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Die Oberammergauer Briefe als E-Book

Derzeit bereite ich die Veröffentlichung des kompletten Korpus der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold als E-Book (Kindle) vor. Als E-Book deshalb, weil mir einerseits die Verlagssuche mühsam und müßig zu sein scheint. Zum anderen bin ich schon seit Jahren ein Kindle-Fan und sehe mich dort in bester Gesellschaft. Ich hoffe, mit der Arbeit in sechs bis acht Wochen fertig zu sein, so dass das E-Book wahrscheinlich Ende Juli, Anfang August 2015 bei Amazon erhältlich sein wird.

Titelentwurf für das in Arbeit befindliche E-Book.

Titelentwurf für ein geplantes E-Book (Juli/August 2015)

Vorwort oder Liebe ist Schreibarbeit und Kalter Hund

Bei Bertolt Brecht heißt es, auch die Liebe sei eine Produktion. Bei meinem Vater Berthold Rumold und seiner Frau Christel war sie die ersten langen zehn Jahre lang zum größeren Teil eine handschriftliche Produktion, eine Schreibarbeit. Sich zu lieben hieß für das Paar von 1952 bis 1962 vor allem anderen, sich Briefe zu schreiben. Die Liebe ging bei ihnen also nicht durch den Magen, sondern hauptsächlich durch den Briefkasten und was sonst noch zum damaligen Postweg dazu gehörte. Kein Wunder, könnte man meinen, standen doch sowohl der Großvater als auch der Vater meines Vaters im Dienst der Reichspost, mein Urgroßvater, geboren 1881, als Postillion, mein Großvater als Postassistent, obwohl er seinen Beruf anlässlich der Geburt des zweiten Sohnes Berthold Friedrich (am 16. Oktober 1929) noch als Kaufmann angegeben hatte. Und schließlich entschied sich auch Hans, der jüngere Bruder meines Vaters, nach kurzem, wenngleich heftigem Zögern (es muss ein wahres Sich-Aufbäumen des Siebzehnjährigen gewesen sein) für eine Laufbahn bei der Deutsche Bundespost, was ihn damals noch in den Genuss der Vorteile des Beamtenstandes brachte. Dass die Liebe meiner Eltern nicht durch den Magen gegangen sei, wie ich oben behauptet habe, ist nicht ganz richtig. Denn die Briefe meiner Mutter an meinen Vater erreichten ihren Adressaten nicht selten in Begleitung eines Päckchens, das in der Regel Schokolade, mitunter aber auch Wurst und manchmal sogar einen „Kalten Hund“ enthielt: eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Firma Bahlsen erfundene Spezialität aus Schichten von Butterkeksen, umgeben von selbstgemachter erkalteter Kakaosoße.

Von den insgesamt rund vierhundert heute noch erhaltenen Briefen, die mein Vater zwischen 1952 und 1962 an meine Mutter geschrieben hat, veröffentliche ich hier die Briefe und Ansichtskarten aus seiner Oberammergauer Zeit. Auch einige an mich selbst, an den „lieben Buben“, gerichtete Briefe werden mit dabei sein. Von Oktober 1956 bis Oktober 1962, also zwischen seinem 27sten und seinem 34sten Geburtstag, lebte und arbeitete mein Vater im oberbayerischen Oberammergau, neunzig Kilometer südlich von München. Oberammergau war und ist eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der deutschen Holzschnitzkunst. Mein Vater hatte im Mai 1952 die Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk abgelegt, nachdem er bei Karl Kinsler in der Karlsruher Karlstraße drei Jahre lang in die Lehre gegangen war. Zu dieser Zeit lernte er, der von Haus aus evangelisch gewesen ist, aufgrund seiner Kontakte zur Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten seine spätere Frau Christine (in den Briefen „Christl“) Burst kennen; die beiden heirateten eilends Anfang März 1955, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass voraussichtlich Anfang September ein von ihnen versehentlich gezeugtes Kind zur Welt kommen würde. Diesem Zeugling, aus dem alsbald ein Säugling und wenig später ich selbst werden sollte, gaben sie den Namen Lothar, ohne zu bedenken, dass die beiden aneinander stoßenden Konsonanten dem rhythmisch-melodischen Aussprechen des Vor- und Nachnamens in einem Atemzug einen gewissen Widerstand entgegensetzen würden. Zumindest was die Wahl des Namens für ihren auch in der Folgezeit ungeplant sich einstellenden Nachwuchs anging, scheinen meine Eltern etwas dazu gelernt zu haben. Denn der Anfang 1959 geborenen Tochter, ihrem zweiten und letzten Kind, gaben sie die Namen Barbara und Christa mit auf den Lebensweg; beide Vornamen verbinden sich mit dem Familiennamen Rumold ohne weiteres zu einer harmonisch-wohlklingenden Einheit.

