Das allmähliches Verstummen des Berthold Rumold

Was brachte meinen Vater zum Verstummen? In seinen Briefen aus Oberammergau zeigte er sich vielseitig interessiert. Er äußerte seine Meinung über die neuesten Kino-Filme, über alte und neue Kunst, über die Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermode. Sogar zu klassischen Musikstücken fiel ihm etwas ein. Er fuhr Ski und unternahm ausgedehnte, teilweise waghalsige Bergtouren, kannte sich aus mit den Pflanzen der Region. Er studierte Kunstgeschichte, lernte Englisch und (ich glaubte es kaum) Latein. Mit seiner Rückkehr nach Karlsruhe muss eine Wandlung begonnen haben, die ihn immer tiefer in eine Zone des Schweigens hineinführte, aus der es zuletzt kein Zurück ins Leben, in die sprachliche Auseinandersetzung mit der näheren und weiteren Umgebung mehr gab. Einer meiner Freunde aus Kindertagen fand das im Rückblick geradezu löblich, gut sei das gewesen, dass mein Vater notorisch zu allem den Mund gehalten habe. Ich konnte und kann dem nicht zustimmen. Beinahe kommt es mir so vor, als wäre mein Vater mit zweiundsechzig Jahren daran gestorben, dass die nicht geäußerten Wünsche, die nicht vertretenen Standpunkte und die nicht mitgeteilten Beobachtungen, Meinungen, Ansichten und Einsichten ihm schließlich die Luft zum Atmen nahmen. Eine Lungenembolie wurde als Todesursache festgestellt. Der Hausarzt, dem der Befund der Klinik zugesandt worden war, sprach dagegen von einem Rätsel.

Schifahren

Oberammergau, 11.1.1959, an Ch. Rumold: „Am Samstagmittag gab Karl keine Ruhe und nahm mich mit auf das Schigelände. Ach, es ist mir übel ergangen und ich schimpfte im Stillen über mich, weil ich nicht alleine irgendwohin an einen ruhigen Platz gezogen bin und alleine in Ruhe übte. Auf der Schiabfahrt war trotz des stürmischen Windes und Schneetreibens alles voll Menschen, die normal fahren konnten und ich Anfänger purzelte von einem Sturz in den andern. Ich wurde zwei Stunden lang belacht und bin doch so empfindlich vor dem Verlachtwerden. Karl zeigte mir als: so mußt du’s machen und so und schwingen und stemmen. Aber es gelang halt nicht. / Nun, heute am Sonntag bin ich in der Frühe aufgestiegen, habe meine Bretter geschnappt und mir einen schönen Hügel gesucht. Nicht zu hoch und nicht zu nieder. Die Bahn habe ich mir selbst getreten und siehe, schon bei der ersten Abfahrt gelang mir das links und rechts Kurven recht gut. Es machte mir bald so Spaß, daß ich mir immer wieder sagen mußte, es wäre jetzt schön, wenn Du und Lothar auch dabei wärst und wir gemeinsam die Freude hätten. Zwei Stunden übte ich so eifrig, dann kamen aber immer mehr „Kanonen“ in die Gegend und ich räumte still und zufrieden das Feld. Morgen will ich es wieder so machen und vielleicht jeden Morgen, solang der Schnee liegt. / Nachher konnte ich noch gemütlich schnitzen und Radio hören, bis ich um halb sechs Uhr ins Kino ging. Ja und nachher werde ich noch an einem Kruzifix die Arme leimen und ins Bett gehen.“

