Archiv für den Monat: Mai 2015

Hände hoch, ich bringe Ihnen einundsiebzig Mark!

Mein Vater schickte meiner Mutter während der sechs Jahre (1956-1962), in denen er in Oberammergau bei Lang selig Erben als Schnitzer arbeitete, wöchentlich Geldbeträge zwischen vierzig und hundert Mark. In der Regel steckte er wohl die Scheine einfach mit in den Briefumschlag, gelegentlich tragen die Briefe am unteren Rand Vermerke wie „anb. 70,- DM“. Ein sicherer, wenn auch mit zusätzlichen Kosten verbundener Weg des Geldtransfers wäre die Zustellung per Geldbriefträger gewesen. Bis 1987 trugen diese „Geldboten der deutschen Bundespost“ (so die offizielle Bezeichnung) Pistolen bei sich, um im Fall der Fälle die Rente oder Postanweisung gegen etwaige Wegelagerer verteidigen zu können. Geldbriefträger gab es immerhin bis April 2002, nach 1987 waren sie allerdings nur noch mit Mobiltelefonen bewaffnet.

Oberammergau, 23.3.1957, an Ch. Rumold: „Unser Bub steht oft genug deutlich vor mir, der kleine Spatz. Wirf ihm bitte die eine Mark über den siebzig in seine Kasse. Ich habe das Geld diesmal einbezahlt, bin aber nicht ganz zufrieden, weil dieser Weg fünfzig Pfennige kostet, mit denen ich gerne etwas anderes angefangen hätte. Ich glaube, das nächste Geld schicke ich wieder im Brief. Heute am Samstag hatte ich einen richtigen Arbeitseifer, ganz im Gegensatz zum letzten. Es macht mir auch jetzt immer mehr Spaß, weil die Arbeit immer leichter von der Hand geht. Lieb, sag doch Herrn Geier, daß ich ihm eine geschnitzte Schachfigurenserie besorgen kann. Ich selbst könne sie leider nicht schnitzen, da ich dringend anderen Aufträgen nachkommen müsse. Die Preise liegen bei dreihundert Mark ohne Brett. Es sind das recht nett geschnitzte Figuren, aber eben auch teuer. Billiger sind sie in der Ausführung nirgendwo, denn das Zeug geht weg wie warme Semmeln. Es sind auch immerhin 32 Einzelfiguren.
Sonst bin ich wirklich zufrieden. Meine Kumpels werden mir immer lieber und die Arbeit leichter. Jetzt ist bei uns die große Zeit des ‚Hornsuchens‘. Horn sind Geweihe der Hirsche. Die werfen jetzt im März ab und die Kerle sind dahinter her, als wären sie aus Gold, dabei flacken sie bald in irgendeiner Zimmerecke, um zu verstauben. Aber es ist nicht erlaubt, diese Apparate zu behalten und so bieten sie eine anreizende Gelegenheit, den Jägern zu beweisen, daß sie Schlafmützen seien: bis die aufsehen ham mia Buam schon längst die Horn dahoam. Ja, und dann weiß ich jetzt auch, daß am 24. März die ersten Schwalben kommen und die Frösche schon da sind. Es gefällt mir ganz gut, wie die Kumpels das Jahr kennen und zu jeder Zeit ihre besonderen Ereignisse haben.“

Die Schnitzbank hatte ihn wieder

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Oberammergau, 4.11.1960: „Lothar, mein lieber Bub! Ich habe da eine lustige Karte gefunden und möchte sie dir mit einem lieben Gruß schicken. Es war schön bei dir zu Hause – jetzt bin ich wieder an meiner Schnitzbank in der Werkstatt. Lothar bleibe lieb zu Mama und Barbara und Oma. Sei herzlich gegrüßt und geküßt von deinem Papa!“