Dieselbe bedenkenlose Zielstrebigkeit, von der mein Vater bei der Zeugung und Benennung seines Sohnes getrieben worden war, hatte zuvor dazu geführt, dass der junge Ahnungslose zwei oder drei Jahre nach Ablegung der Gesellenprüfung meinte, nun als selbständiger Holzbildhauer am Karlsruher Hauptfriedhof ein Geschäft eröffnen zu können. Der größere Teil der Schuldenlast, unter der mein Vater in den Oberammergauer Briefen gewohnheitsmäßig ächzte, stammte vermutlich aus der Zeit dieses ersten, misslungenen Versuchs, eine eigene Werkstatt zu führen. Der Start in die Selbständigkeit musste deshalb misslingen, weil die Zeit des unternehmerischen Laisser-faire, das im Nachkriegsdeutschland geherrscht hatte, Anfang der 1950er Jahre schon wieder vorbei war. Da mein Vater dazu neigte, äußere Zwänge nicht nur persönlich zu nehmen, sondern auch zu personifizieren, richtete sich sein Zorn (in einem Brief ist sogar von Hass die Rede) noch während der Oberammergauer Jahre gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Karl Kinsler. Tatsächlich ist wahrscheinlich dieser es gewesen, der die rechtlich grundlose und längerfristig unhaltbare Geschäftsgründung bei der Handwerkskammer zur Anzeige brachte, worauf mein Vater den Betrieb einstellen musste. Doch wäre es wohl auch ohne Kinslers Zutun früher oder später zu einer Geschäftsschließung gekommen. Der ehemalige Kinsler-Lehrling hätte eigentlich froh darüber sein können, dass sein alter Holzbildhauermeister ihn dazu zwang, die Perspektivlosigkeit seines Unternehmens einzusehen und beizeiten nach einer tragfähigeren Alternative Ausschau zu halten.

Bei diesem Ausschauhalten nach anderen Möglichkeiten muss mein Vater irgendwann Oberammergau, das damalige Mekka nicht nur der deutschen Schnitzkunstgläubigen, entdeckt haben. Und so kam es, dass Berthold Rumold Ende 1956 seine junge Frau und sein einjähriges Kind verließ, um sechs Jahre lang im oberbayerischen Ammergau für ‚Lang selig Erben‘ im Rahmen eines anachronistischen, aber durchaus muntereren Verlagswesens als Holz- und insbesondere Herrgottschnitzer auf Stücklohnbasis zu arbeiten. Kurzfristig-aktuell bestand sein Ziel darin, in seinem erlernten Beruf sein Geld zu verdienen. Mittelfristig strebte er darüber hinaus die Ablegung der Meisterprüfung an. Langfristig aber wollte er in Karlsruhe im zweiten Anlauf endlich sein eigenes Geschäft eröffnen.

