Rückdatierter (erfundener) Brief meiner Mutter an meinen Vater oder High Noon in Oberammergau

Karlsruhe, 22. Mai 1958

Lieber Berthold!

Ich werde Dich am kommenden Wochenende in Oberammergau besuchen, um mit Dir über uns und unsere Zukunft zu sprechen. Mach‘ Dir wegen des dafür benötigten Geldes keine Sorgen, die hundert Mark, die ich während der letzten Monate beiseite gelegt habe, werden genügen. Auch wegen der Unterkunft brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen, ich werde mir ein Zimmer in einer Pension nehmen. Falls Du am Wochenende arbeiten musst oder in die Berge willst, ist das kein Problem. Ich denke, wir werden in zwei Gesprächen von jeweils zwei bis drei Stunden Länge, eines am Samstag und eines am Sonntagvormittag (am Nachmittag fahre ich nach Karlsruhe zurück), zu einer vorläufigen oder endgültigen Entscheidung kommen.

In Deinem Brief an Frau Goebel hast Du geschrieben, dass Du eine Familie hast, mit der Du „mittlerweile leben“ willst. Du gibst also in verblüffender Offenheit zu, dass Du bisher nicht mit uns leben wolltest. Doch nun willst Du es. Willst Du es aber tatsächlich? (Dass Du dieses Schreiben an Frau Goebel nun doch nicht absenden wirst, spielt dabei nur insofern eine Rolle, als es einmal mehr zeigt, wie Du von einem Moment auf den anderen Deine Meinung änderst.)

In Deinem am Tage davor geschriebenen Brief an mich machst Du wirre Pläne für ein gemeinsames Leben in Garmisch-Partenkirchen, wobei gemeinsam heißt: Du und ich. Deinen „Buben“, wie Du unseren Sohn Lothar gerne nennst, wolltest Du in Deinem Gedankenexperiment anscheinend seiner Oma zur Pflege überlassen. Du schreibst das zwar nicht ausdrücklich hin, doch lassen die von Dir selbst gegen Dein Vorhaben vorgebrachten Einwände keinen anderen Schluss zu. Das hat mich eigentlich nicht gewundert, aber es so Blau auf Weiß zu lesen, war doch ein merkwürdiges Erlebnis.

Ich habe mich, nachdem ich Deinen Garmisch-Brief zu Ende gelesen hatte, gefragt, warum Du mich an Deiner konfusen Plänemacherei teilhaben lässt, wenn zu schlechter Letzt doch alles beim Alten bleiben soll. Etwa, um mir zu „beweisen“, dass es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt als die, für die Du Dich entschieden hast? Die Beweiskraft Deiner gordisch verknoteten Beweisketten stelle ich gar nicht in Abrede, doch gibt es eine andere, viel naheliegendere Alternative, die Du notorisch übersiehst, da Dein Blick stets über die in der Ferne liegenden Gebirgsketten einer fürs erste und zweite unerreichbaren Zukunft irrt.

Bisher war ich in unserer Ehe diejenige, die zusehen musste, wie sie mit Deinen einsam gefassten Beschlüssen klarkommen konnte. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir werden nun eine gemeinsame Entscheidung über unsere gemeinsame Zukunft treffen oder es wird keine gemeinsame Zukunft nicht geben, wie ihr in Bayern sagt. Dann würde ich nämlich meinerseits eine einsame Entscheidung für mich und unseren Sohn treffen, und Du würdest derjenige sein, der damit klarzukommen hätte.

Ein Leben in Oberammergau, so hast Du Dich einmal in einem Brief geäußert, könnest Du mir nicht zumuten. Ich glaube, Du wolltest damit sagen, es wäre für Dich selbst eine unzumutbare Zumutung, unter den Dörflern nicht mehr als der einsame Fremdling zu wandeln (und womöglich auch zu lustwandeln), als der arme Mann, der unter dem Getrenntsein von Frau und Kind leidet. Stattdessen müsstest Du umdenken, umfühlen und umlernen, und fortan die Rolle des ganz normalen Familienvaters spielen. Und die Oberammergauer, nicht zuletzt Deine „Kumpels“ oder „Kameraden“, müssten sich daran gewöhnen, in Dir nicht mehr den Leidens-Mann, sondern den alltäglich verheirateten Ehemann und Vater eines real exisitierenden Sohnes zu sehen. Dass der Besetzungsplan des Passionsspielortes oder richtiger: Deines privaten Passionsspiels einen solchen Rollenwechsel eigentlich nicht zulässt, sehe ich voraus. Aber „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ (wie eine deutsche Bundeskanzlerin am 18. Juni 2015 in einer Regierungserklärung sagen wird).

Darüber und über anderes möchte ich mit Dir am Wochenende reden. Ich werde am Samstagmittag mit dem Zug um 12:00 Uhr in Oberammergau ankommen. Stelle Dich bitte auf möglichst emotionslose, möglichst sachliche Gespräche, um nicht zu sagen: auf ergebnisorientierte Verhandlungen mit mir ein. Ich bin gerne Dein Schatz, Dein Lieb, Dein Herz, Deine Christl – das aber erst dann wieder, wenn wir zu einer für mich akzeptablen Lösung gekommen sind.

Deine Christel!