mit Lothar. Sicher ist das Wochenende am 30.8. recht. Nur die Finanzen, da hab‘ ich mich mal wieder hinein gerannt. Als ich vor vierzehn Tagen am Samstag den Brief an Dich schrieb, sagte ich noch, wie gerne ich mal wieder in die Berge ginge, aber leider keine Zeit hätte. Ja und als am folgenden Sonntag am Vormittag der blaue Himmel lachte, schwang ich mich halt doch auf’s Rad und fuhr in Richtung Garmisch um eine Bergkette zu begehen, die mir schon lange verlockend zuwinkte. Aber, aber ich hatte mich ein bissel stark mit meinen Kräften übernommen. Vier Zweitausender an einem knappen Tag war zu viel, aber auf der Tour fühlte ich mich so stark und gesund und nahm mich scheinbar vor einer Regenwolke auf einem Gipfel nicht sonderlich in Acht. Jedenfalls lag ich die folgende Woche jede Nacht im Fieber und nur viele Tabletten gaben mir am Tage die Möglichkeit, so mit Ach und Weh ein bissel was zu schnitzen. Unserer Ilse mußte ich abschreiben, denn mit dem Verdienst konnte ich ihren Besuch unmöglich gebrauchen. Na, sie schrieb zu gleichen Zeit, daß meine Mutter krank sei und deshalb auch nicht kommen könne. Doch der berüchtigte Sonntag klang für mich so wunderschön aus, denn ich war mit noch zwei Arbeitskumpels von einer amerikanischen Familie eingeladen worden, am Abend um neun Uhr eine Fernsehsendung anzusehen, die einige wunderschöne Aufführungen des russischen Balletts zeigten. Aber das war eine Augenweide und der objektive Ansager übertrieb nicht, als er sagte, daß die Russen mit ihren Solotänzern atemberaubend einmalig sind. Ich würde jetzt überfließen, wenn ich die Schwerelosigkeit der Primaballerina aoder die großartigen Sprünge der männlichen Tänzer im „Schwanensee“ oder dem „Sterbenden Schwan“ beschreiben würde. Also ich lag ganz selig erschlagen am Abend im Bette. Acht Tage später, am vergangenen Sonntag, kam im Kino in Farben und Bühenbildern die ganze Oper aus dem Fernsehen als Film. Das war fast noch schöner. Aber Christl, vielleicht läuft der Film über das russische Ballett auch bei Euch. Da mußt Du hinein. Das „Schwanensee“ mußt Du sehen. Wie da die Liebe ihren vollendeten Ausdruck im Tanz findet, ist sehr, sehr schön. Ja und noch eine Freude hatte ich diese Woche mit meinen beiden Kumpels. In der Wieskirche war am Mittwoch ein Kirchenkonzert am Abend. Es sang ein Chor der internationalen ökonomischen1 Kirchenwoche, ein Bläserchor und ein kleines Orchester. Lauter gute Meister. Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ und „Jesu meine Freude“. Ach, es war wieder sehr schön. Diese großartige Kirche wollte ich schon lange einmal in aller Ruhe betrachten und geführt von der Musik konnte sich da das Auge so recht erfreuen an den Barock- und Rokokoformen. Anschließend trat ein junger Pfarrer auf die Kanzel und erklärte die Geschichte und Bauweise der Kirche ganz noch im Feuer der Musik und, als lächelte sogar der Himmel auf den schönen Abend, kam die Sonne im letzten Gold durch die großen Fenster und das viele Gold und zarte Rot und reine Weiß bildeten mit der schönen Bauweise eine vollendete Harmonie. Ja, das war ein gelebter Abend und die Heimfahrt duch die Wälder und Berge war halt auch herrlich. / Christl, Lieb, ich bekomme manchmal oder öfters ein schlechtes Gewissen, denn ich hab‘ es doch oft sehr schön und Du mußt Dich plagen. Und besonders jetzt. Ja und da hab‘ ich auch noch was gemacht. Nämlich, ich brauchte dringend Schuhe und was hab‘ ich gekauft? Gleich drei Paar auf einen Schlag. Ein Paar Sonntagsschuhe, beige, im italienischen Schnitt, ein Paar feste Halbschuhe für den Werktag und ein Paar Bergschuhe, die mir schon lange in der Nase stecken. Zusammen hat’s 120,- Mark gemacht. Ach, das liebe Geld. Ich jage hinter ihm her und krieg’s so spärlich herein. Einige Entwürfe von Kruzifixen hab‘ ich wieder gemacht, aber ob es deshalb besser wird mit dem Geldverdienen, glaub ich nicht, denn die Firma will doch ihre alten Modelle auf dem Markt behalten, an denen aber nicht viel zu verdienen ist und ein anderer Verleger will wohl meine Modelle und würde mich auch gut bezahlen, aber ich mag mich nicht von meiner Firma lösen, denn ich bin schon so oft gewandert. So arbeite ich halt so viel als möglich schwarz, aber allzuviel kommt auch nicht dabei heraus. Wenn Du hier bist in drei Wochen, wirst Du das aber noch oft genug von mir zu hören bekommen. / Christl, Herz, ich bin doch froh, daß bei Euch zu Hause wenigstens die Waltraud wieder weg ist. Das Mädel hat doch ein Glück gehabt. / Christl, Lieb, was ist es bloß in unserem Leben, wie ist es doch so schwer. Aber in die Haut von einem Menschen wie Waltraud möchte ich doch nicht schlüpfen, denn wenn ich gerade so was sehen und erleben darf wie das Kirchenkonzert und die Ballettaufführung, bin ich froh, daß ich ich bin. Ja, das Leben ist schwer für uns und im Augenblick scheinbar ohne schöne Aussicht. Aber Christl, ich hab‘ Dich lieb, so unendlich lieb und weil ich weiß, daß Dir diese schönene Stunden auch gefallen würden, bin ich so froh, daß ich mit Dir verheiratet bin. Wenn es mir auch sehr weh tut, daß ich so wenig Geld habe. / In unsere Werkstatt kommt immer wieder ein kleines Mädel und schmeichelt so lieb weiblich, daß ich mich wirklich freuen würde, wenn unser Baby ein Mädel werden würde. / Christl, Lieb, ich sage Dir jetzt gute Nacht und sende Dir und Lothar die herzlichsten, liebsten Grüße. / Euer Berthold! / Viele Grüße an Mutti und Siegfried!“