War er seiner Christel damit zwar die meiste Zeit aus den Augen, so war er ihr doch nicht aus dem Sinn und erst recht nicht aus dem Herzen. Dafür sorgte nicht zuletzt der rege Briefverkehr, der sich, in Ermangelung anderer Verkehrsmöglichkeiten, zwischen den beiden entwickelte. Die Briefe meiner Mutter an meinen Vater sind verlorengegangen. Seine an sie gerichteten Briefe und Briefkarten (auch einzelne Ansichtskarten sind dabei) hat meine Mutter mehr als fünfzig Jahre lang in jenem sprichwörtlichen Schuhkarton („Gabor Mode-Schuhe“) aufbewahrt, den meine Schwester und ich nach ihrem Tod im November 1913 im Keller fanden. Dass meine Mutter alles Mögliche sammelte und nichts wegwerfen konnte, hat mich mehr als einmal wütend und ratlos gemacht. Im Fall der Briefe meines Vaters war und bin ich ihr dankbar für diese ins Pathologische spielende Merkwürdigkeit.

Ob meine Eltern die Veröffentlichung der Briefe wohl gewollt hätten, wurde mir einmal zu bedenken gegeben. Vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch? Mit anderen Worten: diese Frage kann zwar gestellt, aber nicht zweifelsfrei, sondern nur spekulativ beantwortet werden. Irgendwo las ich, irgendein Schriftsteller habe irgendwann verfügt, dass gewisse Briefe erst so und so lange nach seinem Ableben veröffentlicht werden durften. Das Vergehen von Zeit scheint bei solchen Fragen also eine Rolle zu spielen. Die Oberammergauer Briefe meines Vaters wurden von ihm vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben, der Briefschreiber ist seit einem viertel Jahrhundert tot, die Adressatin starb vor zwei Jahren. Lässt sich daraus publikationsmoralisch etwas schließen? Ich weiß nicht, ob mein Vater und meine Mutter dieses Buch gewollt hätten. Fest steht: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre die Abschrift der Briefe und ihre Publikation an diesem Ort nicht zustande gekommen. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne jeden Zweifel sicher. Denn es zeigt sich in diesen Briefen, wer mein Vater Berthold Rumold war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden, zum Sich-Wundern und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Historie der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler gewesen, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus moralischen Gründen nicht zu veröffentlichen.

Schließlich noch eine Bemerkung zu den von mir gemachten Anmerkungen im lesetechnischen Sinn. Sie dienen zum einen dazu, die hier relevanten Wissensstände der Beteiligten (mein Vater, meine Mutter, die Leserin, der Leser, ich selbst) einigermaßen zu synchronisieren (und zwar dann und nur dann, wenn dies erforderlich ist). Zum anderen öffnet sich in den Anmerkungen ein zweiter, bedingt autonomer Mitteilungsraum, in dem eine beinahe unbegrenzte Freiheit des Sujets herrscht. Diese Freiheit ist paradoxerweise eine Folge der Abhängigkeit vom Primärtext. In den Anmerkungen ist von der sachlich-neutralen Information über die persönliche Stellungnahme bis zur philosophischen Spekulation alles Mögliche möglich, ohne dass man sich über Formfragen allzu viele Gedanken machen muss. Ich habe von dieser Möglichkeit der auktorialen Narrenfreiheit gelegentlich Gebrauch gemacht. Auf diese Weise ist ein Sekundärtext entstanden, den man als eine Art Buch oder Büchlein im Buch (nämlich in den Anmerkungen) auffassen könnte, wodurch die Publikation der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold unter meinem Namen eine gewisse Berechtigung erhalten würde.

Ein allerletztes Vor-Wort: orthografische Fehler wurden von mir stillschweigend korrigiert. Kreative Besonderheiten (z. B. Wortschöpfungen) wurden originalgetreu wiedergegeben. Die (mit Ausnahme von Punkten und einigen intuitiv gesetzten Kommata) weitgehend fehlenden Satzzeichen wurden weitgehend ergänzt. Dies mindert einerseits die Authentizität der Publikation, beseitigt jedoch andererseits visuelle „Nebengeräusche“, die der Konzentration auf das Mitgeteilte u. U. im Wege stünden.