Und als Bub wird sie ein Peter

Er wurde dann doch eine Barbara, geboren am 4. Januar 1959

Er wurde dann doch eine Christa Barbara, geboren am 4. Januar 1959

Oberammergau, 16.11.1958: „Christl, wir werden einen Weg finden, miteinander in München eine Wohnung zu bekommen. Ich möchte wirklich nur in diese Stadt. In Karlsruhe ist zu viel Trübes und hier ist es zwar sehr schön, aber der Gedanke, immer hier zu sein, ist mir nicht angenehm. Wenn ich schon daran denke, was München für ein Kulturzentrum ist und eben doch eine Stadt ist. Meine Freude am Wandern in den Bergen erschöpft sich auch nicht mit dem bloßen Genießen der Natur, sondern ich will das, was ich dabei sehe, auch ein bissel in bescheidenem wissenschaftlichen Maße auswerten. Diese Möglichkeiten gibt es alle in München. Na, für mich scheint die Stadt eben ideal, und Schatz, ich glaube, daß sie Dir auch gefallen wird. / […] / In der vergangenen Woche hatten wir in der Firma auch ein freudiges Ereignis, denn unserem Meister, dem Herrn Lang, wurde nach fünf Mädchen endlich der Kronprinz geboren. Daß da an zwei Tagen gefeiert wurde, kannst Du Dir denken. Mitgesoffen habe ich nicht, denn ich kann das einfach nicht, so gerne ich auch bei meinen Kameraden auf dem Gebiet keinen Außenseiter machen möchte. Nach der zweiten Flasche Bier und etwas Schnaps werde ich so müde, daß ich unweigerlich ins Bett muß. Sie nehmen es mir zum Glück nicht übel, denn irgendwie spürt man doch die individuelle Natur eines jeden Menschen und der eine ist eben so und der andere so. Aber ansteckend war die allgemeine Faulheit dann doch auf mich. / Mit Karl verstehe ich mich recht gut. Wir mußten unsre Farbdias schon dreimal mit einem Projektor vorführen. Die Bilder nehmen sich an der Leinwand aber auch sehr gut aus. Er sitzt am Vorführungsgerät und ich muß reden. Zum Lachen war es, wenn die schönen Blumen kamen, aber mir die einzelnen Namen noch nicht ganz intus sind. Da hilft natürlich meiner ‚lateinische Sprachkenntnis‘ gut, daß keiner der Anwesenden Lateinisch kann. Es sind aber auch zu viele Gräser und versteckte Blumen auf den großprojektierten Bildern zu erkennen. Ich bin mal gespannt, ob ich mit Karl den Plan verwirklichen kann, daß wir im nächsten Jahr eine große Sammlung von Alpenpflanzen in Bildern zusammen bekommen. / Heute ist trübes Wetter, das allerdings schon die ganze Woche anhält. Christl, Lieb, bist Du es sehr leidig? Es drückt sicher auf Dein Gemüt. Ach, noch vierzehn Tage, dann kannst Du wenigstens vom Geschäft wegbleiben. Und wenn es erst mal Dezember ist, wird es auch Weihnachten. Ich komme an Weihnachten zu Dir und Lothar. Und wie wir es dann bis zur Geburt unseres Kindes machen, werden wir sehen. Ich habe schon zweimal geträumt, daß es ein Mädel wird. Wir taufen sie Christa Barbara. Und als Bub wird sie ein Peter. Schatz, was denkst Du, wie sich Lothar freut, wenn wir in München am Sabbat oder Sonntag die vielen interessanten Museen besuchen können und eine kleine Schwester mitführen können. Und der Starnberger See ist auch nicht weit. Wenn es nur schon an der Zeit wäre. Dann ist ja in München auch noch eine große Gemeinde von uns. Also München wäre mir schon recht. / […] / Christl, nun habe ich noch eine Bitte. Schreibe doch mit der Maschine eine Rechnung an Schnappinger und bringe sie am Wochenende zu ihm. Das Geld geht an Dich. / a) Kleiner Normalkruzifixus DM 25,- / b) Kleiner Grünewald DM 40,- / c) 30er Grünewald DM 65,- / d) 40er Grünewald DM 95,- / e) 25er Würzburger DM 40,- / f) 40er Normalmodell DM 75,- / Christl, mein Lieb, nun laß Dich innigst grüßen und wenigstens in Gedanken küssen von Deinem / Berthold. / Viele Grüße an unseren Lothar, an Mutti und Siegfried!“

Die Hochzeit zu Kanaan (2)

„Die Hochzeit zu Kana ist eine Wundererzählung aus der Bibel, die davon berichtet, wie Jesus von Nazaret als Gast einer Hochzeitsfeier Wasser in Wein verwandelt.“ (Wikipedia) Breite (Länge) das Reliefs ca. 2 Meter (Werkstatt-Foto).

