Oberammergau, 23.8.1959: „Meine liebe Christl! Nach deinen letzten Briefworten kam es mir vor, als hätte mein letzter Brief den Eindruck erweckt, daß ich hier nur so umher flirte. Ich bin ja kein Vorbild an sittlicher Reinheit, aber beim Tanzen war ich diesen Sommer nur einmal und da hatte ich von der verzierten Frohtuerei der Rheinländer bald genug, und die sechs Mark für den Sauerampfer von Wein liegen mir heute noch im Magen. Nein, wie ich mir das Tanzen vorstelle, so sehe ich es nur ab und zu im Kino und dann denkt oder träumt man sich manchmal hinein: So müßte es schön sein. […] Gestern war ich in München und habe eine Ausstellung von einem Bildhauer besucht, der mir schon lange in seiner Art gefällt. Es ist der Barlach. Ja und weil ich mal wieder in der Stadt war und so schönes Wetter war und alles war so gut gekleidet, habe ich natürlich auch viel Geld ausgegeben im Gartencafé vom ‚Haus der Kunst‘. So ein schönes Café ähnlich wie das in Karlsruhe im Stadtgarten und die tadellos angezogenen Leute, also ich schwärme heute noch von der Atmosphäre die dort herrschte.“
Schlagwort-Archiv: die Briefe
Lieber keine Karriere und kein zweites Kind oder: Das Schlimmste wäre, wenn es besser würde
Oberammergau, 21.6.1958: „Meine liebe Christl! Es ist Samstagabend und eigentlich wollte ich ins Kino, denn das Regenwetter nimmt mir die Lust zum Arbeiten, obwohl ich dringend zwei Kruzifixe fertig schnitzen sollte. Na, vielleicht habe ich morgen mehr Arbeitsgeist. Es ging in dieser Woche etwas turbulent zu hier in meinem Verhältnis zum Geschäft und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich nächste Woche vorn im Laden Schnitzler und Verkäufer. Aber ich warte doch noch etwas ab, denn diese Stellung ist bei uns nichts so Normales wie sonst in einem Geschäft, es ist hier schon eine Schlüsselstellung. Mein Grünewaldrelief hat mich einen fühlbaren Sprung aufwärts gebracht im Betrieb. Zuerst wollte ich es ja nicht nach hier verkaufen, aber mein Chef bekam es zu sehen und war ganz begeistert davon. […] Sicher warst du bei meinem letzten Brief enttäuscht. Es ist schon eine Misere der augenblickliche Zustand unserer Ehe und wenn ich sehe, daß ich mich so langsam aber sicher im Geschäft hocharbeite, kann ich dir noch nicht einmal Hoffnung machen, so schnell von hier weg zu gehen. An Frau Goebel habe ich die hundert Mark wieder geschickt. Mit der hab ich mir’s verdorben, schrieb sie mir doch in einem Brief, daß eine Meisterstellung in ihrem Betrieb nur in Verbindung mit der Heirat einer ihrer Töchter frei würde. Na, ich hab dann etwas zu zynisch geantwortet, aber ich hatte mir halt wieder mal zu viel Hoffnungen gemacht.“
Zehn Tage später hatte meinen Vater die Nachricht erreicht, dass ein zweites Kind, meine Schwester Barbara, unterwegs war. Wie er in einem Brief vom 1.7.1958 schreibt, habe er zuerst an Abtreibung gedacht, daran, „etwas mit einem Arzt zu unternehmen“. Sein Bruder Günter (er schreibt konsequent „Günther“) verfüge gewiss über entsprechende Kontakte. Hatte es im oben auszugsweise wiedergegebene Brief vom 21.6. noch geheißen, er könne sich nun „langsam aber sicher im Geschäft hocharbeiten“, sieht er sich keine zwei Wochen später nicht dazu in der Lage „ein Kind und eine Frau zu ernähren […] und da soll nun gar noch ein Kind dazu kommen.“ Und weiter: „Wenn ich wenigstens einen anderen Beruf hätte. Von hier kann und will ich vor den nächsten zwei Jahren nicht weg. Ich beginne gerade, mich einzuarbeiten und will nicht wieder davonlaufen. Aber Christl, ich möchte auch nicht, daß du nach hier kommst. Ich kenne deine Abneigung gegen das Dorfleben nur zu gut und nichts wäre mir schrecklicher, als deine Unzufriedenheit neben mir.“ Mit anderen Worten: obwohl er im Begriff war, die ersten Stufen der Karriereleiter in einer (auch durch sein Zutun) prosperierenden Firma zu erklimmen, wäre es ihm lieber, das zweite Kind käme nicht zur Welt und auf keinen Fall will er, dass seine Frau und sein(e) Kind(er) zu ihm ins dörfliche Oberammergau (das damals durchaus etwas Weltläufiges gehabt haben muss) ziehen.