Oberammergau, 21.8.1958: „Liebe, liebe Christl! / Vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Grüße, die Du Deiner Geschäftskollegin aufgetragen hast. (Ich hatte die Frau gar nicht mehr erkannt.) / Ja, Christl, je näher der erste September kommt, desto mehr sehe ich, daß es mir mit dem Geld bei bestem Willen nicht reicht. / So schlecht wie in diesem Monat ging es mir finanziell schon lange nicht. / Und vorm Schuldenmachen graut es mir. Christl, bitte, bevor ich mir für den nächsten Monat wieder eine Geldlast auflade oder ein paar supersparsame Tage mit Dir hier verbringe, bleibe ich wirklich lieber alleine. Christl, sei so gut und verstehe das. Ich grüße Dich und Lothar auf das Herzlichste. / Euer Berthold. / Viele Grüße an Mutti u. Siegfried!“

Oberammergau, 25.8.1958: „Meine liebe, liebe Christl! / Das hab‘ ich natürlich nicht gewollt, daß Du mir Geld schickst. Schatz, tausend Dank dafür. / Christl, ich überleg natürlich hin und her und wie schön es wäre, wenn Du für ein paar Tage hier sein könntest, aber zum Schluß komm‘ ich doch auf den Wunsch, im kommenden Monat wieder auf meine normale Höhe zu kommen und die laufenden Zahlungen gut durchführen zu können. Ach und bei dem Gedanken ans Geld werfe ich alle meine Wünsche über Bord und will nur noch sehen, daß ich vorwärts komme, um die Geldlast weg zu kriegen. Wir brauchen doch ab Winter wieder mehr Geld. Christl, sei so gut und mach Dir ein paar schöne Tage in Deinem Urlaub. Nimm doch einen Teil des vorgesehenen Urlaubsgeldes dafür. Kauf Dir ein Paar Schuhe, gehe ein bissel aus und versuche, Dich zu erholen. Ich finde hier mit meinen Arbeitskameraden immer wieder schöne Stunden beim Bergsteigen und Konzertbesuch. Christl, Lieb, viele herzliche Grüße / Dein Berthold!“

Rückdatierter (erfundener) Brief meiner Mutter an meinen Vater oder High Noon in Oberammergau

Karlsruhe, 22. Mai 1958

Lieber Berthold!

Ich werde Dich am kommenden Wochenende in Oberammergau besuchen, um mit Dir über uns und unsere Zukunft zu sprechen. Mach‘ Dir wegen des dafür benötigten Geldes keine Sorgen, die hundert Mark, die ich während der letzten Monate beiseite gelegt habe, werden genügen. Auch wegen der Unterkunft brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen, ich werde mir ein Zimmer in einer Pension nehmen. Falls Du am Wochenende arbeiten musst oder in die Berge willst, ist das kein Problem. Ich denke, wir werden in zwei Gesprächen von jeweils zwei bis drei Stunden Länge, eines am Samstag und eines am Sonntagvormittag (am Nachmittag fahre ich nach Karlsruhe zurück), zu einer vorläufigen oder endgültigen Entscheidung kommen.

In Deinem Brief an Frau Goebel hast Du geschrieben, dass Du eine Familie hast, mit der Du „mittlerweile leben“ willst. Du gibst also in verblüffender Offenheit zu, dass Du bisher nicht mit uns leben wolltest. Doch nun willst Du es. Willst Du es aber tatsächlich? (Dass Du dieses Schreiben an Frau Goebel nun doch nicht absenden wirst, spielt dabei nur insofern eine Rolle, als es einmal mehr zeigt, wie Du von einem Moment auf den anderen Deine Meinung änderst.)

In Deinem am Tage davor geschriebenen Brief an mich machst Du wirre Pläne für ein gemeinsames Leben in Garmisch-Partenkirchen, wobei gemeinsam heißt: Du und ich. Deinen „Buben“, wie Du unseren Sohn Lothar gerne nennst, wolltest Du in Deinem Gedankenexperiment anscheinend seiner Oma zur Pflege überlassen. Du schreibst das zwar nicht ausdrücklich hin, doch lassen die von Dir selbst gegen Dein Vorhaben vorgebrachten Einwände keinen anderen Schluss zu. Das hat mich eigentlich nicht gewundert, aber es so Blau auf Weiß zu lesen, war doch ein merkwürdiges Erlebnis.

Ich habe mich, nachdem ich Deinen Garmisch-Brief zu Ende gelesen hatte, gefragt, warum Du mich an Deiner konfusen Plänemacherei teilhaben lässt, wenn zu schlechter Letzt doch alles beim Alten bleiben soll. Etwa, um mir zu „beweisen“, dass es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt als die, für die Du Dich entschieden hast? Die Beweiskraft Deiner gordisch verknoteten Beweisketten stelle ich gar nicht in Abrede, doch gibt es eine andere, viel naheliegendere Alternative, die Du notorisch übersiehst, da Dein Blick stets über die in der Ferne liegenden Gebirgsketten einer fürs erste und zweite unerreichbaren Zukunft irrt.

