Die Drolshagener Option

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Oberammergau, 21.5.1958: „Liebe Christl! / Die Handwerkskammer München hat geantwortet, daß sie für eine Werkstätte wie Firma Goebel nur ein Jahr genehmigen kann, dagegen wird eine Schnitzschulzeit immer voll angerechnet. Jetzt schreibe ich doch einmal an Goebels, ob sie überhaupt zusagen, wenn ja, dann wird sich sicher nach den anderthalb Jahren ein Weg finden lassen. Außerdem ist nach 1½ Jahren das Passionsjahr, da kann ich sicher sofort für Oberammergau arbeiten, falls sich nichts machen läßt. / Zu dumm, daß die Schreibmaschine noch nicht da ist. Ich warte noch bis Sonntag, dann schreibe ich halt so. Oder ich lege den „Aufsatz“ bei. Schatz, könntest Du versuchen, in Eurem Geschäft den Brief abzutippen? Wenn Du ein paar bessere Satzstellungen finden würdest oder mehr oder weniger sagen wolltest, kannst Du ruhig korrigieren. / Christl, Lieb, sei tausendmal gegrüßt von / Deinem Berthold. / Hier ist es mir zu gefährlich, den Brief von irgend jemandem schreiben zu lassen.“

Brief an Frau Goebel: „Sehr geehrte Frau Goebel! / Für Ihren Besuch bei mir sage ich Ihnen zuerst einmal vielen Dank. Hoffentlich sind Sie trotz des lebhaften Straßenverkehrs wieder gut zu Hause angekommen. / Für mich kam ja die Begegnung mit Ihnen etwas überraschend, nahezu verwirrend, denn so belanglos wie sich unser Geschäftsverhältnis auch anhört wissen Sie doch selbst, ist es nicht. Nämlich das Modellschnitzen für die Druckformen Ihrer Firma. / Werte Frau Goebel, geben Sie mir eine Chance. Lassen Sie mich in Ihre Firma eintreten, weil diese Halbheit: in einer Holzbildhauerwerkstatt angestellt sein und für die Konkurrenz zu schnitzen, nicht meiner Wesensart entspricht. / Wie weit meine Fähigkeiten sind, das Niveau Ihrer Werkstätte zu erhalten, mögen Sie selbst beurteilen, wenn ich Ihnen zwei Arbeiten schicke. Ich möchte Ihnen allerdings gleich sagen, daß ich mit meinen bisher erreichten Fähigkeiten noch lange nicht zufrieden bin und ständig an mir arbeite, diese zu verbessern. Leider fehlt uns Schnitzern hier in Oberammergau ein Grundfaktor, nämlich die Zeit. Deshalb brauche ich eine Voraussetzung, wenn Sie mich einstellen sollten. Ich möchte mindestens ein halbes Jahr nach Garmisch-Partenkirchen in die Schnitzerschule zu unseren besten Lehrern. Dort laufen alle entscheidenden Fäden der Holzbildhauerkultur zusammen. Es wird dort im Gegensatz zur hiesigen Schule konservativ, sauber und künstlerisch wertvoll gelehrt und dabei böte sich für mich die Möglichkeit, ruhig unter sicherer Anleitung alles noch Fehlende für meinen Beruf in mich aufzunehmen. / Die Schulgebühren fallen weg, weil alles Dortgeschnitzte Eigentum der Schule wird. Aber es bietet sich doch in der Freizeit die Gelegenheit zum Schnitzen für den eigenen Bedarf. Dieser „Eigenbedarf“ ginge dann an Ihre Firma weiter. Selbstverständlich würde ich Ihnen laufend Entwürfe der besten Arbeiten in Form von Zeichnungen senden und Sie könnten das jeweils Gewünschte in Auftrag geben. Da ich allerdings in den ersten zwei Monaten mich in der Schule ruhig verhalten möchte, um nicht gleich als Schwarzarbeiter verschrieen zu werden und außerdem erst einmal die Augen offenhalten will, wird meine Verbindung mit Ihnen während der Anfangszeit sicherlich nur in Form von Berichten über meine Tätigkeit und Beobachtung guter Anregungen bestehen. / Jetzt möchte ich nicht zuletzt erwähnen, daß ich eine Familie habe, mit der ich mittlerweile leben will. Sie wissen sicher selbst, daß ein Betrag von dreihundert Mark im Monat für einen Haushalt nicht zu viel ist. Ich denke bei diesem Betrag vor allem an die Zeit während des Schulbesuches. Später müßten, wenn ich mich ganz auf Sie konzentrieren kann, schon fünfhundert DM als Monatseinkommen herausgearbeitet werden. / Aber bis dahin ließen wir erst einmal die Probezeit innerhalb der ersten vier Monate verstreichen, dann können Sie ja selbst urteilen, ob meine Arbeitskraft rentabel ist. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sage Ihnen offen: ich arbeite gerne für Sie und ließe meine eigenen Pläne, deren Ausführung mir auch einen guten Lebensstandard erlauben, fallen. Ich denke doch, daß Ihre Firma einflußreich genug ist, eine gute Bildhauerkunst in den Geschäften zu verbreiten. Und somit einem Modellschnitzer zumindest zwei Jahre Beschäftigung zu bringen. / Bitte schreiben Sie mir Ihren Entscheid. Es gibt für mich nur eine der beiden Möglichkeiten. Entweder ganz für Sie oder ohne Sie, und sie bekommen gleich Ihre Vorausbezahlung zurück. / Sagt Ihnen mein Vorschlag zu, dann schicke ich zunächst einmal die beiden Probearbeiten, fallen auch diese zu Ihrer Zufriedenheit aus, würde ich gerne persönlich nach Drolshagen kommen, mich mit Ihnen nochmals aussprechen und dann meine Probezeit beginnen. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sehe voll Hoffnung Ihrer Antwort entgegen und grüße Sie / mit vorzüglicher Hochachtung / B. R.“