Noch ein Herrgottschnitzer in Oberammergau

Oberammergau, 30.10.1956: „Meine liebe Christl! / Kurz ein paar Zeilen, daß ich gut angekommen bin und auch Arbeit gefunden habe. Meine neue Arbeitsstelle ist die Schnitzerei ‚Lang selig Erben‘ und beschäftigt ungefähr dreißig Schnitzer. Ich bin speziell den Herrgottschnitzern zugeteilt und fühle mich im Kreis von 7 Kollegen recht wohl. Die Arbeitszeit geht solange man will und wird nach Stücklohn bezahlt. Natürlich tue ich mir jetzt unter den Spezialisten noch schwer, aber es wird schon werden. Ein Zimmer habe ich auch schon, es kostet mit Frühstück und Wäschewaschen 30 Mark. Nun Lieb, ich schreibe Dir am Donnerstag mehr. Bleibe für heute vielmals gegrüßt und geküßt von Deinem Berthold! / Grüße u. küsse Lothar, grüße Mutti u. Siegfried.“

Oberammergau war alternativlos

Oberammergau, 17.8.1957, an Ch. Rumold: „Gestern Abend hab ich im Bett mir alle Möglichkeiten mal wieder durch den Kopf gehen lassen. Wenn es doch nur in Karlsruhe noch einen Holzbildhauer außer dem Kinsler gäbe. Ich empfinde, daß wir zu starke Rivalen geworden sind, denn er hat doch durch den Brändli jetzt eine große Summe Geld verloren und in seinem Prestige vor den umliegenden Bildhauern nicht gerade gewonnen. Das ist doch ein starker Streitstachel gegen mich, wenn ich in seiner Werkstatt wäre und ich habe noch mehr eingebüßt und bliebe ihm gewiß keine Antwort schuldig. Wenn ich auch jetzt keinen solch häßlichen Haß mehr gegen ihn empfinde, so habe ich doch ein Distanzgefühl von Mann zu Mann, das vorerst keine Versöhnungsszenen erlaubt. Ja, und Heimarbeiten zu Hause bei Dir, das schluckt wieder so viel Geld beim verschicken der fertigen Christusse, denn mit angeleimten Armen und zarten Fingern muß jedes Stück gut verpackt werden. Und wenn ich mir jetzt schon Filialen suchen würde, an die ich schwarz liefere und nur von Zeit zu Zeit pro forma an meine Firma hier Arbeiten schicken würde, das möchte ich auch nicht mehr riskieren. Also sinkt man wieder mit einem Seufzer zurück in die Kissen und glaubt an die große Liebe, die ich spüre.“

Nachdem mein Vater aus dem Aalener und Lauchheimer „Exil“, in das er sich auf der Suche nach einer Einkommensquelle nach der Gesellenprüfung  (Mai 1952) geflüchtet hatte, wieder nach Karlsruhe zurückgekommen war, unternahm er einen ersten Versuch, sich mit einer eigenen Holzbildhauer-Werkstatt (im Haus des erwähnten Herrn Brändli) am Karlsruher Hauptfriedhof selbständig zu machen. Sein ehemaliger Lehrmeister Karl Kinsler vereitelte dies, vermutlich indem er die Handwerkskammer darüber informierte, dass da einer ohne die zu diesem Zeitpunkt wieder erforderliche Meisterprüfung selbständig tätig war.

Hitlerjunge Berthold R.

Foto aus dem Nachlass von B. R., vermutlich ist er einer der

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold – vermutlich ist er einer der abgebildeten Blonden und Blauäugigen.