Bisher war ich in unserer Ehe diejenige, die zusehen musste, wie sie mit Deinen einsam gefassten Beschlüssen klarkommen konnte. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir werden nun eine gemeinsame Entscheidung über unsere gemeinsame Zukunft treffen oder es wird keine gemeinsame Zukunft nicht geben, wie ihr in Bayern sagt. Dann würde ich nämlich meinerseits eine einsame Entscheidung für mich und unseren Sohn treffen, und Du würdest derjenige sein, der damit klarzukommen hätte.

Ein Leben in Oberammergau, so hast Du Dich einmal in einem Brief geäußert, könnest Du mir nicht zumuten. Ich glaube, Du wolltest damit sagen, es wäre für Dich selbst eine unzumutbare Zumutung, unter den Dörflern nicht mehr als der einsame Fremdling zu wandeln (und womöglich auch zu lustwandeln), als der arme Mann, der unter dem Getrenntsein von Frau und Kind leidet. Stattdessen müsstest Du umdenken, umfühlen und umlernen, und fortan die Rolle des ganz normalen Familienvaters spielen. Und die Oberammergauer, nicht zuletzt Deine „Kumpels“ oder „Kameraden“, müssten sich daran gewöhnen, in Dir nicht mehr den Leidens-Mann, sondern den alltäglich verheirateten Ehemann und Vater eines real exisitierenden Sohnes zu sehen. Dass der Besetzungsplan des Passionsspielortes oder richtiger: Deines privaten Passionsspiels einen solchen Rollenwechsel eigentlich nicht zulässt, sehe ich voraus. Aber „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ (wie eine deutsche Bundeskanzlerin am 18. Juni 2015 in einer Regierungserklärung sagen wird).

Darüber und über anderes möchte ich mit Dir am Wochenende reden. Ich werde am Samstagmittag mit dem Zug um 12:00 Uhr in Oberammergau ankommen. Stelle Dich bitte auf möglichst emotionslose, möglichst sachliche Gespräche, um nicht zu sagen: auf ergebnisorientierte Verhandlungen mit mir ein. Ich bin gerne Dein Schatz, Dein Lieb, Dein Herz, Deine Christl – das aber erst dann wieder, wenn wir zu einer für mich akzeptablen Lösung gekommen sind.

Deine Christel!

Die Drolshagener Option

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Oberammergau, 21.5.1958: „Liebe Christl! / Die Handwerkskammer München hat geantwortet, daß sie für eine Werkstätte wie Firma Goebel nur ein Jahr genehmigen kann, dagegen wird eine Schnitzschulzeit immer voll angerechnet. Jetzt schreibe ich doch einmal an Goebels, ob sie überhaupt zusagen, wenn ja, dann wird sich sicher nach den anderthalb Jahren ein Weg finden lassen. Außerdem ist nach 1½ Jahren das Passionsjahr, da kann ich sicher sofort für Oberammergau arbeiten, falls sich nichts machen läßt. / Zu dumm, daß die Schreibmaschine noch nicht da ist. Ich warte noch bis Sonntag, dann schreibe ich halt so. Oder ich lege den „Aufsatz“ bei. Schatz, könntest Du versuchen, in Eurem Geschäft den Brief abzutippen? Wenn Du ein paar bessere Satzstellungen finden würdest oder mehr oder weniger sagen wolltest, kannst Du ruhig korrigieren. / Christl, Lieb, sei tausendmal gegrüßt von / Deinem Berthold. / Hier ist es mir zu gefährlich, den Brief von irgend jemandem schreiben zu lassen.“