Berthold Rumold: "Die Hochzeit zu Kanaan", Linde, ca. 1989

Berthold Rumold: „Die Hochzeit zu Kanaan“, Linde, ca. 1989, katholischer Pfarrsaal Pfinztal-Wöschbach (Foto: Thomas Trzebitzky)

Eine Anmerkung zur Ethik des Films

Oberammergau, 1.11.1958, an Ch. Rumold: „Ich hätte noch gerne erzählt von gesehenen Filmen, zum Beispiel ‚und nichts als die Wahrheit‘ und anderen. Der O. W. Fischer hat für mich so großartig ehrlich dargestellt. Es war sehr schön, weil so vieles nur angedeutet wurde und somit von dem Autoren das Grundrecht des Menschen, seine intimen individuellen Handlungen aus der Persönlichkeit vor der Masse (auch der Masse Kinobesucher) nicht breitzutreten, bewahrt wurde. Wie zart und schön wurde doch die Liebe der Frau zu ihrem Mann, des Vaters zu seiner Tochter (wie gentlemanmäßig half doch der Vater der Tochter aus der Antwortenmüssen-Verlegenheit vor dem Bräutigam nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt), des Freundes zum Freund und der Liebe der Schwester zum Angeklagten gezeigt.“

Der Sonnengesang des Franz von Assisi

„Der Sonnengesang ist ein Gebet, das Franz von Assisi im 13. Jahrhundert verfasste. Es preist die Schönheit der Schöpfung und dankt Gott dafür.“ (Wikipedia)

Berthold Rumold: "Sonnengesang des Heiligen Franziskus", katholisches Gemeindehaus in Pfinzal Berghausen, ca. 1985

Berthold Rumold: „Sonnengesang des Heiligen Franziskus“, Eiche, ca. 1988, katholisches Gemeindehaus in Pfinztal-Berghausen (Foto: Thomas Trzebitzky)

Berthold Rumold: "Sonnengesang", Detail, Foto: Thomas Trzebitzky

Berthold Rumold: „Sonnengesang“, Detail (Foto: Thomas Trzebitzky)

Krieg und Frieden und Chorgesang

Oberammergau, 19.10.1958, an Ch. Rumold: „Trotz all der Arbeit war ich vorgestern im Kino. ‚Krieg und Frieden‚. Der große Film ist ein ähnlicher Gedankengang wie unser Buch ‚Die Versöhnung‘. Die Männerrollen gefielen mir sehr gut, wenn auch der Hauptdarsteller [Henry Fonda], die Dichterperson in seiner ruhigen Sicherheit, die durch Aussprüche, er sei unsicher, nur noch untermauert wurden, fast an Überheblichkeit grenzte. Aber ich halte es für möglich, daß die Gestalt im Buche wesentlich von der Vorstellung des Filmregiseurs abweicht. Wenn allerdings amerikanische Filmsternchen [Audrey Hepburn!] an europäische Frauenrollen mit Schicksalen wie bei einer Königin Luise herangehen, geht es meistens schief. Aber im Augenblick, da man das Kino verläßt, ist man gut beeindruckt. Mir ging es mal so. Und gestern Abend war ich in einem Chorkonzert unseres Jugendchors. Sehr gut gefiel mir das Lied: ‚Ein neu Gebot‘, Motette von Bütger. Dann Lieder mit Vertonungen von Friedrich Zipp, Carl Orff, Bela Bartok und der ‚Feuerreiter‘ von Hugo Distler. Schatz, kennst Du einige Namen davon? Ach, ich wollte Dich heute nicht mit Namen beschweren.“

Ich liebe Dich sehr, aber komm‘ bloß nicht her! Ein Ammergauer Possenspiel in drei Akten

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Ansichtskarte aus Oberammergau. Ein Geschäft mit Schnitzwaren. Im Hintergrund ruft der Hausberg, der Kofel.