Wie achtundneunzig Pronzent der deutschen Jugendlichen war auch mein Vater bei der sogenannten Hitlerjugend. Wahrscheinlich gehörte er zu den ersten Zehnjährigen, die nach Einführung der gesetzlichen Dienstregelung 1939 zweimal pro Woche zu Sport, Spiel und ideologischer Indoktrination antreten mussten – in vielen Fällen womöglich auch: durften. Denn mit zehn Jahren sind wir Jungs in der Regel noch ziemlich gesellig und sehen das mit dem Leute-Totschießen eher von der sportlich-spielerischen Seite. In der Endphase des Krieges war mein Vater 15 Jahre alt und hatte damit eine kritische Grenze überschritten, da nach der Notdienstverordung vom Oktober 1938 „jeder Bewohner des Reichsgebietes nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen, vom Staat bestimmten Diensten herangezogen werden“ konnte. (Wikipedia) Mir ist allerdings nicht bekannt, dass er zu irgendwelchen kriegsdienstartigen Diensten herangezogen worden wäre; ebensowenig weiß ich, ob es ihn damals zu solchen Diensten hingezogen hat oder doch eher nicht. Viele Jahre später, am 31. Oktober 1959, schreibt er jedenfalls in einem Brief aus Oberammergau an seine Frau: „Übrigens habe ich gestern eine Vorladung ‚zur Erfassung des wehrdienstpflichtigen Jahrgangs‘ bekommen. Ich will mal sehen, was die wollen. Ich bin so lange geduldig, bis ich untersucht bin, ob ich überhaupt gesundheitlich tauglich bin. Eine Kriegsdienstausbildung mache ich nicht mit.“

Foto aus dem Nachlass von B. R.

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold

Kleider machen Leute und kosten Geld, das man womöglich nicht hat

Oberammergau, 26.8.1957, an Ch. Rumold: „Lieb, und jetzt habe ich Dir noch etwas zu beichten. Bei dem Schwarzhandel mit den Schnitzeisen hatte ich etwas Geld hereinbekommen und nichts Schlaueres zu tun gewußt, als mir beim Schneider den Wunsch meiner materiellen Wünsche zu erfüllen, nämlich einen schwarzen Anzug zu bestellen. Leider wird er erst in drei Wochen fertig. Ausgerechnet jetzt. Ja, das Geld hatte ich hereinbekommen, aber vom diesmaligen Zahltag mußte zum Pech noch das meiste herhalten. Christl, Lieb, bitte halte auch das noch aus, nächste Woche zum 1. schicke ich fünfzig Mark.“

Wilde Burschen hindern am Schreiben

Oberammergau, 24.6.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Wenigstens einen Kartengruß aus meinem schreibmiseriablen Zustand. Und das Geld, das mir mit verschiedenen Ausgaben diesen Monat grad so unter den Fingern zerrann. Lieb, ich bin froh, daß Du gesund bist und Lothar. Ich wünsche Mutti gute Besserung. Hoffentlich wird der nächste Monat besser. Oft könnte ich verzweifeln, daß ich nicht fähig bin, ein ordentliches Familienleben zustande zu bringen. Da schreibe ich Briefe, die ich später gleich zerreiße. Tausend Grüße, Dein Berthold!“

Zwei Wochen zuvor, am 11.6.1957, war von seiner Schreibmiseriabilität noch nichts zu merken gewesen: „Meine liebe Christl! Wenn es doch ein ruhiges Zimmer gäbe … Kaum hab ich das jetzt in der Frühe um halb sechs Uhr geschrieben, da stolpert schon wieder unser Edmund herein und redet, wie’s die Bäuerlein eben gerne tun. Schatz, ich hab so heftig geschrieben, daß Du nicht kommen solltest, und dann sitzt man doch da und wartet und hofft. – Na, es gab wenigstens tatsächlich keine Geldausgaben. Im Augenblick ist es wirklich schlimm. Dauernd wechseln die Christusmodelle, mal ein Riemenschneider, dann ein normaler Oberammergauer, dann ein Würzburger. Das ist zwar interessant, aber als Stücklohnarbeit läßt es kein Geld zusammenbringen. Es ist bei uns jetzt auch so langsam über den Frühling hinausgegangen und die Wiesen duften und die Berge locken. Ich kaufte mir eine Wanderkarte, die mir am Sonntag schon guten Dienst geleistet hat. Ich möchte nicht in hochschnellenden Zügen so eine Bergtour beschreiben. Dazu müsstest Du hier sein und eine solche mitmachen. Da ist der Kofel doch ein kleines Felsle gegen das Wettersteingebirge. Ich fühle mich auch recht sicher am Berg und bei einiger Vorsicht wird auch nichts Unfallähnliches geschehen. Mein Lieb, für Dein schönes Päckchen und Euer beider lieben Gruß vielen, vielen Dank. Wenn nur die Bude nicht so voll von wilden Burschen gewesen wäre, ich hätte so gerne gleich geschrieben. Christl, mein Herz, bleib mir gut und gesund mit unserem Lothar. Gott behütet und vielmals gegrüßt und geküßt von
Deinem Berthold. Viele Grüße an Mutti und Siegfried!