Brief an Frau Goebel: „Sehr geehrte Frau Goebel! / Für Ihren Besuch bei mir sage ich Ihnen zuerst einmal vielen Dank. Hoffentlich sind Sie trotz des lebhaften Straßenverkehrs wieder gut zu Hause angekommen. / Für mich kam ja die Begegnung mit Ihnen etwas überraschend, nahezu verwirrend, denn so belanglos wie sich unser Geschäftsverhältnis auch anhört wissen Sie doch selbst, ist es nicht. Nämlich das Modellschnitzen für die Druckformen Ihrer Firma. / Werte Frau Goebel, geben Sie mir eine Chance. Lassen Sie mich in Ihre Firma eintreten, weil diese Halbheit: in einer Holzbildhauerwerkstatt angestellt sein und für die Konkurrenz zu schnitzen, nicht meiner Wesensart entspricht. / Wie weit meine Fähigkeiten sind, das Niveau Ihrer Werkstätte zu erhalten, mögen Sie selbst beurteilen, wenn ich Ihnen zwei Arbeiten schicke. Ich möchte Ihnen allerdings gleich sagen, daß ich mit meinen bisher erreichten Fähigkeiten noch lange nicht zufrieden bin und ständig an mir arbeite, diese zu verbessern. Leider fehlt uns Schnitzern hier in Oberammergau ein Grundfaktor, nämlich die Zeit. Deshalb brauche ich eine Voraussetzung, wenn Sie mich einstellen sollten. Ich möchte mindestens ein halbes Jahr nach Garmisch-Partenkirchen in die Schnitzerschule zu unseren besten Lehrern. Dort laufen alle entscheidenden Fäden der Holzbildhauerkultur zusammen. Es wird dort im Gegensatz zur hiesigen Schule konservativ, sauber und künstlerisch wertvoll gelehrt und dabei böte sich für mich die Möglichkeit, ruhig unter sicherer Anleitung alles noch Fehlende für meinen Beruf in mich aufzunehmen. / Die Schulgebühren fallen weg, weil alles Dortgeschnitzte Eigentum der Schule wird. Aber es bietet sich doch in der Freizeit die Gelegenheit zum Schnitzen für den eigenen Bedarf. Dieser „Eigenbedarf“ ginge dann an Ihre Firma weiter. Selbstverständlich würde ich Ihnen laufend Entwürfe der besten Arbeiten in Form von Zeichnungen senden und Sie könnten das jeweils Gewünschte in Auftrag geben. Da ich allerdings in den ersten zwei Monaten mich in der Schule ruhig verhalten möchte, um nicht gleich als Schwarzarbeiter verschrieen zu werden und außerdem erst einmal die Augen offenhalten will, wird meine Verbindung mit Ihnen während der Anfangszeit sicherlich nur in Form von Berichten über meine Tätigkeit und Beobachtung guter Anregungen bestehen. / Jetzt möchte ich nicht zuletzt erwähnen, daß ich eine Familie habe, mit der ich mittlerweile leben will. Sie wissen sicher selbst, daß ein Betrag von dreihundert Mark im Monat für einen Haushalt nicht zu viel ist. Ich denke bei diesem Betrag vor allem an die Zeit während des Schulbesuches. Später müßten, wenn ich mich ganz auf Sie konzentrieren kann, schon fünfhundert DM als Monatseinkommen herausgearbeitet werden. / Aber bis dahin ließen wir erst einmal die Probezeit innerhalb der ersten vier Monate verstreichen, dann können Sie ja selbst urteilen, ob meine Arbeitskraft rentabel ist. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sage Ihnen offen: ich arbeite gerne für Sie und ließe meine eigenen Pläne, deren Ausführung mir auch einen guten Lebensstandard erlauben, fallen. Ich denke doch, daß Ihre Firma einflußreich genug ist, eine gute Bildhauerkunst in den Geschäften zu verbreiten. Und somit einem Modellschnitzer zumindest zwei Jahre Beschäftigung zu bringen. / Bitte schreiben Sie mir Ihren Entscheid. Es gibt für mich nur eine der beiden Möglichkeiten. Entweder ganz für Sie oder ohne Sie, und sie bekommen gleich Ihre Vorausbezahlung zurück. / Sagt Ihnen mein Vorschlag zu, dann schicke ich zunächst einmal die beiden Probearbeiten, fallen auch diese zu Ihrer Zufriedenheit aus, würde ich gerne persönlich nach Drolshagen kommen, mich mit Ihnen nochmals aussprechen und dann meine Probezeit beginnen. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sehe voll Hoffnung Ihrer Antwort entgegen und grüße Sie / mit vorzüglicher Hochachtung / B. R.“

Die Verhandlungen zwischen meinem Vater und der offenbar recht resoluten Frau Goebel (s. u.) führten zu keinem Ergebnis. In einem Brief vom 15.6.1958 (also etwa vier Wochen später) ist von einer grotesken Bedingung die Rede. In der Tat wollte Frau Goebel meinen Vater nur unter der Voraussetzung, dass er ihre Tochter heiratete, bei sich beschäftigen.

Im Internet erhält man unter www.krippenkabinett.de/lexikon.html über die offenbar bis 1965 dort ansässige Firma Goebel diese Auskunft: „Emil Goebel in Drolshagen war Betreiber einer Devotionalienfabrik, die dafür bekannt ist, dass ein hoher Anteil der Figurenproduktion aus Ton und nicht aus Gips erfolgte. Das Material Ton erschien unter diesem Namen, ähnlich wie auch der Gips, nie in den Anzeigen der Fabrikanten, sondern firmierte unter der Bezeichnung ‚Terracotta‘. Emil Goebel war für verschiedene Hersteller von Krippenfiguren tätig gewesen, bevor er Mitte der 1930er Jahre seinen eigenen Betrieb in Düsseldorf gründete. Nachdem es seine Angehörigen in den Kriegswirren nach Drolshagen im Sauerland verschlagen hatte, verlegte er den Betrieb nach dem Krieg ebenfalls dort hin. Nach Emil Goebels Tod führte seine Witwe die Geschäfte noch bis 1965 weiter. Als der Inhaber einer Figurengießerei in Kevelaer Anfang der 1970er Jahre die Witwe Emil Goebels bezüglich der Übernahme von Modellen kontaktierte, drohte diese ihm, die Modelle lieber zu zerschlagen, bevor sie ihm diese über- und damit zuließe, dass ‚ein anderer unsere Modelle herstellt‘.“ Man bemerke die hübsche Ellipse: „über- und damit zuließe“!