Eine Einladung nach Brüssel
Oberammergau, 17.3.1959, an Ch. Rumold: „Also ich wurde vorige Woche eingeladen, nach Brüssel zu kommen über Ostern. Nicht von einem Mädchen, nein, von zwei Mädchen und einem Mann. Es war ein Ehepaar (50 Jahre) mit der Mutter von fünfundsiebzig bei uns in der Werkstatt. Ich habe sie herumgeführt und ihnen noch ein bissel Oberammergau gezeigt, und als sie am Ende sagten, ich solle doch auch mal zu ihnen nach Belgien kommen, wußte ich natürlich nichts Schlaueres zu sagen als, es wäre schön, aber dazu habe ich gar kein Geld. Nun die Leute fuhren wieder weg und am Samstag kam ein Brief mit fünfzig Mark und ich solle doch kommen, sie haben ja ein Haus, in dem ich wohnen kann, und ein Auto, mit dem sie mir gerne mal Belgien und Brüssel zeigen wollten. Ja, Lieb, und so sehr ich mich auch vor dir schäme, ich würde trotzdem mal gerne hinfahren. […] So ein hagerer englischer Typ sind sie und sprechen auch Englisch. Also sehr freundlich und sorglos, wie es halt Leute sein können, denen es an Geld nicht fehlt.“
Meine Mutter lebte mit meinem knapp dreijährigen Ich und meiner zweieinhalb Monate alten Schester damals noch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen in einer viel zu kleinen Wohnung in Karlsruhe-Rintheim im Haus ihrer Großeltern väterlicherseites. Erst ein halbes Jahr später zog sie mit uns Kindern in eine eigene Dachgeschoss-Wohnung am Rande der Karlsruher Oststadt. Offenbar reagierte sie auf die ex- bzw. egozentrischen Urlaubspläne meines Vaters weder gekränkt noch sonstwie irritiert, sondern nur (scheinbar oder tatsächlich) besorgt, wie aus dem gut gelaunten Brief meines Vater vom 21.3.1959 hervorgeht.
Das Belgien, das Meer und Brüssel
Oberammergau, 21.3.1959, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Es ist heute ein wunderschöner Frühlingstag und er macht mich ganz und gar optimistisch. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen, denn was soll mir bei den Leuten schon Übles geschehen, ich bin doch kein Kind mehr. Natürlich hatte ich vor allem die Herzen der beiden Frauen im Flug eingenommen, aber Schatz, ich bin viel zu abgöttisch in dich verliebt, als daß so zwei ältere Damen einen größeren Einfluß auf mich ausüben könnten. Aber Christl, Lieb, laß mich doch bitte mal das Belgien und das Meer und Brüssel sehen. Ich bin ja so neugierig darauf. Wohl ist mir nur nicht, daß du mit den beiden Kindern alleine zu Hause sitzen mußt. Ich schreibe dir wenigstens jeden Tag, was ich erlebt habe. Sonst ist diese Woche mit Arbeit ausgefüllt. Letzten Sonntag habe ich eine Schitour unternommen auf einen idealen Schneeberg. Wahrscheinlich war es heuer die letzte Möglichkeit, die Bretter zu benutzen, denn seit einigen Tagen knallt die Sonne so fest auf das Land, daß der restliche Schnee nur so dahin schmilzt. Hoffentlich bleibt das Wetter über Ostern.“
Das Radio ein- oder abschalten mit ihr
Oberammergau, 21.9.1959, an Ch. Rumold: „Ach, Christl, ich bin so nervös seit ich weiß, daß wir eine eigene Wohnung haben und ich hier sitze. Ich habe dir gestern zwar zwei Briefe geschrieben. Der erste war zu traurig und über dem zweiten bin ich eingschlafen. Ich wäre so gerne bei dir in der Wohnung und hätte gerne einmal einen richtigen Feierabend, so eine liebe Bummelei auf der Couch und höchstens das Radio ein- oder abschalten mit dir. Ach, Christl, ich habe dich so lieb und möchte es dir so gerne schön machen und bin auch so furchtbar eifersüchtig. Christl, in der letzten Zeit geht mir immer drängender meine Vorbereitung zur Meisterprüfung durch den Kopf. Wenn ich mit der Prüfung eine Lehrerstelle erreichen könnte, möchte ich die Konjunktur im Passionsjahr ausnutzen und mich auf der Schnitzschule richtig ausbilden lassen und nach Feierabend leicht verkäufliche gut bezahlte Modelle schnitzen. Sollte mir die Prüfung allerdings keine Tore zur Schule öffnen, dann bleibe ich vorläufig in der Firma. Schatz, bitte schreibe das Beiblatt mit der Schreibmaschine. Ich will doch einmal Gewißheit haben. In der Arbeit geht es jetzt gut. Meine modernen Formen finden bei den Filialleitern freudige Abnahme und der Chef drängt auf neue Sachen. Aber ich suche jetzt lieber den besten Weg für mich.“

Ansichtskarte vom 28.9.1959: „Christl, mein Schatz! Vielen Dank für deinen lieben Brief. Ich hatte zwar eine gutbezahlte Woche, bekomme aber erst diesen Freitag das ganze Geld. Schatz, es geht mir so durchwachsen. Sei mit den Kindern auf das Liebste gegrüßt und geküßt, dein Berthold.“
Hund, Katze, Maus? – Bärle!