Eine Wanderung auf die Geierköpfe

Oberammergau, 27.10.1957, an Ch. Rumold: „Gestern machte ich eine wunderschöne Wanderung auf die Geierköpfe, das sind drei Zweitausender, die in Richtung Linderhof liegen und nicht so einfach zu besteigen sind. Um halb fünf fuhr ich mit dem Rad los. Ein schwarzer Himmel, bespickt mit Millionen Sternen lag fast bedrückend über dem Tal. Wenn kein Mond da ist, geht von den vielen Sternen keine Helligkeit aus und die Berge standen links und rechts und waren auch nicht gerade anheimelnd. Licht hatte ich keines am Rad und so fuhr ich im Dunkeln. Ich wollte mal wieder am Sabbat [dem Sonntag der Adventisten, L. R.] alleine sein – nun war ich alleine und die zuckenden Lichtstreifen der Sternschnuppen erschreckten einen immer wieder. An einem Bauernhaus fuhr ich vorbei, es stand einsam im Walde. Nein, dachte ich, wenn der Besitzer nicht zwei gute Hunde hat, ist es doch ein bissel gefährlich, hier zu wohnen. Um sechs Uhr war ich an der Landesgrenze und da begann es auch endlich zu dämmern und um halb sieben war ich am Fuße der Geierköpfe. Das Tal war hier hinten noch enger geworden und so düster es war, oben die Gipfel bekamen schon einen leichten Schein. Mein Rad stellte ich ins Unterholz und dann suchte ich den Pfad, aber nach zehn Meter brachte mir eine glatte Holzscheide schon den Erdboden fünf Zentimeter unter meine Nase. Na, das geht ja gut an, dachte ich, dachte aber auch gleich weiter, daß mir ein ganz reibungsloser Anfang auch nicht erwünscht ist. Ja, jetzt stieg ich und stieg und es wurde hell und ich bekam Hunger und ich setzte mich und aß und siehe unterm Essen sah ich wie schön hoch ich schon war und wie golden die Sonne die Gipfel umwarb. Ja, jetzt wurde der Tag schön. Immer höher ging der Weg und der Schnee auch. Ich stieg nämlich an der Nordseite, wenn’s da mal geschneit hat, bleibt der Schnee ein dreiviertel Jahr liegen, denn keine Sonne kann ihn auflecken, aber ich sah, daß ich bald hoch genug war, daß der Weg um den Berg herum führen konnte und ich somit in die schöne Sonne kam. Und es kam auch bald soweit. Am letzten Baumbestand standen noch zwei Hütten, in denen man übernachten konnte. Eine war offen. Es war die kleinere, ältere. Ganz roh gezimmert steht sie wuchtig da. Im Innern ist eine Seite zum Schlafen aufgebaut. Es sind in einem Meter Höhe waagrechte Balken so lang wie die Wand und ein Brett an der äußeren Seite, damit das dürre Tannenreißig, das als Matraze dient, und der Schläfer nicht herunterkollern. Ja, und dann lagen da noch Steine von einer offenen Kaminstelle. Alles ist geräuchert in der Holzhöhle. Die Schindeln auf dem Dachgebälk lassen die Sonne lustig durchblinzeln und bei schlechtem Wetter sicher