Über Schuhsohlen, eine Fahrt mit der Isetta und den Rumold-Opa

BMW-Isetta, der Traumwagen für die Hochzeitsreise (Foto: Brian Snelson)

BMW-Isetta, der Traumwagen für die brieflich angedachte Hochzeitsreise anlässlich des vierten Hochzeitstages 1959  (Foto: Brian Snelson)

Oberammergau, 8.3.1958, an Ch. Rumold: „Ich hatte heute noch nichts gegessen, weil ich bis zum Nachmittag einen Christus schnitzen wollte, aber kurz vor zwei Uhr mußte ich doch etwas einkaufen. Orangen kaufte ich zuerst, denn das Obst hat mir spürbar geholfen. Dann ging ich zum Metzger und in der Bäckerei gab ich mir noch die Wahl zwischen einer Tafel Blockschokolade oder drei Schuhsohlen. Na, ich entschied für Schuhsohlen wegen der möglichen Darmstörungen und nach dem Milchgeschäftsbesuch ging ich noch auf mein Zimmer, vielleicht war ein kleines Briefchen von Dir da, daß Du Dich vielleicht über die Orchidee gefreut hast. Mit Freude sah ich natürlich Dein Päckle, ging aber gleich damit in die Werkstatt. Nun ist nur noch der Anderl bei mir und sein Radio verbreitet eine so schöne Stimmung im Raum, wie es halt eben möglich ist an Schönheitsgrad so alleine an der Front. Ach, Christl, mein Lieb, wenn ich gewußt hätte, daß das Geld für zwei Blumen reichte, dann hätte ich natürlich drei für dieses Jahr für Dich bestellt. Bei Fleurop ist das immer ein bissel eine ungewisse Sache. Im nächsten Jahr bringe ich Dir sie bestimmt selbst, vier Stück, und wenn wir gesund bleiben dürfen und keine Kriegszeiten sind, fahren wir sicher mit einer Isetta auf eine kleine Hochzeitsreise, und wenn sie auch nur einen Nachmittag dauert. Aber ein bissel was machen wir dann schon. Gell, mein Herz. Ja und heute Vormittag hab‘ ich noch nicht mal so recht an Dich gedacht, nur so kurz vorm Aufstehen an Dich wie Du vielleicht froh bist, daß Sabbat ist und etwas länger schlafen darfst und vielleicht die Orchidee von mir betrachtest. Ja, aber bei der Arbeit ging mir ein Brief von meiner Mutter durch den Kopf, den ich gestern erhalten habe. Unser Rumoldopa hat der Ilse vorgerechnet, daß sie nun schon zweitausend Mark bekommen hätte von ihm. Da war natürlich Feuer unter dem Dach. Es ist wahr, so etwas sagt man nicht, aber ich bin Opa trotzdem nicht böse, daß ihm mal der Mund durchgelaufen ist mit ein paar Vorwürfen. Ich wollte ihm gerne mal einen netten, bestimmt anständigen Brief schreiben, denn es ist doch wahr, daß man ihn gern so als Goldesel braucht und immer, wenn Ilse kam, hat er bis jetzt brav etwas gegeben.“

Skizze 1949

Berthld Rumold (mit 20 Jahren): Hans Rumold (mit 9 Jahren) - Skizze auf der Innenseite eines Buches über Michelangelo, oben rechts: "Weihn. 29"

Berthold Rumold (mit 20 Jahren): (vermutlich) Der Bruder Hans Rumold (mit 9 Jahren) – Skizze auf der Innenseite eines Buches über Michelangelo, oben rechts: „Weihn. 49“

Bonsoir tristesse – in den Anlagen von Schloss Linderhof

Oberammergau, 13.7.1957: „Christl, ja, schicke mir bitte das Fahrrad, ich wollte mich ja noch erkundigen, ob und wie es am besten zu senden ist. Gib es bitte vorher zur Reparatur, ich hoffe, Dir nächste Woche siebzig Mark schicken zu können. Es wäre doch schön, wenn ich als am Abend zum Schloß Linderhof fahren könnte. Ich war mit Josefs Rad schon zweimal dort und fand in den gepflegten Anlagen immer schöne Stunden der Erholung und die Fahrt durch die Täler ist für mich ein Genuß. Übrigens höre ich unter den Besuchern immer die pfälzische Landauer Mundart. Sicher sind es so Weinbäuerle. Dick und behäbig watscheln sie um das Lustschlößle und hören gelangweilt den Verslein der Reiseführer zu. Wie hätte wohl der König Ludwig den Kopf geschüttelt, wenn er den schwatzenden Lindwurm mit tausend Beinen und Dickköpfen in seinem für die Einsamkeit erbauten Lustschlößle gesehen hätte. Aber wenn abends sich alles verlaufen hat und man oben am Tempelchen sitzt und den ruhig grafiatätischen Schwänen um den vergoldeten Springbrunnen zuschaut und das Auge die kunstvoll angelegten Rasenanlagen auf und ab spazieren läßt, atmet das Ganze doch eine schöne Ruhe aus, und wenn das Wollen dieses letzten Bayernkönigs auch etwas weltfremd war, so wollte er doch dem Schönen im Leben ein Denkmal setzen und gerade weil er sich aus der Antike und dem vergangenen Barock die Anleitung stehlen mußte, breitet sich über das Ganze so eine eigene Melancholie. Da wirkt ein neues Dorfkirchlein unterwegs schon viel lebenssicherer. Beinahe hätte ich -naher geschrieben. Aber können wir urteilen, was lebensnaher ist, das Geldverdienen oder sich geben an das Schöne? Christus entschied sich ja einmal für Maria nicht für Marta. / Ach, Vorhang zu mit den Lebensbetrachtungen. Ich muß noch zwei Herrgöttlein schnitzen bis Montag früh.“

"Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

"Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

Unbedachter Sozialneid und Porträt des Schnitzers als Gärtner

Oberammergau, 24.2.1957, an Ch. Rumold: „Gell, wenn man im Radio von den Errungenschaften der Metallarbeiter hört, mit ihrer Fünftagewoche und dem Lohnausgleich im Krankheitsfalle, da schütteln wir nur den Kopf und der Seppl sagt dazu: „Hätt‘ ma doch nor was g’scheit’s g’lernt!“ Aber gerade weil ich sehe, wie unregelmäßig bei uns gearbeitet wird, wie ein Unwohlsein oder Krankheit den Verdienst einer Woche so enorm schmälern können, will ich unbedingt einmal auf Nummer sicher gehen. / Schatz, vor mir steht neben Deinem Bilde ein kleiner Blumenstock, ein ‚fleißiges Lieschen‘, und treibt und treibt seine Blätter. Hab ich Dir eigentlich schon von ihm geschrieben? Er war nur ein kleiner Ableger mit einem roten Blütchen. Der Hans, ein Arbeitskumpel, hatte zwei und schenkte mir eines davon. Das seine hatte drei Blüten und meine eine fiel zum Pech auch noch bald ab. Aber das Stöckle treibt dafür Blätter noch und noch und geht schön gerade in die Höhe, daß ich meine größte Freude daran habe. Wie einem so ein ständiges Wachstum unter einer eigenen Pflege doch erfreuen kann. Dem Hans seines will nicht recht wachsen, scheinbar weil es zu arg blüht. Er hat jetzt die Blüten abgepflückt, vielleicht wird’s dann besser. Ein bissel Kopfweh hab ich wieder, sicherlich ist das trübe Wetter daran schuld, ich werde besser eine Tablette nehmen.“

Die Bezahlung auf Stücklohnbasis war zweifellos von Nachteil, etwa wenn einer der Schnitzer krank wurde. Andererseits bot das verkappte Verlagswesen, das von ‚Lang selig Erben‘ ins 20. Jahrhundert hinein gerettet worden war, geradezu erstaunliche Vorteile. Bei entsprechendem Arbeitseinsatz lagen die Verdienstmöglichkeiten deutlich über denen der meisten („anderen“) Fabrikarbeiter mit ihren vertraglich garantierten Festlöhnen samt bezahlten Urlaubstagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Aber vor allem: die Schnitzer benahmen sich in ihrer Werkstatt als wären sie dort zuhause (ein typisches Kennzeichen des Verlagswesen war ja auch die Heimarbeit). Kontrollen irgendwelcher Art gab es nicht. Jeder kam und ging zu jeder Tages- und Nachtzeit wie er wollte oder konnte, und dies auch an Sonn- und Feiertagen. In der Werkstatt konnte man sich etwas kochen, es wurde gegessen und getrunken, das Radio lief beinahe ohne Unterbrechung. Mein Vater schrieb dort die Mehrzahl der Briefe an meine Mutter (ich hätte dieses Buch auch „Briefe aus einer Oberammergauer Schnitzwerkstatt“ nennen könne), während am Tisch in der Ecke ein Kartenspiel im Gange war oder die Kumpels sich fürs Fastnachtstreiben umzogen. Und vielleicht am erstaunlichsten: es war sogar möglich, nebenbei in Schwarzarbeit Schnitzaufträge für fremde Abnehmer zu erledigen oder die fertigen Stücke nicht an die eigene Firma, sondern unmittelbar an winters wie sommers hereinschneiende Touristen zu verkaufen (dann vermutlich unter dem Ladenpreis der Firma, aber über dem Betrag, den man von ‚Lang selig Erben‘ dafür bezahlt bekommen hätte). Den Werkstattinhaber schien das nicht zu interessieren, solange er von seinen Schnitzern eine ausreichende Menge an verkaufbaren Schnitzerein erhielt.

Die Oberammergauer Briefe als E-Book

Derzeit bereite ich die Veröffentlichung des kompletten Korpus der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold als E-Book (Kindle) vor. Als E-Book deshalb, weil mir einerseits die Verlagssuche mühsam und müßig zu sein scheint. Zum anderen bin ich schon seit Jahren ein Kindle-Fan und sehe mich dort in bester Gesellschaft. Ich hoffe, mit der Arbeit in sechs bis acht Wochen fertig zu sein, so dass das E-Book wahrscheinlich Ende Juli, Anfang August 2015 bei Amazon erhältlich sein wird.

Titelentwurf für das in Arbeit befindliche E-Book.

Titelentwurf für ein geplantes E-Book (Juli/August 2015)

Vorwort oder Liebe ist Schreibarbeit und Kalter Hund

Bei Bertolt Brecht heißt es, auch die Liebe sei eine Produktion. Bei meinem Vater Berthold Rumold und seiner Frau Christel war sie die ersten langen zehn Jahre lang zum größeren Teil eine handschriftliche Produktion, eine Schreibarbeit. Sich zu lieben hieß für das Paar von 1952 bis 1962 vor allem anderen, sich Briefe zu schreiben. Die Liebe ging bei ihnen also nicht durch den Magen, sondern hauptsächlich durch den Briefkasten und was sonst noch zum damaligen Postweg dazu gehörte. Kein Wunder, könnte man meinen, standen doch sowohl der Großvater als auch der Vater meines Vaters im Dienst der Reichspost, mein Urgroßvater, geboren 1881, als Postillion, mein Großvater als Postassistent, obwohl er seinen Beruf anlässlich der Geburt des zweiten Sohnes Berthold Friedrich (am 16. Oktober 1929) noch als Kaufmann angegeben hatte. Und schließlich entschied sich auch Hans, der jüngere Bruder meines Vaters, nach kurzem, wenngleich heftigem Zögern (es muss ein wahres Sich-Aufbäumen des Siebzehnjährigen gewesen sein) für eine Laufbahn bei der Deutsche Bundespost, was ihn damals noch in den Genuss der Vorteile des Beamtenstandes brachte. Dass die Liebe meiner Eltern nicht durch den Magen gegangen sei, wie ich oben behauptet habe, ist nicht ganz richtig. Denn die Briefe meiner Mutter an meinen Vater erreichten ihren Adressaten nicht selten in Begleitung eines Päckchens, das in der Regel Schokolade, mitunter aber auch Wurst und manchmal sogar einen „Kalten Hund“ enthielt: eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Firma Bahlsen erfundene Spezialität aus Schichten von Butterkeksen, umgeben von selbstgemachter erkalteter Kakaosoße.