Oberammergau, 8.8.1958:  „Meine liebe, gute Christl! / Bist Du sehr enttäuscht, daß Du so lange auf eine Antwort warten mußtest? Und dabei hatte ich mich so gefreut, nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte. / Christl, in erster Linie freue ich mich natürlich auf Dein Kommen mit Lothar. Sicher ist das Wochenende am 30.8. recht. Nur die Finanzen, da hab‘ ich mich mal wieder hinein gerannt. Als ich vor vierzehn Tagen am Samstag den Brief an Dich schrieb, sagte ich noch, wie gerne ich mal wieder in die Berge ginge, aber leider keine Zeit hätte. Ja und als am folgenden Sonntag am Vormittag der blaue Himmel lachte, schwang ich mich halt doch auf’s Rad und fuhr in Richtung Garmisch um eine Bergkette zu begehen, die mir schon lange verlockend zuwinkte. Aber, aber ich hatte mich ein bissel stark mit meinen Kräften übernommen. Vier Zweitausender an einem knappen Tag war zu viel, aber auf der Tour fühlte ich mich so stark und gesund und nahm mich scheinbar vor einer Regenwolke auf einem Gipfel nicht sonderlich in Acht. Jedenfalls lag ich die folgende Woche jede Nacht im Fieber und nur viele Tabletten gaben mir am Tage die Möglichkeit, so mit Ach und Weh ein bissel was zu schnitzen. Unserer Ilse mußte ich abschreiben, denn mit dem Verdienst konnte ich ihren Besuch unmöglich gebrauchen. Na, sie schrieb zu gleichen Zeit, daß meine Mutter krank sei und deshalb auch nicht kommen könne. Doch der berüchtigte Sonntag klang für mich so wunderschön aus, denn ich war mit noch zwei Arbeitskumpels von einer amerikanischen Familie eingeladen worden, am Abend um neun Uhr eine Fernsehsendung anzusehen, die einige wunderschöne Aufführungen des russischen Balletts zeigten. Aber das war eine Augenweide und der objektive Ansager übertrieb nicht, als er sagte, daß die Russen mit ihren Solotänzern atemberaubend einmalig sind. Ich würde jetzt überfließen, wenn ich die Schwerelosigkeit der Primaballerina aoder die großartigen Sprünge der männlichen Tänzer im „Schwanensee“ oder dem „Sterbenden Schwan“ beschreiben würde. Also ich lag ganz selig erschlagen am Abend im Bette. Acht Tage später, am vergangenen Sonntag, kam im Kino in Farben und Bühenbildern die ganze Oper aus dem Fernsehen als Film. Das war fast noch schöner. Aber Christl, vielleicht läuft der Film über das russische Ballett auch bei Euch. Da mußt Du hinein. Das „Schwanensee“ mußt Du sehen. Wie da die Liebe ihren vollendeten Ausdruck im Tanz findet, ist sehr, sehr schön. Ja und noch eine Freude hatte ich diese Woche mit meinen beiden Kumpels. In der Wieskirche war am Mittwoch ein Kirchenkonzert am Abend. Es sang ein Chor der internationalen ökonomischen1 Kirchenwoche, ein Bläserchor und ein kleines Orchester. Lauter gute Meister. Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ und „Jesu meine Freude“. Ach, es war wieder sehr schön. Diese großartige Kirche wollte ich schon lange einmal in aller Ruhe betrachten und geführt von der Musik konnte sich da das Auge so recht erfreuen an den Barock- und Rokokoformen. Anschließend trat ein junger Pfarrer auf die Kanzel und erklärte die Geschichte und Bauweise der Kirche ganz noch im Feuer der Musik und, als lächelte sogar der Himmel auf den schönen Abend, kam die Sonne im letzten Gold durch die großen Fenster und das viele Gold und zarte Rot und reine Weiß bildeten mit der schönen Bauweise eine vollendete Harmonie. Ja, das war ein gelebter Abend und die Heimfahrt duch die Wälder und Berge war halt auch herrlich. / Christl, Lieb, ich bekomme manchmal oder öfters ein schlechtes Gewissen, denn ich hab‘ es doch oft sehr schön und Du mußt Dich plagen. Und besonders jetzt. Ja und da hab‘ ich auch noch was gemacht. Nämlich, ich brauchte dringend Schuhe und was hab‘ ich gekauft? Gleich drei Paar auf einen Schlag. Ein Paar Sonntagsschuhe, beige, im italienischen Schnitt, ein Paar feste Halbschuhe für den Werktag und ein Paar Bergschuhe, die mir schon lange in der Nase stecken. Zusammen hat’s 120,- Mark gemacht. Ach, das liebe Geld. Ich jage hinter ihm her und krieg’s so spärlich herein. Einige Entwürfe von Kruzifixen hab‘ ich wieder gemacht, aber ob es deshalb besser wird mit dem Geldverdienen, glaub ich nicht, denn die Firma will doch ihre alten Modelle auf dem Markt behalten, an denen aber nicht viel zu verdienen ist und ein anderer Verleger will wohl meine Modelle und würde mich auch gut bezahlen, aber ich mag mich nicht von meiner Firma lösen, denn ich bin schon so oft gewandert. So arbeite ich halt so viel als möglich schwarz, aber allzuviel kommt auch nicht dabei heraus. Wenn Du hier bist in drei Wochen, wirst Du das aber noch oft genug von mir zu hören bekommen. / Christl, Herz, ich bin doch froh, daß bei Euch zu Hause wenigstens die Waltraud wieder weg ist. Das Mädel hat doch ein Glück gehabt. / Christl, Lieb, was ist es bloß in unserem Leben, wie ist es doch so schwer. Aber in die Haut von einem Menschen wie Waltraud möchte ich doch nicht schlüpfen, denn wenn ich gerade so was sehen und erleben darf wie das Kirchenkonzert und die Ballettaufführung, bin ich froh, daß ich ich bin. Ja, das Leben ist schwer für uns und im Augenblick scheinbar ohne schöne Aussicht. Aber Christl, ich hab‘ Dich lieb, so unendlich lieb und weil ich weiß, daß Dir diese schönene Stunden auch gefallen würden, bin ich so froh, daß ich mit Dir verheiratet bin. Wenn es mir auch sehr weh tut, daß ich so wenig Geld habe. / In unsere Werkstatt kommt immer wieder ein kleines Mädel und schmeichelt so lieb weiblich, daß ich mich wirklich freuen würde, wenn unser Baby ein Mädel werden würde. / Christl, Lieb, ich sage Dir jetzt gute Nacht und sende Dir und Lothar die herzlichsten, liebsten Grüße. / Euer Berthold! / Viele Grüße an Mutti und Siegfried!“