auch den Regen. Nein, hier schlafen zu können, ist ein Kunststück. Also lassen wir diese Kunst den Hirten, die im Hochsommer hier ihr einsames Leben führen. Ich stieg weiter, immer den Pfad mit dem Instinkt suchend und lobte mich jedesmal, wenn ich an einer Stelle sah, daß ich ihn noch hatte und dann kam ich endlich in die Sonne. Es war mir ja nicht kalt, nein, im Gegenteil, ich schwitzte und hatte schon in der Hütte meine Wollweste mit Handschuhen liegen lassen, aber die Sonne zu spüren, tat so gut. Und nun wurde auch der Blick frei auf das Wettersteingebirge, die Zugspitze, die Alpspitze, den Waxenstein, den Eibsen, den Plausen, ja das ganze Tirol und Österreich lag im schönsten starken Sabbatmorgen vor mir ausgebreitet. Ach, wenn’s hier schon so herrlich mit der Aussicht war, wie schön würde da erst der Blick vom Gipfel sein. Also los, weiter auf den ersten Gipfel zu. Nun sind die Berge ja so gebildet, daß sie eine senkrechte Nordseite haben und eine weniger schwere Südseite und die Geierköpfe sind ein Massiv mit drei Gipfeln. Geht man auf dem Grat, so erreicht man die drei und kann gemütlich auf der Südseite zurückwandern. Ich hab’s so gemacht und es war wunderschön. Die Gemsen sind mir schon so vertraut, daß ich ihren Ruf nachahmen kann, da bleiben sie stehen und es kam tatsächlich eine bis auf fünf Meter heran. Aber dann machen sie plötzlich einen Sprung und wie die Wilde Jagd fliegen sie davon, daß der Boden donnert von dem sich lösenden Gestein unter den Füßen der ängstlichen Tiere. Aber sie sind so flink wie der Wind. Ja, ich war bis fünf Uhr wieder wohlbehalten und froh aber auch mit zittrigen Knien und brennendem Gesicht unten bei meinem Rad. Aber es war schön, der Spätnachmittag war so milde und ruhig, wenn ich mich umdrehte, lagen die Gipfel auf denen ich noch vor drei Stunden stand, so majestätisch und erhaben da und zeigten ihre faltige Nordseite als wollten sie sagen: Auf uns zu steigen bringt keiner fertig. Das Fahrrad rollte fast von alleine das Tal zurück, nur ab und zu mußte ich in die Padale treten. Die alten bekannten Berge zogen an mir vorbei. Ich hatte sie alle schon bestiegen. Die Sonne vollbrachte noch das Wunder des Alpenglühens und dann mußte ich bald wieder feste die Beinmuskulatur spielen lassen, um noch vor Dunkelheit nach Hause zu kommen. Auf meinem Zimmer angekommen, watschelte mir gleich Frau Strauß hinterher und sagte, daß ich eine Einladung von der Englischlehrerin bkommen hätte zu einem Tanzabend des Schulkurses. Aber ich war erstens zu müde, zweitens zu zufrieden und drittens hatte ich noch drei Mark in der Tasche, die für eine Woche reichen sollten. Und so legte ich mich gleich ins Bett und schlief auch bald ein.“