Von den insgesamt rund vierhundert heute noch erhaltenen Briefen, die mein Vater zwischen 1952 und 1962 an meine Mutter geschrieben hat, veröffentliche ich hier die Briefe und Ansichtskarten aus seiner Oberammergauer Zeit. Auch einige an mich selbst, an den „lieben Buben“, gerichtete Briefe werden mit dabei sein. Von Oktober 1956 bis Oktober 1962, also zwischen seinem 27sten und seinem 34sten Geburtstag, lebte und arbeitete mein Vater im oberbayerischen Oberammergau, neunzig Kilometer südlich von München. Oberammergau war und ist eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der deutschen Holzschnitzkunst. Mein Vater hatte im Mai 1952 die Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk abgelegt, nachdem er bei Karl Kinsler in der Karlsruher Karlstraße drei Jahre lang in die Lehre gegangen war. Zu dieser Zeit lernte er, der von Haus aus evangelisch gewesen ist, aufgrund seiner Kontakte zur Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten seine spätere Frau Christine (in den Briefen „Christl“) Burst kennen; die beiden heirateten eilends Anfang März 1955, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass voraussichtlich Anfang September ein von ihnen versehentlich gezeugtes Kind zur Welt kommen würde. Diesem Zeugling, aus dem alsbald ein Säugling und wenig später ich selbst werden sollte, gaben sie den Namen Lothar, ohne zu bedenken, dass die beiden aneinander stoßenden Konsonanten dem rhythmisch-melodischen Aussprechen des Vor- und Nachnamens in einem Atemzug einen gewissen Widerstand entgegensetzen würden. Zumindest was die Wahl des Namens für ihren auch in der Folgezeit ungeplant sich einstellenden Nachwuchs anging, scheinen meine Eltern etwas dazu gelernt zu haben. Denn der Anfang 1959 geborenen Tochter, ihrem zweiten und letzten Kind, gaben sie die Namen Barbara und Christa mit auf den Lebensweg; beide Vornamen verbinden sich mit dem Familiennamen Rumold ohne weiteres zu einer harmonisch-wohlklingenden Einheit.

Dieselbe bedenkenlose Zielstrebigkeit, von der mein Vater bei der Zeugung und Benennung seines Sohnes getrieben worden war, hatte zuvor dazu geführt, dass der junge Ahnungslose zwei oder drei Jahre nach Ablegung der Gesellenprüfung meinte, nun als selbständiger Holzbildhauer am Karlsruher Hauptfriedhof ein Geschäft eröffnen zu können. Der größere Teil der Schuldenlast, unter der mein Vater in den Oberammergauer Briefen gewohnheitsmäßig ächzte, stammte vermutlich aus der Zeit dieses ersten, misslungenen Versuchs, eine eigene Werkstatt zu führen. Der Start in die Selbständigkeit musste deshalb misslingen, weil die Zeit des unternehmerischen Laisser-faire, das im Nachkriegsdeutschland geherrscht hatte, Anfang der 1950er Jahre schon wieder vorbei war. Da mein Vater dazu neigte, äußere Zwänge nicht nur persönlich zu nehmen, sondern auch zu personifizieren, richtete sich sein Zorn (in einem Brief ist sogar von Hass die Rede) noch während der Oberammergauer Jahre gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Karl Kinsler. Tatsächlich ist wahrscheinlich dieser es gewesen, der die rechtlich grundlose und längerfristig unhaltbare Geschäftsgründung bei der Handwerkskammer zur Anzeige brachte, worauf mein Vater den Betrieb einstellen musste. Doch wäre es wohl auch ohne Kinslers Zutun früher oder später zu einer Geschäftsschließung gekommen. Der ehemalige Kinsler-Lehrling hätte eigentlich froh darüber sein können, dass sein alter Holzbildhauermeister ihn dazu zwang, die Perspektivlosigkeit seines Unternehmens einzusehen und beizeiten nach einer tragfähigeren Alternative Ausschau zu halten.

Bei diesem Ausschauhalten nach anderen Möglichkeiten muss mein Vater irgendwann Oberammergau, das damalige Mekka nicht nur der deutschen Schnitzkunstgläubigen, entdeckt haben. Und so kam es, dass Berthold Rumold Ende 1956 seine junge Frau und sein einjähriges Kind verließ, um sechs Jahre lang im oberbayerischen Ammergau für ‚Lang selig Erben‘ im Rahmen eines anachronistischen, aber durchaus muntereren Verlagswesens als Holz- und insbesondere Herrgottschnitzer auf Stücklohnbasis zu arbeiten. Kurzfristig-aktuell bestand sein Ziel darin, in seinem erlernten Beruf sein Geld zu verdienen. Mittelfristig strebte er darüber hinaus die Ablegung der Meisterprüfung an. Langfristig aber wollte er in Karlsruhe im zweiten Anlauf endlich sein eigenes Geschäft eröffnen.