Brief an Lothar Rumold aus Oberammergau am 30.11.1957
Von mir – ich war damals 26 Monate alt – wurde „unser Butzi“ – Wau hin, Gebell her – ohne weiteres als Bärle identifiziert. Das konnte mein Vater, der von seinen Lehrern gelobte Zeichner, nicht auf sich sitzen lassen, weshalb er postwendend ein hundeähnlicheres Porträt des Butzi nachreichte und dazu schrieb: „Der Papa freut sich, daß du gesund und brav bist. Du hast gesagt, daß der Hund vom letzten Brief ein Bärle sei. Nun frag ich dich: Ist das ein Hund oder nicht?“ Aus heutiger Sicht würde ich sagen: beide Hunde sind deutlich als solche zu erkennen, wobei mir der erste Butzi mit seinen freundlichen Knopfaugen und seinen kurzen Beinchen viel besser gefällt als der schäferhundartige vom 6.12. mit seinem indignierten Blick und der zwischen den Zähnen heraushängenden Zunge.

Man sieht, warum ich in Butzi umstandslos mein Bärle wiedererkannte. Damals hatte es allerdings noch mehr Haare als auf diesem aktuellen Foto. Ich auch.
Nichts als Arbeit, Zeichenschule, Kino und Passionsspiele
Oberammergau, 23.10.1959, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Es ist wieder Freitag geworden. Diese Woche war für mich recht lebhaft. Aber was war’s eigentlich? Arbeit und Zeichenschule und Kino.“
Oberammergau, 26.10.1959, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Ich habe mich sehr über deinen Brief gefreut. Ach, ich möchte als naus wo kein Loch ist so nervös macht mich das Alleinesein. […] Ich habe in der Schule das Zeichnen und Modellieren angefangen. Zuerst nur zwei Abendkurse mit unseren Lehrlingen. Das ging halt nicht lange so; ein bissel gelobt wurde ich von meinen Lehrern und schon meine ich, daß ich an zwei Tagen bei ihnen sein muß. Es macht mir aber auch mehr als nur Freude, daß mich die beiden Männer so packten.“
Oberammergau, 17.5.1960 (Postkarte), an Ch. Rumold: „Viele liebste Grüße für dich und unsere Kinder sende ich aus dem hiesigen Durcheinander. Das Geschäft steht mit dem ganzen Dorf auf dem Kopf, daß man nicht mehr weiß, was vorne und hinten ist. Am Samstag habe ich mir das Passionsspiel angesehen. Es ist in seinem Aufbau der Inszenierung überraschend gut. Und sonst ist es halt nett, meine Kumpels herumhüpfen zu sehen.“
Große Kunst und kleiner Kaffeekampf mit Kohlesäureperlen
Oberammergau, 8.5.1960, an Ch. Rumold: „Christl, mein Schatz! […] Wenn ich samstags arbeite, ist mir im allgemeinen nicht recht wohl. [Offenbar fühlte er sich noch immer an die Regel der Adventisten gebunden, L. R.] Zum Glück hatte ich gestern einen guten Arbeitsgeist und dein Brief ließ mich auch am Nachmittag froh bleiben und mein Zeil erreichen. Morgen werde ich mit meinem Schnitzschullehrer nach Landshut fahren und ein Wandrelief einsetzen. Ich möchte mich damit ein bissel erkenntlich zeigen für die Zeit und Mühe, die er doch immer wieder für mich erübrigt hat. Mein Zeichenlehrer hat mich auch wieder geangelt. Ach, wenn ich doch einmal ein paar tausend Mark gewinnen würde, damit ich ein ganzes Jahr nur bei diesen Männern sein könnte. Es ist nicht schön, so hin und her gerissen zu werden zwischen absolutem Kunststudium und Souvenirschnitzereien. Das Schnitzen macht mir Freude, aber der Versuch zu einem Kunstwerk verlangt für sich so viel an Schubkraft und Empfindsamkeit, das glaubt man kaum. Es ist, als wenn ein Reiter von seinem täglichen Arbeitspferd ein Turnierpferd besteigt. In München in der Gauguin-Ausstellung war ich noch nicht. Mein