Die Verhandlungen zwischen meinem Vater und der offenbar recht resoluten Frau Goebel (s. u.) führten zu keinem Ergebnis. In einem Brief vom 15.6.1958 (also etwa vier Wochen später) ist von einer grotesken Bedingung die Rede. In der Tat wollte Frau Goebel meinen Vater nur unter der Voraussetzung, dass er ihre Tochter heiratete, bei sich beschäftigen.

Im Internet erhält man unter www.krippenkabinett.de/lexikon.html über die offenbar bis 1965 dort ansässige Firma Goebel diese Auskunft: „Emil Goebel in Drolshagen war Betreiber einer Devotionalienfabrik, die dafür bekannt ist, dass ein hoher Anteil der Figurenproduktion aus Ton und nicht aus Gips erfolgte. Das Material Ton erschien unter diesem Namen, ähnlich wie auch der Gips, nie in den Anzeigen der Fabrikanten, sondern firmierte unter der Bezeichnung ‚Terracotta‘. Emil Goebel war für verschiedene Hersteller von Krippenfiguren tätig gewesen, bevor er Mitte der 1930er Jahre seinen eigenen Betrieb in Düsseldorf gründete. Nachdem es seine Angehörigen in den Kriegswirren nach Drolshagen im Sauerland verschlagen hatte, verlegte er den Betrieb nach dem Krieg ebenfalls dort hin. Nach Emil Goebels Tod führte seine Witwe die Geschäfte noch bis 1965 weiter. Als der Inhaber einer Figurengießerei in Kevelaer Anfang der 1970er Jahre die Witwe Emil Goebels bezüglich der Übernahme von Modellen kontaktierte, drohte diese ihm, die Modelle lieber zu zerschlagen, bevor sie ihm diese über- und damit zuließe, dass ‚ein anderer unsere Modelle herstellt‘.“ Man bemerke die hübsche Ellipse: „über- und damit zuließe“!

Über Schuhsohlen, eine Fahrt mit der Isetta und den Rumold-Opa

BMW-Isetta, der Traumwagen für die Hochzeitsreise (Foto: Brian Snelson)

BMW-Isetta, der Traumwagen für die brieflich angedachte Hochzeitsreise anlässlich des vierten Hochzeitstages 1959  (Foto: Brian Snelson)