War er seiner Christel damit zwar die meiste Zeit aus den Augen, so war er ihr doch nicht aus dem Sinn und erst recht nicht aus dem Herzen. Dafür sorgte nicht zuletzt der rege Briefverkehr, der sich, in Ermangelung anderer Verkehrsmöglichkeiten, zwischen den beiden entwickelte. Die Briefe meiner Mutter an meinen Vater sind verlorengegangen. Seine an sie gerichteten Briefe und Briefkarten (auch einzelne Ansichtskarten sind dabei) hat meine Mutter mehr als fünfzig Jahre lang in jenem sprichwörtlichen Schuhkarton („Gabor Mode-Schuhe“) aufbewahrt, den meine Schwester und ich nach ihrem Tod im November 1913 im Keller fanden. Dass meine Mutter alles Mögliche sammelte und nichts wegwerfen konnte, hat mich mehr als einmal wütend und ratlos gemacht. Im Fall der Briefe meines Vaters war und bin ich ihr dankbar für diese ins Pathologische spielende Merkwürdigkeit.

Ob meine Eltern die Veröffentlichung der Briefe wohl gewollt hätten, wurde mir einmal zu bedenken gegeben. Vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch? Mit anderen Worten: diese Frage kann zwar gestellt, aber nicht zweifelsfrei, sondern nur spekulativ beantwortet werden. Irgendwo las ich, irgendein Schriftsteller habe irgendwann verfügt, dass gewisse Briefe erst so und so lange nach seinem Ableben veröffentlicht werden durften. Das Vergehen von Zeit scheint bei solchen Fragen also eine Rolle zu spielen. Die Oberammergauer Briefe meines Vaters wurden von ihm vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben, der Briefschreiber ist seit einem viertel Jahrhundert tot, die Adressatin starb vor zwei Jahren. Lässt sich daraus publikationsmoralisch etwas schließen? Ich weiß nicht, ob mein Vater und meine Mutter dieses Buch gewollt hätten. Fest steht: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre die Abschrift der Briefe und ihre Publikation an diesem Ort nicht zustande gekommen. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne jeden Zweifel sicher. Denn es zeigt sich in diesen Briefen, wer mein Vater Berthold Rumold war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden, zum Sich-Wundern und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Historie der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler gewesen, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus moralischen Gründen nicht zu veröffentlichen.

Schließlich noch eine Bemerkung zu den von mir gemachten Anmerkungen im lesetechnischen Sinn. Sie dienen zum einen dazu, die hier relevanten Wissensstände der Beteiligten (mein Vater, meine Mutter, die Leserin, der Leser, ich selbst) einigermaßen zu synchronisieren (und zwar dann und nur dann, wenn dies erforderlich ist). Zum anderen öffnet sich in den Anmerkungen ein zweiter, bedingt autonomer Mitteilungsraum, in dem eine beinahe unbegrenzte Freiheit des Sujets herrscht. Diese Freiheit ist paradoxerweise eine Folge der Abhängigkeit vom Primärtext. In den Anmerkungen ist von der sachlich-neutralen Information über die persönliche Stellungnahme bis zur philosophischen Spekulation alles Mögliche möglich, ohne dass man sich über Formfragen allzu viele Gedanken machen muss. Ich habe von dieser Möglichkeit der auktorialen Narrenfreiheit gelegentlich Gebrauch gemacht. Auf diese Weise ist ein Sekundärtext entstanden, den man als eine Art Buch oder Büchlein im Buch (nämlich in den Anmerkungen) auffassen könnte, wodurch die Publikation der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold unter meinem Namen eine gewisse Berechtigung erhalten würde.

Ein allerletztes Vor-Wort: orthografische Fehler wurden von mir stillschweigend korrigiert. Kreative Besonderheiten (z. B. Wortschöpfungen) wurden originalgetreu wiedergegeben. Die (mit Ausnahme von Punkten und einigen intuitiv gesetzten Kommata) weitgehend fehlenden Satzzeichen wurden weitgehend ergänzt. Dies mindert einerseits die Authentizität der Publikation, beseitigt jedoch andererseits visuelle „Nebengeräusche“, die der Konzentration auf das Mitgeteilte u. U. im Wege stünden.

Noch ein Herrgottschnitzer in Oberammergau

Oberammergau, 30.10.1956: „Meine liebe Christl! / Kurz ein paar Zeilen, daß ich gut angekommen bin und auch Arbeit gefunden habe. Meine neue Arbeitsstelle ist die Schnitzerei ‚Lang selig Erben‘ und beschäftigt ungefähr dreißig Schnitzer. Ich bin speziell den Herrgottschnitzern zugeteilt und fühle mich im Kreis von 7 Kollegen recht wohl. Die Arbeitszeit geht solange man will und wird nach Stücklohn bezahlt. Natürlich tue ich mir jetzt unter den Spezialisten noch schwer, aber es wird schon werden. Ein Zimmer habe ich auch schon, es kostet mit Frühstück und Wäschewaschen 30 Mark. Nun Lieb, ich schreibe Dir am Donnerstag mehr. Bleibe für heute vielmals gegrüßt und geküßt von Deinem Berthold! / Grüße u. küsse Lothar, grüße Mutti u. Siegfried.“

Die Werkstatt von Karl Kinsler

Ein Blick in die Werkstatt von Karl Kinsler, zehn Jahre nachdem mein Vater Berthold Rumold diese nach Ablegung der Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk (Mai 1952) wieder verlassen hatte.

Werkstatt von Karl Kinsler, Karlsruhe, Karlstr. 7, Aufnahme: Karl Schlesiger, 19. 1962

Werkstatt von Karl Kinsler (K. K. im Vordergrund), Karlsruhe, Karlstr. 7, Aufnahme: Horst Schlesiger (am 19.4.1962), Bildrechte: Stadtarchiv Karlsruhe.