Zeichenlehrer hat mir sogar davon abgeraten. Ich habe allerdings auch in verschiedenen Kunstbüchern eine negative Kritik über G. gelesen. Er war wie Utrillo ein genialer Individualist und hat unserem Jahrhundert eitwas von sich gesagt, aber er konnte nicht die bisherigen Sprachen zusammenfassen und um einen weiteren Baustein bereichern. Picasso brachte das fertig, deshalb ist er das Genie der Kunst in unserer Zeit. Das habe ich allerdings nicht gelesen. Die Übung in der Arbeit zeigt einem das von alleine. – […] In der kommenden Woche beginnt ja das große Rennen. Ich fürchte ein Fiasko. Wir haben jetzt einen supermodernen großen Geschäftsraum gebaut, aber keinen Vorrat an Schnitzereien. Die Arbeiter tun nicht mehr viel, wenn sie im Theater spielen und der Chef kniet wohl auf mir herum, aber ich kann ja nicht mehr als das Zeugs sausen lassen so viel ich zusammen kriege. Es bleibt immer nur ein Tropfen auf einem heißen Stein. (Ein Glück, daß die Firma mich hat.) Aber ich wollte noch ein bissel auf deinen Brief eingehen. Ich sehe immer wieder meine beiden Kinder auf ihrem gemeinsamen Stuhl sitzen. Ach, wir sind doch glücklich, wenn wir zufrieden sind, und wenn der Kaffeekampf einen ganzen Sonntagmorgen dauern darf, ist ’s grad schön. Wie bald sind wir alle vier älter und da setzt sich jeder der beiden Spatzen viel zu früh in seinen eigenen Sessel. Christl, dein Erzählen über Lothars ausgesprochene Freude, weil du seinen Wunsch nicht vergessen hast, hat mich auch mit einem überraschten Erstaunen schmunzeln lassen. Aber ich bin sehr froh, wenn ich bei Lothar bin und wir, du und ich, ihm zwei sorgende Eltern sein können. Lothar beobachtet scharf, er sieht bald, was ein lebendiger Mensch zum Leben braucht. Ich glaube ich muß noch viel an mir erziehen, um einmal sein Herz zu gewinnen. Aber ich bin glücklich um solch einen Menschen. Nach deinem Brief habe ich mir gedacht: Unsere Barbara holt sich ganz einfach soviel Liebe wie sie braucht und wer könnte ihr widerstehen und Lothar wartet auf sie. […] Gestern Nachmittag hörte ich dem Radio zu. Zwischen angenehmen Melodien kamen immer so erzählte Lebensbeobachtungen. Übrigens fiel mir auf, daß sich die meisten Erzähler über sich selbst lustig machten. Es scheint große Mode zu sein, den Wilhelm Busch nachzuahmen. An der ersten Glossierung hatte ich noch Spaß. Ein ‚ahnungsloser‘ Ehemann freute sich auf die Urlaubsreise mit seiner Frau nach Spanien und träumte schon vom warmen Land, kühlem Wein, bis ihm seine Frau so nebenbei sagte: Spanien ist das Land, in dem du einmal Kavaliere sehen und studieren kannst. Nun, sie kamen in jenes Land und die Männer benahmen sich halt – normal. Bei jedem unangenehmen Zusammentreffen konnte der Ehemann jetzt fragen: ‚Sind das die Kavaliere?‘ – Am Ende der Geschichte gestand der Erzähler verschmitzt: ‚Ich hatte halt Glück.‘ – Ja, mir gefallen solche Kohlesäureperlen im Weinglas des Zusammenlebens zweier Menschen.“
Eine Lektion Kunstgeschichte

Von links nach rechts: Barbara, Lothar und Christel Rumold, Sommer 1961