Es ist eine Princessin!

princess200

Die Reiseschreibmaschine ‚Prinzess 200‘ der Firma Keller und Knappich

Oberammergau, 22.5.1958, an Ch. Rumold: „Liebe Christl! Mit dieser Karte geht die eben eingetroffene Schreibmaschine weiter. Bitte kontrolliere, ob es die Pr. 200 / Lederkoffer / Perlschrift ist. Ich möchte das Paket nicht aufmachen, weil es so gut mit Stahlfedern verpackt ist. Herz, ich freue mich selbst darüber, daß wir sie nun haben. Sei herzlich gegrüßt von Deinem Berthold.“

Die Princess 200 erblickte das Licht meiner Welt also Ende Mai 1958. Schon einen Monat später (mit knapp drei Jahren) übte ich mich in ihrem Gebrauch: „Christl, hab vielen Dank auch an Lothar für eure beiden Briefe. Unser Lothar schreibt ja schon sehr schön. Soll er sich nur mit der Schreibmaschine vertraut machen, das ist das beste Handwerkszeug.“  (Brief vom 15.6.1958)

Mal schön, mal stolprig

Oberammergau, 2.8.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Ich bekam beim Lesen Deines lieben Briefes ein ganz schlechtes Gewissen, denn während Du voll Sehnsucht an mich schriebst, spazierte ich ganz ruhig mit drei Frauen auf den Pürschling. Es waren Feriengäste, die bei uns in der Werkstatt schön eingekauft hatten, und weil meine Kumpels dabei die besten Verdiener waren, konnte ich für sie zum Dank den Frauen die Gegend zeigen. Es war aber trotzdem ein schöner Nachmittag. […] Ja, der Hans kommt am Sonntag für acht oder 14 Tage her und ich hoffe nur, daß das schöne Wetter weiter so anhält, damit ihm nicht die Zeit lange wird. Ich lasse ihn mal ziemlich alleine die schöne Natur hier erleben. er soll mal empfinden wie die Ruhe im Alleinesein ist. Vielleicht tut es ihm gut, vielleicht ist es ihm aber auch nicht recht. Mal sehen. Ich freue mich wenn er da ist. Es ist halt manchmal doch einsam und bei aller Freude, die ich mit den Kumpels habe, konnte ich doch noch nicht so was wie eine Kameradschaft schließen, denn die Wirtschaft mit ihrem Gestank ist nicht mein Milieu, in dem ich mich am Abend wohlfühle. Und am Sonntag Kundinnen spazierenführen ist doch zu gefährlich. Christl, Lieb, eben hab‘ ich das Geschriebene durchgelesen und es ist mir nicht ganz recht, daß ich das Schaffen mit den Leuten in den Worten so übertrieben habe. Vorgestern hatten wir die ganze Bude voll mit Leuten, die einen echten Ludwigshafener Dialekt sprachen und als ich sagte, daß ich auch von dort her bin, war das Hallo natürlich groß und ich mußte ihnen alles genau erklären, was wir hier machen und das ganze Drum und Dran. Dann wollten viele eine Schnitzarbeit mitnehmen, was mich zu der Arbeit brachte, mit so nahezu zehn Leuten und Kumpels zu verhandeln, aber mehr als ein Trinkgeld kam dabei nicht heraus. Im Gegenteil, meine Kumpels schimpfen jetzt mit mir, weil meine Landsleute so Geizkragen sind. Da läßt sich mit den Amerikanern eher ein Geschäft machen. So vergehen die Tage, mal ein bissel schöner und mal stolprig.“

Der Herrgott ist eine Ammergauer Spezialität

Oberammergau, 14.12.1957, an Ch. Rumold: „Zum Schreiben kam ich vor lauter Arbeit nicht, es ging wirklich ‚rund‘ in dieser Woche. Ich kam auf 159,- Mark zum Verrechnen. Aber bei Dir scheint ja im Geschäft auch allerhand Arbeit anzukommen. Christl, ich habe fest mit dem Kopfe genickt bei Deinen Worten, es sei Dir heute unerklärlich, weshalb Du einen Handarbeitsberuf gelernt hast. Nun, daß Du nähen kannst, ist schon gut, aber gell, wenn man die Buchhalter und sonstigen Kopfarbeiter betrachtet, da schüttelt man über sich selbst den Kopf, denn wie hart tun wir uns, um hundert Mark in der Woche zu verdienen, und die brauchen sich nicht sonderlich anzustrengen und kriegen’s auch. Daß man doch mit dreizehn Jahren das nicht begriffen hatte. Nun, ich arbeite darauf hin, daß es einmal besser wird, und Du packst es ganz bestimmt. Jetzt packt mich aber der Schlaf. Ich sollte schon seit acht Uhr im Bette liegen. So lautet wenigstens mein Arbeitsprogramm, das ich seit vierzehn Tagen gut einhalten konnte und mich wirklich vorwärts brachte. Am Abend um acht im Bette und in der Frühe halb vier raus (das Aufstehen fällt mir nach acht Stunden Schlaf bestimmt nicht schwer), bis zum Nachmittag habe ich dann einen Herrgott fertig, schleife eine Stunde meine Eisen und kann von vier bis halb acht Uhr lernen. Es ist mir sehr wohl dabei.“