Oberammergau, 8.3.1958, an Ch. Rumold: „Ich hatte heute noch nichts gegessen, weil ich bis zum Nachmittag einen Christus schnitzen wollte, aber kurz vor zwei Uhr mußte ich doch etwas einkaufen. Orangen kaufte ich zuerst, denn das Obst hat mir spürbar geholfen. Dann ging ich zum Metzger und in der Bäckerei gab ich mir noch die Wahl zwischen einer Tafel Blockschokolade oder drei Schuhsohlen. Na, ich entschied für Schuhsohlen wegen der möglichen Darmstörungen und nach dem Milchgeschäftsbesuch ging ich noch auf mein Zimmer, vielleicht war ein kleines Briefchen von Dir da, daß Du Dich vielleicht über die Orchidee gefreut hast. Mit Freude sah ich natürlich Dein Päckle, ging aber gleich damit in die Werkstatt. Nun ist nur noch der Anderl bei mir und sein Radio verbreitet eine so schöne Stimmung im Raum, wie es halt eben möglich ist an Schönheitsgrad so alleine an der Front. Ach, Christl, mein Lieb, wenn ich gewußt hätte, daß das Geld für zwei Blumen reichte, dann hätte ich natürlich drei für dieses Jahr für Dich bestellt. Bei Fleurop ist das immer ein bissel eine ungewisse Sache. Im nächsten Jahr bringe ich Dir sie bestimmt selbst, vier Stück, und wenn wir gesund bleiben dürfen und keine Kriegszeiten sind, fahren wir sicher mit einer Isetta auf eine kleine Hochzeitsreise, und wenn sie auch nur einen Nachmittag dauert. Aber ein bissel was machen wir dann schon. Gell, mein Herz. Ja und heute Vormittag hab‘ ich noch nicht mal so recht an Dich gedacht, nur so kurz vorm Aufstehen an Dich wie Du vielleicht froh bist, daß Sabbat ist und etwas länger schlafen darfst und vielleicht die Orchidee von mir betrachtest. Ja, aber bei der Arbeit ging mir ein Brief von meiner Mutter durch den Kopf, den ich gestern erhalten habe. Unser Rumoldopa hat der Ilse vorgerechnet, daß sie nun schon zweitausend Mark bekommen hätte von ihm. Da war natürlich Feuer unter dem Dach. Es ist wahr, so etwas sagt man nicht, aber ich bin Opa trotzdem nicht böse, daß ihm mal der Mund durchgelaufen ist mit ein paar Vorwürfen. Ich wollte ihm gerne mal einen netten, bestimmt anständigen Brief schreiben, denn es ist doch wahr, daß man ihn gern so als Goldesel braucht und immer, wenn Ilse kam, hat er bis jetzt brav etwas gegeben.“

Skizze 1949

Berthld Rumold (mit 20 Jahren): Hans Rumold (mit 9 Jahren) - Skizze auf der Innenseite eines Buches über Michelangelo, oben rechts: "Weihn. 29"

Berthold Rumold (mit 20 Jahren): (vermutlich) Der Bruder Hans Rumold (mit 9 Jahren) – Skizze auf der Innenseite eines Buches über Michelangelo, oben rechts: „Weihn. 49“

Bonsoir tristesse – in den Anlagen von Schloss Linderhof

Oberammergau, 13.7.1957: „Christl, ja, schicke mir bitte das Fahrrad, ich wollte mich ja noch erkundigen, ob und wie es am besten zu senden ist. Gib es bitte vorher zur Reparatur, ich hoffe, Dir nächste Woche siebzig Mark schicken zu können. Es wäre doch schön, wenn ich als am Abend zum Schloß Linderhof fahren könnte. Ich war mit Josefs Rad schon zweimal dort und fand in den gepflegten Anlagen immer schöne Stunden der Erholung und die Fahrt durch die Täler ist für mich ein Genuß. Übrigens höre ich unter den Besuchern immer die pfälzische Landauer Mundart. Sicher sind es so Weinbäuerle. Dick und behäbig watscheln sie um das Lustschlößle und hören gelangweilt den Verslein der Reiseführer zu. Wie hätte wohl der König Ludwig den Kopf geschüttelt, wenn er den schwatzenden Lindwurm mit tausend Beinen und Dickköpfen in seinem für die Einsamkeit erbauten Lustschlößle gesehen hätte. Aber wenn abends sich alles verlaufen hat und man oben am Tempelchen sitzt und den ruhig grafiatätischen Schwänen um den vergoldeten Springbrunnen zuschaut und das Auge die kunstvoll angelegten Rasenanlagen auf und ab spazieren läßt, atmet das Ganze doch eine schöne Ruhe aus, und wenn das Wollen dieses letzten Bayernkönigs auch etwas weltfremd war, so wollte er doch dem Schönen im Leben ein Denkmal setzen und gerade weil er sich aus der Antike und dem vergangenen Barock die Anleitung stehlen mußte, breitet sich über das Ganze so eine eigene Melancholie. Da wirkt ein neues Dorfkirchlein unterwegs schon viel lebenssicherer. Beinahe hätte ich -naher geschrieben. Aber können wir urteilen, was lebensnaher ist, das Geldverdienen oder sich geben an das Schöne? Christus entschied sich ja einmal für Maria nicht für Marta. / Ach, Vorhang zu mit den Lebensbetrachtungen. Ich muß noch zwei Herrgöttlein schnitzen bis Montag früh.“

"Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

"Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

Unbedachter Sozialneid und Porträt des Schnitzers als Gärtner

Oberammergau, 24.2.1957, an Ch. Rumold: „Gell, wenn man im Radio von den Errungenschaften der Metallarbeiter hört, mit ihrer Fünftagewoche und dem Lohnausgleich im Krankheitsfalle, da schütteln wir nur den Kopf und der Seppl sagt dazu: „Hätt‘ ma doch nor was g’scheit’s g’lernt!“ Aber gerade weil ich sehe, wie unregelmäßig bei uns gearbeitet wird, wie ein Unwohlsein oder Krankheit den Verdienst einer Woche so enorm schmälern können, will ich unbedingt einmal auf Nummer sicher gehen. / Schatz, vor mir steht neben Deinem Bilde ein kleiner Blumenstock, ein ‚fleißiges Lieschen‘, und treibt und treibt seine Blätter. Hab ich Dir eigentlich schon von ihm geschrieben? Er war nur ein kleiner Ableger mit einem roten Blütchen. Der Hans, ein Arbeitskumpel, hatte zwei und schenkte mir eines davon. Das seine hatte drei Blüten und meine eine fiel zum Pech auch noch bald ab. Aber das Stöckle treibt dafür Blätter noch und noch und geht schön gerade in die Höhe, daß ich meine größte Freude daran habe. Wie einem so ein ständiges Wachstum unter einer eigenen Pflege doch erfreuen kann. Dem Hans seines will nicht recht wachsen, scheinbar weil es zu arg blüht. Er hat jetzt die Blüten abgepflückt, vielleicht wird’s dann besser. Ein bissel Kopfweh hab ich wieder, sicherlich ist das trübe Wetter daran schuld, ich werde besser eine Tablette nehmen.“

Die Bezahlung auf Stücklohnbasis war zweifellos von Nachteil, etwa wenn einer der Schnitzer krank wurde. Andererseits bot das verkappte Verlagswesen, das von ‚Lang selig Erben‘ ins 20. Jahrhundert hinein gerettet worden war, geradezu erstaunliche Vorteile. Bei entsprechendem Arbeitseinsatz lagen die Verdienstmöglichkeiten deutlich über denen der meisten („anderen“) Fabrikarbeiter mit ihren vertraglich garantierten Festlöhnen samt bezahlten Urlaubstagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Aber vor allem: die Schnitzer benahmen sich in ihrer Werkstatt als wären sie dort zuhause (ein typisches Kennzeichen des Verlagswesen war ja auch die Heimarbeit). Kontrollen irgendwelcher Art gab es nicht. Jeder kam und ging zu jeder Tages- und Nachtzeit wie er wollte oder konnte, und dies auch an Sonn- und Feiertagen. In der Werkstatt konnte man sich etwas kochen, es wurde gegessen und getrunken, das Radio lief beinahe ohne Unterbrechung. Mein Vater schrieb dort die Mehrzahl der Briefe an meine Mutter (ich hätte dieses Buch auch „Briefe aus einer Oberammergauer Schnitzwerkstatt“ nennen könne), während am Tisch in der Ecke ein Kartenspiel im Gange war oder die Kumpels sich fürs Fastnachtstreiben umzogen. Und vielleicht am erstaunlichsten: es war sogar möglich, nebenbei in Schwarzarbeit Schnitzaufträge für fremde Abnehmer zu erledigen oder die fertigen Stücke nicht an die eigene Firma, sondern unmittelbar an winters wie sommers hereinschneiende Touristen zu verkaufen (dann vermutlich unter dem Ladenpreis der Firma, aber über dem Betrag, den man von ‚Lang selig Erben‘ dafür bezahlt bekommen hätte). Den Werkstattinhaber schien das nicht zu interessieren, solange er von seinen Schnitzern eine ausreichende Menge an verkaufbaren Schnitzerein erhielt.