Oberammergau, 11.9.1960, an Ch. Rumold: „Es geht mir soweit recht gut, die Frankfurter Messe hat wieder eine Menge Aufträge eingebracht. Allerdings meine moderne Kreuzigungsgruppe ging nicht los. Ich habe wegen meines Abwanderungswunsches auf die Schule, mit meinem Chef gesprochen. Er hat da einen anderen Vorschlag, nämlich, daß ich zu einem unserer besten Heimarbeiter in die Werkstatt soll. Der haut unsere guten großen Figuren aus und unter dessen Augen könnte ich dann für die Firma die großen Sachen schnitzen. Aber der gute Mann war bisher immer alleine und so freundlich er auch auf der Straße ist, ich weiß nicht, ob ihm das recht ist, daß so ein junger Streber zumal neben ihm arbeitet. Er ist 65 Jahre alt. Wenn er nicht will, wäre es mir insofern recht, als daß er zwar gut, aber doch im Jahrhundertwendestil arbeitet. Wogegen die Schule halt vielseitiger ausbildet. Na, ich lasse es mal kommen. Auf jeden Fall mache ich die Christusschnitzerei nicht länger weiter. Das Kameradschaftliche Schlamperleben [in der Werkstatt, L. R.] behagt mir auch nicht mehr ganz. In meinem Lexikon moderner Kunst las ich von Suzanne Valadon: „Sie wurde 1865 in Bessines geboren und starb 1938 in Paris. Das sehr schöne, wie vom Teufel besessene und nicht gerade verschämte Mädchen war eine Zeitlang die Königin der Bälle auf dem Montmartre und Gast in vielen Ateliers. Renoir liebte ihre perlmuttene Haut, Lautrec ihr Gesichtchen, auf dem er im Widerspruch zu ihrer Jugend so etwas wie Traurigkeit entdeckte. Mit 18 Jahren brachte sie ihren unehelichen Sohn Maurice zur Welt, den ein mitleidiger Spanier namens Utrillo adoptierte. Sie hat von sich gesagt, sie habe fieberhaft gearbeitet, nicht um schöne Zeichnungen für die Wand zu schaffen, sondern um einen Augenblick des lebendigen Lebens in seiner ganzen Intensität zu erhaschen. Während ihre Zeichnungen fast ausschließlich Aktdarstellungen waren, für die sie aber nicht sehr oft graziöse Modelle, sondern vielmehr ihr Dienstmädchen nahm, weitete sie in der Malerei den Bereich ihrer Sujets aus und malte nun oft auch Landschaften und Stilleben. In ihren Bildern findet sich dieselbe Ausdruckskraft und dieselbe Schärfe wie in ihren Zeichnungen. Sie hat von Zeit zu Zeit großartige Werke geschaffen. Solche gelangen ihr vor allem, wenn sie ihre Vorliebe für rohe Farben und allzu lebhafte Kontraste zu zügeln verstand.“ – Auweh, Schatz, das war jetzt viel Kunstgeschichte. Hoffentlich gewinnen wir einmal in einer Quizsendung tausend Mark dafür.“
Und dann fuhr er doch erst am 23. Dezember
Oberammergau, [Montag] 14.12.1959: „Christl, Schatz. Ich fahre am Samstag [19.12.] um zwölf Uhr hier weg und denke bis abends bei dir zu sein. Es gäbe ja Gründe, noch einige Tage hier zu bleiben, um zu arbeiten, aber ich möchte nicht in letzter Stunde vor Weihnachten so gehetzt bei dir ankommen und dann will ich halt auch so bald als möglich wieder bei dir und den Kindern sein. Ich bin froh, wenn ich wieder zu Hause bin. Ich könnte ja am Samstag in der Frühe fahren, aber die Frühzüge sind mir unsympathisch.“
Oberammergau, 18.12.1959: „Ich arbeite und wurschtle und habe in drei Tagen vielleicht dreihundert Mark zusammen geschunden, aber die scheinen mir im Augenblick von so fragwürdigem Wert, so notwendig wir sie auch brauchen. Es tut mir weh, daß ich dich in diesen Hexenkessel meines Lebens hinein gezogen habe – und erst unsere Kinder. Nur zu oft fürchte ich mich davor, mit diesen freudeleeren Händen und enttäuschungsvollen Armen bei euch zu sein. – Das klang jetzt schon ‚geschwollen‘, aber dieses Fürchten ist ein großes Geschwür in mir. Bei Nacht ist es fast immer da und am Tage nicht selten. Ein Handeln in Furcht bringt auch kein Glück. Christl, ich fahre am Mittwoch [23.12.] in der Frühe hier weg und bin mittags in Karlsruhe. Sei mit den Kindern herzlich gegrüßt und geküßt – dein Berthold.“