Ein wahrer Brief, der nicht in der Schublade verschwand

Oberammergau, 21.9.1960: „Liebe Christl! / Heute Abend wartest Du wieder einmal vergeblich auf mich. Lag es nur am Geld, daß ich nicht gefahren bin? Ich hätte mir ja hundert Mark leihen können. Aber diese Geldsorgen reißen mich ja immer weiter von Dir weg. Schatz, Dein ehrlich ausgesprochener Wunschtraum auf der Wiese vom roten Jaguar zeigt doch so deutlich, wie grundverschieden wir beide sind. Ich bin so engstirnig, daß ich nur glücklich bin, wenn ich meiner Frau auch ihre geheimen Wünsche erfüllen kann. Immer zittere ich, wenn Du mir von Autos erzählst, und was noch schlimmer ist, ich stimme in diesen Gesang mit ein, obwohl er mir so widersteht. Ich weiß, daß ich sowas nicht erreiche; ich will es fast nicht erreichen, ich lebe mit dem alleinigen Gebrauch meiner Beine zufriedener. Christl, sicher mußt Du warten, bis Dein Sohn einmal erwachsen ist, obwohl ich Dir wünsche, daß vorher ein normaler Mann mit einem roten Jaguar Deinen Weg kreuzt. Aber hoffentlich noch in der Zeit, da ich hier bin. Christl, ich zittere wirklich vor der Zeit, in der wir wieder beieinander sind. Ich spüre diese krankhafte Eifersucht so schmerzlich, wenn ein Mann bei uns ist, der Dir diese Träume erfüllen könnte, und möchte dann immer nur eines: alleine sein. / Das Leben in dieser Einfachheit ist für mich so schön. Das Erreichen erfüllbarer kleiner Wünsche, der Gang durch Wiesen, Wälder und Berge und eine gemütliche Wohnung kann ich erreichen, und mit einer Frau, die von Natur aus das gleiche Wollen in sich hat, bin ich halt glücklich. / Christl, ich habe Dir schon zweimal ähnliche Briefe geschrieben, damals nach Deinem Buch von der kleinen Näherin mit dem großen Diplomat-Geliebten und in der Zwischenzeit noch zweimal. Ich habe die Briefe immer wieder in meiner Schublade liegen lassen. Sie liegen noch drin, ich konnte sie nicht wegwerfen, sie waren mir zu wahr. / Christl, ich habe Dich lieb, ich würde Dich gerne glücklich sehen, wenn es mich auch noch so schmerzt. / Ich sende Dir meine herzlichsten Grüße. / Berthold.“

Der Traum vom roten Jaguar erfüllte sich für meine Mutter nach dem Tod meines Vaters in Form eines roten VW Passat Variant mit Klimaanlage. Warum es dieses viel zu geräumige und unsinnig teure Auto sein musste, habe ich damals nicht verstanden. Natürlich wusste auch mein Vater die Annehmlichkeiten eines Autos zu schätzen – und das nicht erst in späteren Jahren. Doch ist in diesem Brief ein quasi naturgegebener Unterschied erkannt und benannt, der wohl wesentlich zu dem sich nach seiner Rückkehr aus Oberammergau über dreißig Jahre hinziehenden Scheitern der Ehe beigetragen hat. Mein Vater konnte mit sehr wenig sehr zufrieden sein. Ob die lebenslange Unzufriedenheit meiner Mutter bei einem Leben in Wohlstand und Luxus ihre Grundlage verloren und sich in nichts aufgelöst hätte? Es würde auf den Versuch ankommen. Aber man lebt eben nur im Kino zweimal.