Die Oberammergauer Briefe als E-Book

Derzeit bereite ich die Veröffentlichung des kompletten Korpus der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold als E-Book (Kindle) vor. Als E-Book deshalb, weil mir einerseits die Verlagssuche mühsam und müßig zu sein scheint. Zum anderen bin ich schon seit Jahren ein Kindle-Fan und sehe mich dort in bester Gesellschaft. Ich hoffe, mit der Arbeit in sechs bis acht Wochen fertig zu sein, so dass das E-Book wahrscheinlich Ende Juli, Anfang August 2015 bei Amazon erhältlich sein wird.

Titelentwurf für das in Arbeit befindliche E-Book.

Titelentwurf für ein geplantes E-Book (Juli/August 2015)

Vorwort oder Liebe ist Schreibarbeit und Kalter Hund

Bei Bertolt Brecht heißt es, auch die Liebe sei eine Produktion. Bei meinem Vater Berthold Rumold und seiner Frau Christel war sie die ersten langen zehn Jahre lang zum größeren Teil eine handschriftliche Produktion, eine Schreibarbeit. Sich zu lieben hieß für das Paar von 1952 bis 1962 vor allem anderen, sich Briefe zu schreiben. Die Liebe ging bei ihnen also nicht durch den Magen, sondern hauptsächlich durch den Briefkasten und was sonst noch zum damaligen Postweg dazu gehörte. Kein Wunder, könnte man meinen, standen doch sowohl der Großvater als auch der Vater meines Vaters im Dienst der Reichspost, mein Urgroßvater, geboren 1881, als Postillion, mein Großvater als Postassistent, obwohl er seinen Beruf anlässlich der Geburt des zweiten Sohnes Berthold Friedrich (am 16. Oktober 1929) noch als Kaufmann angegeben hatte. Und schließlich entschied sich auch Hans, der jüngere Bruder meines Vaters, nach kurzem, wenngleich heftigem Zögern (es muss ein wahres Sich-Aufbäumen des Siebzehnjährigen gewesen sein) für eine Laufbahn bei der Deutsche Bundespost, was ihn damals noch in den Genuss der Vorteile des Beamtenstandes brachte. Dass die Liebe meiner Eltern nicht durch den Magen gegangen sei, wie ich oben behauptet habe, ist nicht ganz richtig. Denn die Briefe meiner Mutter an meinen Vater erreichten ihren Adressaten nicht selten in Begleitung eines Päckchens, das in der Regel Schokolade, mitunter aber auch Wurst und manchmal sogar einen „Kalten Hund“ enthielt: eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Firma Bahlsen erfundene Spezialität aus Schichten von Butterkeksen, umgeben von selbstgemachter erkalteter Kakaosoße.

Von den insgesamt rund vierhundert heute noch erhaltenen Briefen, die mein Vater zwischen 1952 und 1962 an meine Mutter geschrieben hat, veröffentliche ich hier die Briefe und Ansichtskarten aus seiner Oberammergauer Zeit. Auch einige an mich selbst, an den „lieben Buben“, gerichtete Briefe werden mit dabei sein. Von Oktober 1956 bis Oktober 1962, also zwischen seinem 27sten und seinem 34sten Geburtstag, lebte und arbeitete mein Vater im oberbayerischen Oberammergau, neunzig Kilometer südlich von München. Oberammergau war und ist eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der deutschen Holzschnitzkunst. Mein Vater hatte im Mai 1952 die Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk abgelegt, nachdem er bei Karl Kinsler in der Karlsruher Karlstraße drei Jahre lang in die Lehre gegangen war. Zu dieser Zeit lernte er, der von Haus aus evangelisch gewesen ist, aufgrund seiner Kontakte zur Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten seine spätere Frau Christine (in den Briefen „Christl“) Burst kennen; die beiden heirateten eilends Anfang März 1955, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass voraussichtlich Anfang September ein von ihnen versehentlich gezeugtes Kind zur Welt kommen würde. Diesem Zeugling, aus dem alsbald ein Säugling und wenig später ich selbst werden sollte, gaben sie den Namen Lothar, ohne zu bedenken, dass die beiden aneinander stoßenden Konsonanten dem rhythmisch-melodischen Aussprechen des Vor- und Nachnamens in einem Atemzug einen gewissen Widerstand entgegensetzen würden. Zumindest was die Wahl des Namens für ihren auch in der Folgezeit ungeplant sich einstellenden Nachwuchs anging, scheinen meine Eltern etwas dazu gelernt zu haben. Denn der Anfang 1959 geborenen Tochter, ihrem zweiten und letzten Kind, gaben sie die Namen Barbara und Christa mit auf den Lebensweg; beide Vornamen verbinden sich mit dem Familiennamen Rumold ohne weiteres zu einer harmonisch-wohlklingenden Einheit.