Oberammergau, 21.8.1958: „Liebe, liebe Christl! / Vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Grüße, die Du Deiner Geschäftskollegin aufgetragen hast. (Ich hatte die Frau gar nicht mehr erkannt.) / Ja, Christl, je näher der erste September kommt, desto mehr sehe ich, daß es mir mit dem Geld bei bestem Willen nicht reicht. / So schlecht wie in diesem Monat ging es mir finanziell schon lange nicht. / Und vorm Schuldenmachen graut es mir. Christl, bitte, bevor ich mir für den nächsten Monat wieder eine Geldlast auflade oder ein paar supersparsame Tage mit Dir hier verbringe, bleibe ich wirklich lieber alleine. Christl, sei so gut und verstehe das. Ich grüße Dich und Lothar auf das Herzlichste. / Euer Berthold. / Viele Grüße an Mutti u. Siegfried!“

Oberammergau, 25.8.1958: „Meine liebe, liebe Christl! / Das hab‘ ich natürlich nicht gewollt, daß Du mir Geld schickst. Schatz, tausend Dank dafür. / Christl, ich überleg natürlich hin und her und wie schön es wäre, wenn Du für ein paar Tage hier sein könntest, aber zum Schluß komm‘ ich doch auf den Wunsch, im kommenden Monat wieder auf meine normale Höhe zu kommen und die laufenden Zahlungen gut durchführen zu können. Ach und bei dem Gedanken ans Geld werfe ich alle meine Wünsche über Bord und will nur noch sehen, daß ich vorwärts komme, um die Geldlast weg zu kriegen. Wir brauchen doch ab Winter wieder mehr Geld. Christl, sei so gut und mach Dir ein paar schöne Tage in Deinem Urlaub. Nimm doch einen Teil des vorgesehenen Urlaubsgeldes dafür. Kauf Dir ein Paar Schuhe, gehe ein bissel aus und versuche, Dich zu erholen. Ich finde hier mit meinen Arbeitskameraden immer wieder schöne Stunden beim Bergsteigen und Konzertbesuch. Christl, Lieb, viele herzliche Grüße / Dein Berthold!“

Rückdatierter (erfundener) Brief meiner Mutter an meinen Vater oder High Noon in Oberammergau

Karlsruhe, 22. Mai 1958

Lieber Berthold!

Ich werde Dich am kommenden Wochenende in Oberammergau besuchen, um mit Dir über uns und unsere Zukunft zu sprechen. Mach‘ Dir wegen des dafür benötigten Geldes keine Sorgen, die hundert Mark, die ich während der letzten Monate beiseite gelegt habe, werden genügen. Auch wegen der Unterkunft brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen, ich werde mir ein Zimmer in einer Pension nehmen. Falls Du am Wochenende arbeiten musst oder in die Berge willst, ist das kein Problem. Ich denke, wir werden in zwei Gesprächen von jeweils zwei bis drei Stunden Länge, eines am Samstag und eines am Sonntagvormittag (am Nachmittag fahre ich nach Karlsruhe zurück), zu einer vorläufigen oder endgültigen Entscheidung kommen.

