Zur Moral der Briefpublikation

Sollte das einmal privat Gewesene für immer privat bleiben? Wird die intime Sphäre im Nachhinein verletzt, wenn Mitteilungen between you and me and the bedpost Jahrzehnte später publik werden? Wer darf in solchen Fragen in welchem Umfang entscheiden, wer darf es sich unter welchen Umständen herausnehmen, über indviduelle Entscheidungen zu urteilen? Eine Ethikkommission würde vielleicht sagen, dies sei ein delikates moralisches Problemgeflecht. Und nach längerer Beratung zu dem Schluss kommen, dass manches dafür und manches dagegen spreche. Und womöglich würde sie von übergeordneten gesellschaftlichen Interessen faseln, die feststellbar sein müssen, damit gegen das Gebot des grundsätzlich ewigen Schutzes der Privatsphäre verstoßen werden darf. Oder so ähnlich oder auch ganz anders.

Abgesehen davon, dass ich es für moralisch fragwürdig halte, die Moral einer Geschichte zu einer Angelegenheit für Experten zu erklären und sich ihrer mit Hilfe von Ethikkommissionen zu entledigen, wüsste ich derzeit nicht, von wem ich mir sagen lassen könnte, sollte oder wollte, ob ich die Briefe meines Vaters in voller Länge oder vielleicht wenigstens in Auszügen gewissermaßen ungefragt veröffentlichen darf oder nicht. Von Friedrich Nietzsche würde ich eine andere Auskunft bekommen als von Hans Küng, mit der Entscheidung für den Entscheider ist in der Sache also schon vorentschieden worden. Das heißt, ich komme so oder so, implizit oder explizit, um eine eigene Meinung nicht herum.

Der Letzte Wille eines Menschen ist ein noch zu Lebzeiten be(ur)kundeter. Glaubt man nicht an die Authentizität oder Verbindlichkeit der Resultate von spiritistischen Befragungen, dann gibt es jenseits davon keinen weiteren oder allerletzten, posthum geäußerten Willen. Bleibt die irreal-spekulative Frage, ob er es gewollt hätte, beziehungsweise (und das macht die Sache noch komplizierter) ob sie, die Eltern, es gewollt hätten. Denn meine Mutter hätte dann wohl auch ein Wörtchen mitzureden, um nicht zu reden von nicht wenigen anderen, längst verstorbenen Personen, über die in den Briefen dies und das mitgeteilt wird. Einmal mehr zeigt sich: das Nachdenken über ein Problem führt, je gründlicher es geschieht, nicht zu einer Lösung, sondern zur Vervielfachung der offenen Fragen.

Ich weiß nicht, ob er es gewollt, ob sie es gewollt hätte. Eher nicht, würde ich sagen. Oder vielleicht doch? Wer weiß. Hätte, könnte, wollte, würde: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre dieser Patrolog nicht begonnen worden. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne Zweifel sicher. Mehr noch: aus diesem Schade-Finden ergibt sich für mich die moralische Pflicht, mit der Veröffentlichung der Briefe und der Bilddokumente fortzufahren. Wäre ich pathetisch veranlagt (und tatsächlich ist mir eine gewisse Neigung zum skeptisch gebrochenen Pathos nicht fremd), würde ich sagen: ich bin es meinen Eltern, aber insbesondere meinem Vater schuldig, seine Briefe hier (und später vielleicht noch an anderem Ort und in anderer Form) zu publizieren. Denn es zeigt sich in ihnen, wer er war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Geschichte der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus „ethischen Gründen“ nicht zu veröffentlichen.