Dieselbe bedenkenlose Zielstrebigkeit, von der mein Vater bei der Zeugung und Benennung seines Sohnes getrieben worden war, hatte zuvor dazu geführt, dass der junge Ahnungslose zwei oder drei Jahre nach Ablegung der Gesellenprüfung meinte, nun als selbständiger Holzbildhauer am Karlsruher Hauptfriedhof ein Geschäft eröffnen zu können. Der größere Teil der Schuldenlast, unter der mein Vater in den Oberammergauer Briefen gewohnheitsmäßig ächzte, stammte vermutlich aus der Zeit dieses ersten, misslungenen Versuchs, eine eigene Werkstatt zu führen. Der Start in die Selbständigkeit musste deshalb misslingen, weil die Zeit des unternehmerischen Laisser-faire, das im Nachkriegsdeutschland geherrscht hatte, Anfang der 1950er Jahre schon wieder vorbei war. Da mein Vater dazu neigte, äußere Zwänge nicht nur persönlich zu nehmen, sondern auch zu personifizieren, richtete sich sein Zorn (in einem Brief ist sogar von Hass die Rede) noch während der Oberammergauer Jahre gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Karl Kinsler. Tatsächlich ist wahrscheinlich dieser es gewesen, der die rechtlich grundlose und längerfristig unhaltbare Geschäftsgründung bei der Handwerkskammer zur Anzeige brachte, worauf mein Vater den Betrieb einstellen musste. Doch wäre es wohl auch ohne Kinslers Zutun früher oder später zu einer Geschäftsschließung gekommen. Der ehemalige Kinsler-Lehrling hätte eigentlich froh darüber sein können, dass sein alter Holzbildhauermeister ihn dazu zwang, die Perspektivlosigkeit seines Unternehmens einzusehen und beizeiten nach einer tragfähigeren Alternative Ausschau zu halten.

Bei diesem Ausschauhalten nach anderen Möglichkeiten muss mein Vater irgendwann Oberammergau, das damalige Mekka nicht nur der deutschen Schnitzkunstgläubigen, entdeckt haben. Und so kam es, dass Berthold Rumold Ende 1956 seine junge Frau und sein einjähriges Kind verließ, um sechs Jahre lang im oberbayerischen Ammergau für ‚Lang selig Erben‘ im Rahmen eines anachronistischen, aber durchaus muntereren Verlagswesens als Holz- und insbesondere Herrgottschnitzer auf Stücklohnbasis zu arbeiten. Kurzfristig-aktuell bestand sein Ziel darin, in seinem erlernten Beruf sein Geld zu verdienen. Mittelfristig strebte er darüber hinaus die Ablegung der Meisterprüfung an. Langfristig aber wollte er in Karlsruhe im zweiten Anlauf endlich sein eigenes Geschäft eröffnen.

War er seiner Christel damit zwar die meiste Zeit aus den Augen, so war er ihr doch nicht aus dem Sinn und erst recht nicht aus dem Herzen. Dafür sorgte nicht zuletzt der rege Briefverkehr, der sich, in Ermangelung anderer Verkehrsmöglichkeiten, zwischen den beiden entwickelte. Die Briefe meiner Mutter an meinen Vater sind verlorengegangen. Seine an sie gerichteten Briefe und Briefkarten (auch einzelne Ansichtskarten sind dabei) hat meine Mutter mehr als fünfzig Jahre lang in jenem sprichwörtlichen Schuhkarton („Gabor Mode-Schuhe“) aufbewahrt, den meine Schwester und ich nach ihrem Tod im November 1913 im Keller fanden. Dass meine Mutter alles Mögliche sammelte und nichts wegwerfen konnte, hat mich mehr als einmal wütend und ratlos gemacht. Im Fall der Briefe meines Vaters war und bin ich ihr dankbar für diese ins Pathologische spielende Merkwürdigkeit.