Von einer fröhlichen Insel und einem, der auch zur See fahren will

Oberammergau, 23.2.1957, an Ch. Rumold: „Ich war heute am Bahnhof und habe mich nach der Zugverbindung orientiert und wenn alles gut verläuft, bin ich nächsten Samstagmittag 12:59 Uhr bei dir und Lothar. Lieb, in der Bahnhofshalle war ich mit meinem Empfinden schon in Karlsruhe, als da alles im Normaldeutsch sprach und sich ständig bewegte. Als ich dann wieder die Dorfstraße hinauf ging, mußte ich direkt umschalten. Na, ich werde glücklich sein, wenn du mit dem Buben auf mich wartest. […] Christl, gell, das letzte Mal war’s ein kurzer Brief. Ich hatte am Samstag gerade einen Brief an Waltraud fertig, da kamen meine Kumpels und ich zog mit ihnen los auf einen ‚Sportlerball‘. Es war auch ganz nett. Wir waren alle im Normalanzug vom Meister bis zum Stift und bildeten unter den Maskierten eine fröhliche Insel. Es war mir wirklich zum Vorteil während der ganzen Woche, denn jeder war froh, daß ich auch mal mitgemacht hatte und nicht stur wie sonst arbeitete. Es wurde schon vier Uhr am Sonntagmorgen bis ich ins Bett kam. Viel getrunken hatte ich nicht, aber es war trotzdem recht schön. Ja, der Waltraud habe ich geschrieben, denn ich wollte die Seemannsschule, die Günther besucht hat, wissen für unseren Hans. Der Bub rennt sich fast krankhaft den Kopf ein und will ab auf die See. Na, ich brauch diese übereilten Unmöglichkeiten ja nicht weiter auszuführen. Wenn ich ihn nur soweit bekomme, daß er zuerst seine Prüfung als Postler macht und dann diese Fachschule besucht und absolviert, damit er doch nicht als Hilfsarbeiter einmal umanander irren muß. An die Schule habe ich schon geschrieben und hoffe, daß sie baldigst antwortet.“

Genealogisches Aha-Erlebnis

Unter meinen Vorfahren der letzten drei bis vier Generationen war, wenn man den amtlichen Angaben Glauben schenkt, nicht einmal ein Pfarrer. Auch kein Haus- oder sonstiger Lehrer, erst recht kein Professor oder ähnliches. Aber nicht nur der allgemein geistlich-geistige, nein, auch der ganze musisch-künstlerische Bereich ist vollkommen unter-, ja weniger noch: überhaupt nicht repräsentiert. Ärzte gab es auch keine, noch nicht einmal dental dilletierende Barbiere, mit deren modernen, technisch aufgerüsteten Kollegen mein Vater schon in jungen Jahren mehr zu tun hatte, als ihm lieb gewesen sein dürfte – dies nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Er war noch keine 28 Jahre alt, da musste die zuvor nur überkronte obere vordere Reihe von neun Zähnen komplett ersetzt werden, wie er in einem Brief vom 9. Februar 1957 detailliert erläutert.

Stattdessen gab es mütterlicherseites mindestens einen Schreiner- und einen Glasermeister, einen Landwirt, einen Holzhauer und einen Bahnarbeiter, als dessen Pendant väterlicherseits man vielleicht den 1881 im Schwäbischen geborenen Postillion Georg Adam Jakob Rumold ansehen kann, der dann vor 1905 die aus dem bayerischen Uffing (nicht weit von Oberammergau) gebürtige Köchin Kreszenzia Mayr geheiratet hat. War sie ihm etwa bei einer dienstlichen Fernpostkutschfahrt in Uffing vor die Pferde gelaufen?

Was noch? Ein Postbeamter, ein Gutspächter, ein Söldner, ein Fabrikarbeiter und ein Schneider. Also vielleicht kein Wunder, dass ich mich im Studium immer ein wenig wie im falschen Film fühlte, ohne dass ich hätte sagen können, welches denn der richtige Film für mich gewesen wäre?

Fastnachtsstimmung schon Ende Januar

Oberammergau, 26.1.1957: „Meine liebe Christl! Über deinen lieben Brief habe ich mich sehr gefreut und sage dir vielen Dank dafür. Lieb, hoffentlich bekomme ich heute Abend einen einigermaßen lesbaren Brief zusammen, bin ein bissel arg müd. Und habe mich doch so sehr über deine Erzählung von unserem Buben gefreut. Grad letzte Woche begegnete ich auf einem Frischluftschnappgang am Kofelweg einer Schulklasse von rotbackigen Buben und bei ihrem Anblick kam mir ein Wunsch, den du mir jetzt aber nicht als neue Schwärmerei verübeln darfst, denn es war nur ein kurzer Wunsch. Weißt du, wenn ich einmal meine Meisterprüfung habe, es müßte doch gehen, daß man in Abendkursen das Abitur nachholen könnte und vielleicht einmal als Zeichenlehrer an einer Realschule ankommen könnte. Das wäre doch schöner als sich mit hinterlistigen Geschäftsleuten herumärgern zu müssen. – Aber lassen wir das jetzt noch schlafen und steuern in einer fröhlichen Werkstatt erst einmal der Meisterprüfung entgegen. Es herrscht schon eine richtige Fastnachtstimmung unter unseren Kerlen. Keiner hat mehr einen Arbeitsgeist und wenn ein Fremder in der vergangenen Woche zu uns hereingeschaut hätte, der hätte hier alles vermutet nur keine Schnitzerwerkstatt. Drei spielen fast ständig Skat, andere haben sich einen Schießstand hergerichtet, weil einer ein Gewehr selbst gebaut hat und zwischendurch wird mit primitivster Kostümierung, bestehend aus einer langen Papnase mit Schnurrbart und sechs, sieben verschiedenen Hüten und Mützen, eine Varietéschau geboten, daß man, ob man will oder nicht, lachen muß bis der Bauch weh tut. Das Radio mit seinem tuttifrutti Rock and Roll bietet natürlich das denkbar beste Sprungbrett für diese Schlauheiten. Aber ich freue mich doch über die Lebensfreude meiner Kumpels. Wir haben die denkbar beste Belegschaft. Unser guter Josef mußte in letzter Zeit schon was herhalten mit seinem Alter von vierzig Jahren. Da läuft doch gerade der Schlager, in dem es heißt: ‚… und von der Kirch und den alten Leut, da geht a Segen aus.‘ Wenn Sepp nun wegen irgendeiner kleinen Sache klagt, bekommt er das zu hören. ‚Aber wartets nur, wenn i amol nimma komm, nachher schaugts drein‘.“