In Deinem Brief an Frau Goebel hast Du geschrieben, dass Du eine Familie hast, mit der Du „mittlerweile leben“ willst. Du gibst also in verblüffender Offenheit zu, dass Du bisher nicht mit uns leben wolltest. Doch nun willst Du es. Willst Du es aber tatsächlich? (Dass Du dieses Schreiben an Frau Goebel nun doch nicht absenden wirst, spielt dabei nur insofern eine Rolle, als es einmal mehr zeigt, wie Du von einem Moment auf den anderen Deine Meinung änderst.)

In Deinem am Tage davor geschriebenen Brief an mich machst Du wirre Pläne für ein gemeinsames Leben in Garmisch-Partenkirchen, wobei gemeinsam heißt: Du und ich. Deinen „Buben“, wie Du unseren Sohn Lothar gerne nennst, wolltest Du in Deinem Gedankenexperiment anscheinend seiner Oma zur Pflege überlassen. Du schreibst das zwar nicht ausdrücklich hin, doch lassen die von Dir selbst gegen Dein Vorhaben vorgebrachten Einwände keinen anderen Schluss zu. Das hat mich eigentlich nicht gewundert, aber es so Blau auf Weiß zu lesen, war doch ein merkwürdiges Erlebnis.

Ich habe mich, nachdem ich Deinen Garmisch-Brief zu Ende gelesen hatte, gefragt, warum Du mich an Deiner konfusen Plänemacherei teilhaben lässt, wenn zu schlechter Letzt doch alles beim Alten bleiben soll. Etwa, um mir zu „beweisen“, dass es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt als die, für die Du Dich entschieden hast? Die Beweiskraft Deiner gordisch verknoteten Beweisketten stelle ich gar nicht in Abrede, doch gibt es eine andere, viel naheliegendere Alternative, die Du notorisch übersiehst, da Dein Blick stets über die in der Ferne liegenden Gebirgsketten einer fürs erste und zweite unerreichbaren Zukunft irrt.

Bisher war ich in unserer Ehe diejenige, die zusehen musste, wie sie mit Deinen einsam gefassten Beschlüssen klarkommen konnte. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir werden nun eine gemeinsame Entscheidung über unsere gemeinsame Zukunft treffen oder es wird keine gemeinsame Zukunft nicht geben, wie ihr in Bayern sagt. Dann würde ich nämlich meinerseits eine einsame Entscheidung für mich und unseren Sohn treffen, und Du würdest derjenige sein, der damit klarzukommen hätte.

Ein Leben in Oberammergau, so hast Du Dich einmal in einem Brief geäußert, könnest Du mir nicht zumuten. Ich glaube, Du wolltest damit sagen, es wäre für Dich selbst eine unzumutbare Zumutung, unter den Dörflern nicht mehr als der einsame Fremdling zu wandeln (und womöglich auch zu lustwandeln), als der arme Mann, der unter dem Getrenntsein von Frau und Kind leidet. Stattdessen müsstest Du umdenken, umfühlen und umlernen, und fortan die Rolle des ganz normalen Familienvaters spielen. Und die Oberammergauer, nicht zuletzt Deine „Kumpels“ oder „Kameraden“, müssten sich daran gewöhnen, in Dir nicht mehr den Leidens-Mann, sondern den alltäglich verheirateten Ehemann und Vater eines real exisitierenden Sohnes zu sehen. Dass der Besetzungsplan des Passionsspielortes oder richtiger: Deines privaten Passionsspiels einen solchen Rollenwechsel eigentlich nicht zulässt, sehe ich voraus. Aber „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ (wie eine deutsche Bundeskanzlerin am 18. Juni 2015 in einer Regierungserklärung sagen wird).

Darüber und über anderes möchte ich mit Dir am Wochenende reden. Ich werde am Samstagmittag mit dem Zug um 12:00 Uhr in Oberammergau ankommen. Stelle Dich bitte auf möglichst emotionslose, möglichst sachliche Gespräche, um nicht zu sagen: auf ergebnisorientierte Verhandlungen mit mir ein. Ich bin gerne Dein Schatz, Dein Lieb, Dein Herz, Deine Christl – das aber erst dann wieder, wenn wir zu einer für mich akzeptablen Lösung gekommen sind.

Deine Christel!