Ob meine Eltern die Veröffentlichung der Briefe wohl gewollt hätten, wurde mir einmal zu bedenken gegeben. Vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch? Mit anderen Worten: diese Frage kann zwar gestellt, aber nicht zweifelsfrei, sondern nur spekulativ beantwortet werden. Irgendwo las ich, irgendein Schriftsteller habe irgendwann verfügt, dass gewisse Briefe erst so und so lange nach seinem Ableben veröffentlicht werden durften. Das Vergehen von Zeit scheint bei solchen Fragen also eine Rolle zu spielen. Die Oberammergauer Briefe meines Vaters wurden von ihm vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben, der Briefschreiber ist seit einem viertel Jahrhundert tot, die Adressatin starb vor zwei Jahren. Lässt sich daraus publikationsmoralisch etwas schließen? Ich weiß nicht, ob mein Vater und meine Mutter dieses Buch gewollt hätten. Fest steht: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre die Abschrift der Briefe und ihre Publikation an diesem Ort nicht zustande gekommen. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne jeden Zweifel sicher. Denn es zeigt sich in diesen Briefen, wer mein Vater Berthold Rumold war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden, zum Sich-Wundern und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Historie der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler gewesen, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus moralischen Gründen nicht zu veröffentlichen.

Schließlich noch eine Bemerkung zu den von mir gemachten Anmerkungen im lesetechnischen Sinn. Sie dienen zum einen dazu, die hier relevanten Wissensstände der Beteiligten (mein Vater, meine Mutter, die Leserin, der Leser, ich selbst) einigermaßen zu synchronisieren (und zwar dann und nur dann, wenn dies erforderlich ist). Zum anderen öffnet sich in den Anmerkungen ein zweiter, bedingt autonomer Mitteilungsraum, in dem eine beinahe unbegrenzte Freiheit des Sujets herrscht. Diese Freiheit ist paradoxerweise eine Folge der Abhängigkeit vom Primärtext. In den Anmerkungen ist von der sachlich-neutralen Information über die persönliche Stellungnahme bis zur philosophischen Spekulation alles Mögliche möglich, ohne dass man sich über Formfragen allzu viele Gedanken machen muss. Ich habe von dieser Möglichkeit der auktorialen Narrenfreiheit gelegentlich Gebrauch gemacht. Auf diese Weise ist ein Sekundärtext entstanden, den man als eine Art Buch oder Büchlein im Buch (nämlich in den Anmerkungen) auffassen könnte, wodurch die Publikation der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold unter meinem Namen eine gewisse Berechtigung erhalten würde.

Ein allerletztes Vor-Wort: orthografische Fehler wurden von mir stillschweigend korrigiert. Kreative Besonderheiten (z. B. Wortschöpfungen) wurden originalgetreu wiedergegeben. Die (mit Ausnahme von Punkten und einigen intuitiv gesetzten Kommata) weitgehend fehlenden Satzzeichen wurden weitgehend ergänzt. Dies mindert einerseits die Authentizität der Publikation, beseitigt jedoch andererseits visuelle „Nebengeräusche“, die der Konzentration auf das Mitgeteilte u. U. im Wege stünden.

Noch ein Herrgottschnitzer in Oberammergau

Oberammergau, 30.10.1956: „Meine liebe Christl! / Kurz ein paar Zeilen, daß ich gut angekommen bin und auch Arbeit gefunden habe. Meine neue Arbeitsstelle ist die Schnitzerei ‚Lang selig Erben‘ und beschäftigt ungefähr dreißig Schnitzer. Ich bin speziell den Herrgottschnitzern zugeteilt und fühle mich im Kreis von 7 Kollegen recht wohl. Die Arbeitszeit geht solange man will und wird nach Stücklohn bezahlt. Natürlich tue ich mir jetzt unter den Spezialisten noch schwer, aber es wird schon werden. Ein Zimmer habe ich auch schon, es kostet mit Frühstück und Wäschewaschen 30 Mark. Nun Lieb, ich schreibe Dir am Donnerstag mehr. Bleibe für heute vielmals gegrüßt und geküßt von Deinem Berthold! / Grüße u. küsse Lothar, grüße Mutti u. Siegfried.“

Die Werkstatt von Karl Kinsler

Ein Blick in die Werkstatt von Karl Kinsler, zehn Jahre nachdem mein Vater Berthold Rumold diese nach Ablegung der Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk (Mai 1952) wieder verlassen hatte.

Werkstatt von Karl Kinsler, Karlsruhe, Karlstr. 7, Aufnahme: Karl Schlesiger, 19. 1962

Werkstatt von Karl Kinsler (K. K. im Vordergrund), Karlsruhe, Karlstr. 7, Aufnahme: Horst Schlesiger (am 19.4.1962), Bildrechte: Stadtarchiv Karlsruhe.