Föhn und Fastnacht und ein später Spaziergang

Oberammergau, 9.2.1957: „Meine liebe Christl! Ich hatte in den kalten Wintertagen oft sehnlichst nach dem Frühling Ausschau gehalten, aber was die vergangene Woche bot an Sonnenschein und nahezu berauschend warmem Föhn, macht mir fast bange vor dem Frühjahr. Ich hatte eine unendliche Sehnsucht nach dir und unserem Lothar. Am Sonntag konnte ich mittags ganz einfach nicht mehr arbeiten. Aber, wenn man draußen sitzt an der Romanshöhe, ist einem auch nicht wohl, denn alles ist voll von jungen Leuten oder besser gesagt, Pärchen und wenn einem schon ein Einzelner begegnet, schaut er oder sie so hungrig drein, daß man Angst bekommt, auch einen solchen Eindruck zu machen und deshalb bald wieder ins Dorf in die Werkstatt geht. […] Lieb, eben mußte ich für eine Weile den Brief unterbrechen, denn meine Kumpels kamen, um sich für einen Maskenabend einzukleiden. Also, wenn sich die jungen Kerle in alte Frauenkleider stecken und sich eine Holzmaske vors Gesicht binden, bekomme ich wie beim Nikolaus ein enges Gefühl ums Herz. Hüpfen sie dann eine Weile umeinander, so gewöhnt man sich ja dran, aber schön ist das wirklich nicht, nur grotestk, wenn unter einer grinsenden Fratze ein ernstes Gesicht hervor kommt und flucht, weil das Ding nicht recht passt. Heute hatten wir ein recht stürmisches Wetter und erst gegen Abend beruhigte sich der Himmel und geradezu tröstend umspielte der Sonnenschein noch einmal die Berggipfel, als ich zur Lichtzeit einen Spaziergang machte. Ich ging zur Bergbahn hoch und ein Stück zu Fuß den Berg hinauf, bis ich eine ganz ansehnliche Höhe erreichte und einen Blick auf die umliegenden Gipfel bekam. Es war ein ganz klarer ruhiger Abend. Es roch nach frisch geschlagenen Bäumen und nach der Anstrengung eines schnellen Aufstiegs keuchte der Körper wohlig, langsam sich beruhigend. Es ist dann unglaublich schön. Daß im Lande Menschen wohnen, die sich jetzt streiten oder gar Krieg führen, es will einem nicht in den Kopf. Mit einem stillen Seufzer schaut man nach der Ebene zu und ich wünschte mir, daß du bei mir wärst. Dann merkte ich plötzlich, dass der Mond schon meinen Schatten auf den Boden zeichnete und stieg langsam wieder ins Tal.“

Alle Wege führen nach Oberammergau

Ende Oktober 1956 war mein damals siebenundzwanzigjähriger Vater mit seinem nur wenig älteren Bruder Günther mit dem Auto unterwegs im Voralpenland – wohl um die Landschaft in Augenschein zu nehmen, deren Teil mein Vater nun werden sollte. Denn wenig später arbeitete er schon für Lang selig Erben in Oberammergau als Holzschnitzer. Die Ansichtskarte stammt vom 22.10.1956, von meinem Vater irrtümlich mit 1957 datiert. Konnte er es damals schon kaum erwarten, wieder nach Karlsruhe zu seiner Familie zurück zu kehren? Obwohl die Jahre im Ammergau einmal die glücklichsten seines Lebens gewesen sein würden?

"Garmisch, 22.10.1956 - man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold

An Ch. Rumold: „Garmisch, 22.10.57 – Herz! Man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold“

Was wird aus Hans und: einmal Gesichtnachschnitzen für zehn Mark bitte!

Oberammergau, 12.1.1957, an Ch. Rumold: „Meine Elternhausfamilie macht mir augenblicklich leider etwas Sorge, sogar ein bissel viel. Unser Hans [damals sechzehneinhalb] wird scheinbar nahezu unerträglich für meine Mutter und sich selber. Nun habe ich mir überlegt, ihn zu mir zu nehmen und bin deshalb schon hier auf dem Postamt gewesen. Der Postvorsteher sagte mir auch eine Verwendungsmöglichkeit für Hans im hießigen Postdienst zu. Es ist ja bei Hans so, daß er nicht gegen den Postberuf als solchen erbost ist, sondern gegen den Hitlerjugenddrill seiner Vorgesetzten. Letzteren schreibt man im gemütlichen Ammergau ja ganz klein. Ich hoffe auch, daß er hier ein ganz neues Lebensgefühl bekommen wird. Zuerst die Umwelt, die Berge, dann eine Verantwortung im selbständigen Berufsleben, und dann hoffe ich, daß sein Sinn keine Schulden zu machen, sondern zu sparen und somit langsam etwas zu erreichen, ihm auch seinen Beruf wieder schmackhaft macht. Ich werde alles daran setzen, ihm seinen Beruf zu erhalten, und nur wenn es gar nicht anders geht, soll er in München im Tierpark Hellabrunn die Möglichkeit, als Tierpfleger zu arbeiten, einmal in Augenschein nehmen. Das liegt ihm vielleicht am besten, wenn es nicht eine augenblickliche Jugendneigung ist. Ich halte ihn nämlich trotz allem für den geborenen Postler. Wenn wir ihn nur gut über die nächsten zwei Jahre bringen, dann bleibt er schon in seinem Beruf.“

Oberammergau, 2.2.1957, an Ch. Rumold: „Die Sache mit Siegfried [es ging wohl um den Verkauf einer geschnitzten Figur] kommt mir sehr gelegen. Sie hat nur den Nachteil, daß ich mit der Schnitzausführung nicht zufrieden bin. Es wäre mir recht, wenn Siegfried vorher zum Bildhauer Hartmann hinter der Marienkirche in der [Karlsruher] Südstadt ginge und bei ihm, mit einem Gruß von mir, das Gesicht etwas nachschnitzen ließe, aber höchstens zehn Mark dafür ausgeben soll.“

Heiligabend mit Joseph

"Oberammergau, 20.12.1956 - Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest Euer Papa!"

„Oberammergau, 20.12.1956 – Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest – Euer Papa!“

Oberammergau, 25.12.1956, an Ch. Rumold: „Du mußt mir noch genau schreiben, wann du kommst, damit ich dich abholen kann. Es kann sein, daß du von Murnau aus mit dem Bus fährst, denn nicht alle Züge fahren durch bis nach Oberammergau. […] Das Land ist jetzt ganz weich in Schnee getaucht, vielleicht können wir an Sylvester in Garmisch einem Schispringen zusehen. Es wäre ja schön, könnten wir in einem Hotel oder Gasthaus ein Zimmer nehmen, aber die sind ja so unverschämt teuer. Eine Nacht kommt da mindestens auf zehn bis fünfzehn Mark. Na, beim Joseph werden wir auch gut aufgehoben sein. […] Gestern am heiligen Abend war ich mit Joseph den Tag über in der Werkstatt und als er um sechs weg ging, mußte ich auch bald das Schnitzeisen aus der Hand legen. Es hat wirklich alles seine Grenzen. Nun, ich machte es mir auf zwei Stühlen bequem und lauschte auf die Weihnachtsmusik, auf mein Inneres, und überstand den Abend doch so leidlich gut bis es Zeit war zum Schlafengehen. Heute schnitzte ich den ganzen Tag an einem Christuskopf, aber gegen fünf Uhr war mir doch der Arbeitsgeist ausgegangen und ich ging seit langem wieder mal ins Kino. ‚Santa Lucia‘ mit dem dicken Torriani wurde gegeben. Am Anfang mußte ich mich fast überwinden, wenn das fette Gesicht in Großaufnahme kam aber dann hatte man sich an ihn gewöhnt und er sang auch recht gut.“