Oberammergau war alternativlos

Oberammergau, 17.8.1957, an Ch. Rumold: „Gestern Abend hab ich im Bett mir alle Möglichkeiten mal wieder durch den Kopf gehen lassen. Wenn es doch nur in Karlsruhe noch einen Holzbildhauer außer dem Kinsler gäbe. Ich empfinde, daß wir zu starke Rivalen geworden sind, denn er hat doch durch den Brändli jetzt eine große Summe Geld verloren und in seinem Prestige vor den umliegenden Bildhauern nicht gerade gewonnen. Das ist doch ein starker Streitstachel gegen mich, wenn ich in seiner Werkstatt wäre und ich habe noch mehr eingebüßt und bliebe ihm gewiß keine Antwort schuldig. Wenn ich auch jetzt keinen solch häßlichen Haß mehr gegen ihn empfinde, so habe ich doch ein Distanzgefühl von Mann zu Mann, das vorerst keine Versöhnungsszenen erlaubt. Ja, und Heimarbeiten zu Hause bei Dir, das schluckt wieder so viel Geld beim verschicken der fertigen Christusse, denn mit angeleimten Armen und zarten Fingern muß jedes Stück gut verpackt werden. Und wenn ich mir jetzt schon Filialen suchen würde, an die ich schwarz liefere und nur von Zeit zu Zeit pro forma an meine Firma hier Arbeiten schicken würde, das möchte ich auch nicht mehr riskieren. Also sinkt man wieder mit einem Seufzer zurück in die Kissen und glaubt an die große Liebe, die ich spüre.“

Nachdem mein Vater aus dem Aalener und Lauchheimer „Exil“, in das er sich auf der Suche nach einer Einkommensquelle nach der Gesellenprüfung  (Mai 1952) geflüchtet hatte, wieder nach Karlsruhe zurückgekommen war, unternahm er einen ersten Versuch, sich mit einer eigenen Holzbildhauer-Werkstatt (im Haus des erwähnten Herrn Brändli) am Karlsruher Hauptfriedhof selbständig zu machen. Sein ehemaliger Lehrmeister Karl Kinsler vereitelte dies, vermutlich indem er die Handwerkskammer darüber informierte, dass da einer ohne die zu diesem Zeitpunkt wieder erforderliche Meisterprüfung selbständig tätig war.

Hitlerjunge Berthold R.

Foto aus dem Nachlass von B. R., vermutlich ist er einer der

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold – vermutlich ist er einer der abgebildeten Blonden und Blauäugigen.

Wie achtundneunzig Pronzent der deutschen Jugendlichen war auch mein Vater bei der sogenannten Hitlerjugend. Wahrscheinlich gehörte er zu den ersten Zehnjährigen, die nach Einführung der gesetzlichen Dienstregelung 1939 zweimal pro Woche zu Sport, Spiel und ideologischer Indoktrination antreten mussten – in vielen Fällen womöglich auch: durften. Denn mit zehn Jahren sind wir Jungs in der Regel noch ziemlich gesellig und sehen das mit dem Leute-Totschießen eher von der sportlich-spielerischen Seite. In der Endphase des Krieges war mein Vater 15 Jahre alt und hatte damit eine kritische Grenze überschritten, da nach der Notdienstverordung vom Oktober 1938 „jeder Bewohner des Reichsgebietes nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen, vom Staat bestimmten Diensten herangezogen werden“ konnte. (Wikipedia) Mir ist allerdings nicht bekannt, dass er zu irgendwelchen kriegsdienstartigen Diensten herangezogen worden wäre; ebensowenig weiß ich, ob es ihn damals zu solchen Diensten hingezogen hat oder doch eher nicht. Viele Jahre später, am 31. Oktober 1959, schreibt er jedenfalls in einem Brief aus Oberammergau an seine Frau: „Übrigens habe ich gestern eine Vorladung ‚zur Erfassung des wehrdienstpflichtigen Jahrgangs‘ bekommen. Ich will mal sehen, was die wollen. Ich bin so lange geduldig, bis ich untersucht bin, ob ich überhaupt gesundheitlich tauglich bin. Eine Kriegsdienstausbildung mache ich nicht mit.“

Foto aus dem Nachlass von B. R.

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold