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Eine Lektion Kunstgeschichte

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Von links nach rechts: Barbara, Lothar und Christel Rumold, Sommer 1961

Oberammergau, 11.9.1960, an Ch. Rumold: „Es geht mir soweit recht gut, die Frankfurter Messe hat wieder eine Menge Aufträge eingebracht. Allerdings meine moderne Kreuzigungsgruppe ging nicht los. Ich habe wegen meines Abwanderungswunsches auf die Schule, mit meinem Chef gesprochen. Er hat da einen anderen Vorschlag, nämlich, daß ich zu einem unserer besten Heimarbeiter in die Werkstatt soll. Der haut unsere guten großen Figuren aus und unter dessen Augen könnte ich dann für die Firma die großen Sachen schnitzen. Aber der gute Mann war bisher immer alleine und so freundlich er auch auf der Straße ist, ich weiß nicht, ob ihm das recht ist, daß so ein junger Streber zumal neben ihm arbeitet. Er ist 65 Jahre alt. Wenn er nicht will, wäre es mir insofern recht, als daß er zwar gut, aber doch im Jahrhundertwendestil arbeitet. Wogegen die Schule halt vielseitiger ausbildet. Na, ich lasse es mal kommen. Auf jeden Fall mache ich die Christusschnitzerei nicht länger weiter. Das Kameradschaftliche Schlamperleben [in der Werkstatt, L. R.] behagt mir auch nicht mehr ganz. In meinem Lexikon moderner Kunst las ich von Suzanne Valadon: „Sie wurde 1865 in Bessines geboren und starb 1938 in Paris. Das sehr schöne, wie vom Teufel besessene und nicht gerade verschämte Mädchen war eine Zeitlang die Königin der Bälle auf dem Montmartre und Gast in vielen Ateliers. Renoir liebte ihre perlmuttene Haut, Lautrec ihr Gesichtchen, auf dem er im Widerspruch zu ihrer Jugend so etwas wie Traurigkeit entdeckte. Mit 18 Jahren brachte sie ihren unehelichen Sohn Maurice zur Welt, den ein mitleidiger Spanier namens Utrillo adoptierte. Sie hat von sich gesagt, sie habe fieberhaft gearbeitet, nicht um schöne Zeichnungen für die Wand zu schaffen, sondern um einen Augenblick des lebendigen Lebens in seiner ganzen Intensität zu erhaschen. Während ihre Zeichnungen fast ausschließlich Aktdarstellungen waren, für die sie aber nicht sehr oft graziöse Modelle, sondern vielmehr ihr Dienstmädchen nahm, weitete sie in der Malerei den Bereich ihrer Sujets aus und malte nun oft auch Landschaften und Stilleben. In ihren Bildern findet sich dieselbe Ausdruckskraft und dieselbe Schärfe wie in ihren Zeichnungen. Sie hat von Zeit zu Zeit großartige Werke geschaffen. Solche gelangen ihr vor allem, wenn sie ihre Vorliebe für rohe Farben und allzu lebhafte Kontraste zu zügeln verstand.“ – Auweh, Schatz, das war jetzt viel Kunstgeschichte. Hoffentlich gewinnen wir einmal in einer Quizsendung tausend Mark dafür.“

Ein typischer Samstag

Oberammergau, 20.2.1960: „Meine liebe Christl! Es ist mal wieder Wochenende. Im Radio spielt heute ein Wunschkonzert vom österreichischen Rundfunk. Unser Anderl schnitzt hinter mir herum, ein bissel mißgelaunt, weil auch er die stillen Tage fürchtet. Mit seinen 34 Jahren springen ihm die Mädels doch nicht mehr so nach wie er es will, aber ich glaube, er selbst will auch nicht mehr die Flirterei und zum Heiraten kommen ihm immer mehr Bedenken je älter er wird. Außerdem ist er magenkrank. – Ja so ist es wieder ein typischer Samstag. Mein Heimweh fehlt auch nicht.“

Der „Klepper“ wird in den Gemeinderat gewählt

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 28.3.1960: „Es war so ein schöner Tag, daß ich jetzt am späten Abend, wo alles aus der Bude ist, doch noch gerne ein bissel an dich schreiben möchte. Viel gearbeitet wurde ja heute am Montag nicht. Es war viel zu viel Aufregung im Dorf und ein fantastisch schöner blauer Himmel. Schon als ich aufwachte und laut Radiosendung mit schlechtem Wetter rechnete, aber einen blauen Himmel sah, war ich froh. Im Geschäft war dann wenig Betrieb, weil gestern Wahltag war für den Bürgermeister und den Gemeinderat. Unser Josef (Pankratz) und der Chef, Herr Lang, hatten kandidiert. Aber weil noch keine Ergebnisse heraus waren, stand alles diskutierend beieinander auf der Straße und genoß teilweise das schöne Wetter und teilweise die steigenden Chancen von Herrn Lang. Die Spannung lag darin, daß unser schärfster Geschäftskonkurrent bei der Gegenpartei aufgestellt war. Und endlich war es soweit. Unser Gegner, der bisher im Gemeinderat saß, mußte heraus und unser ‚Klepper‘ [Spitzname für Herrn Lang] hatte genug Stimmen, um hinein zu kommen. Da unternahmen wir natürlich gleich einen Firmenausflug ins Grüne. […] Josef kam bei der Wahl nicht durch. Er hatte nicht allzuviel Stimmen bekommen. Ein bissel bin ich schadenfroh, weil er so gerne den Feldwebel spielt.“

Keine Lust auf die Buddenbrooks

Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 27.2.1960: „Es ist schönes Wetter, ja schon ein Hauch von Frühling in der Luft. Wenn es morgen am Sonntag so ist, gehe ich am Nachmittag über den Berg. Sonst bin ich zufrieden im Geschäft mit der Arbeit und in der Schule. Den Film ‚Die Buddenbrooks‘ habe ich mir nicht angesehen. Es liefen beide Teile bei uns. Ich habe ein Vorurteil gegen das Milieu des gehobenen Bürgerstandes mit der Liselotte Pulver und Nadja Tiller. Es wäre vielleicht interessant gewesen, aber ich hatte halt keine Lust am letzten Sonntag. Christl, ich höre jetzt auf zu schreiben. Vielleicht arbeite ich noch ein bissel, es täte mir gut in der nächsten Woche.“

An der Schwelle zum richtigen Bildhauer

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 1.8.1960: „Ich zapple verbissen an der Schwelle zum richtigen Bildhauer und schnitze nun schon vierzehn Tage an einem Riemenschneider-Georg, der mir im Augenblick fast nur Ehre einbringt. Aber diese Achtung brauche ich und ich werde auch einmal schneller an den guten Figuren werden, doch jetzt geht es mir um schöne saubere Arbeit. Vor drei Wochen habe ich eine Maria hingestellt, die zu meinem Glück so gut gelungen war, daß sie von meinem Chef mit seinem Namenszug signiert wurde und einen halben Tag lang im Laden stand und schon verkauft war. Schatz, ich schreibe diese Protzerei, weil ich dir und den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen habe. Wenn wir dein Geld nicht hätten, sähe es arg böse mit unserer Wirtschaft aus. Und doch bin ich in der Arbeit jetzt etwas zufriedener. In den letzten Wochen habe ich immer wieder gedacht, daß ich mit der eigenen Christusschnitzerei niemals ein Meisterniveau erreichen kann. Jetzt geht es ein bissel besser. Es warten zwei gute Aufträge zum Aushauen auf mich, und wenn die wieder hinhauen, hoffe ich, daß ich weiter komme.“

Die hier geäußerten Selbstzweifel meines Vaters und seine Bedenken im Hinblick auf seine Qualifikation als Meister-Schnitzer (nach vier Jahren Oberammergau) waren alles andere als gerechtfertigt. Man sehe sich nur einmal an, wie relativ wenig technisches Können für die Ausführung des (mit der Note „gut“ bewerteten) Meisterstücks dann zwei Jahre später tatsächlich erforderlich war.

Die Spatzen flattern auf dem Dorfe oder: in Karlsruhe verwirrt mich die ganze Stadt

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Die Spatzen (Barbara und Lothar R.) auf dem Dorf (Wälde bei Freudenstadt), Sommer 1960.

Brief aus Oberammergau am 25.8.1960: „Liebe Christl! Vielen Dank für deinen Brief vom Freitag und Montag. Schatz, ich freue mich für dich, wenn du einmal ein paar Tage für dich selbst hast und unsere Spatzen auf dem Dorf herumflattern.“ Das Dorf war damals eines wie es heute nur noch im Buche steht oder zum Beispiel in Rumänien besichtigt werden kann: mit einer notdürftig asphaltierten, so gut wie nicht befahrenen Hauptstraße, mit Hühnern und Hasen hinterm Haus, Gänsen am Bach und einem Plumpsklo ohne Wasserspülung eine halbe Treppe tiefer bzw. höher.

Weiter heißt es im selben Brief: „Christl, es wäre natürlich möglich, daß ich komme und wir mit Siegfried nach Wälde fahren. Aber ich sträube mich bei dem Gedanken, daß wir nur wenig Geld in der Tasche haben. Das peinliche Gefühl dabei habe ich nur zu oft erlebt. Christl, Schatz, bitte mache einmal für dich in Karlsruhe Urlaub, gönne dir am Abend einen Spaziergang ins Café und schlafe am Morgen ein bissel länger. Ich bin ja auch hier von Herzen zufrieden, wenn ich an einem Nachmittag bei schönem Wetter an einem Bache liegen kann. Ein bissel lesen und dann die Berge anschauen und mal ins Wasser – so bin ich glücklich. Jetzt haben wir ja endlich das ersehnte Sommerwetter und alles ist gleich viel besser gelaunt. Am Nachmittag sitzen wir [i. e. die Holzschnitzer der Fa. Lang] da gerne für eine Stunde vor einem der Hotels unter dem Sonnenschirm und lassen uns bedienen als ob wir in Urlaub wären. Ich habe aber auch jetzt so einen netten Kameraden. Er ist unser ‚Aushauer‘ und macht nur die großen Sachen. Er war jetzt vierzehn Tage krank, so daß ich seine Aufträge ausführen konnte. Aber ich kann halt doch nicht das, was er kann, und so muß ich wieder zu meinen Herrgöttlen zurück. Bis ich diese Wahrheit einmal verdaut habe, wird es mich noch manchmal würgen. Es ist halt eine Talentsache, das Bildhauern. Der Toni (das ist der Aushauer) sitzt die meiste Zeit herum und liest einen Roman um den andern. Um die Kunst schert er sich einen Dreck, aber wenn man ihm eine Zeichnung gibt und einen Brocken Holz, dann haut er drauflos und stellt einem die besten Figuren danach hin. Er hat’s halt in sich. Christl, ich möchte hier bleiben und meiner Arbeit nachgehen und zwischendurch mal ein bissel bummeln. In Karlsruhe verwirrt mich die ganze Stadt mit ihren Leuten und ihrem Luxus, den wir uns ja doch nicht leisten können, aber immer vor die Nase gehalten kriegen. Wenn ich alleine bin denke ich gar nicht an das Zeugs und bin so zufrieden.“

Was am schwersten fällt oder: An die Bande gebunden

Aus einem Brief an Ch. Rumold, Oberammergau, 12.11.1960: „Ich würde am liebsten nächstes Wochenende wieder zu dir und den Kindern fahren, aber das geht mit dem Geld natürlich nicht. Ich weiß selbst nicht, wie mir das immer passiert, daß ich jedesmal zwei Wochen brauche, bis ich wieder ins Gleichgewicht mit der Arbeit komme. Doch es wird auch wieder Weihnachten werden. […]  Diese elende Meisterprüfung liegt mir im Magen, aber noch wichtiger ist mir, daß ich mich einmal aufraffe und das Leben hier mit dem Land abschütteln kann, das fällt mir noch schwerer als alles andere. Schatz, du solltest sehen was wir in der Werkstatt für eine gemütliche Ecke gebaut haben mit Hirschgeweih und rohen Stühlen und Tisch. Natürlich haben wir alles schon eingeweiht vorige Woche an einem nebeligen, verschneiten Tag, wo es zum arbeiten zu dunkel und zum Licht anzünden zu hell war. Ich werde von der Bande nur loskommen, wenn ich mich selbständig mit eigenem Geschäft machen kann. Nächste Woche kommt nocheinmal so ein Abend. Unser Toni hat einen Buben bekommen. Heute morgen um halb sieben. Als ich in die Werkstatt kam, saß er ganz zerschlagen da.“

„Ich habe fest vor, mich hier zäh und fleißig hochzuarbeiten.“

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 24.11.1956: „Meine liebe Christl! Es ist Samstagabend und nur der Josef sitzt bei mir in der Werkstatt und schnitzt seine schönen Christuskörper. Heute habe ich um zwölf Uhr meine Eisen weggelegt und bin in mein Zimmer, um mal ein bissel zu schlafen. […] Ich hatte es nötig, denn es wird nahezu jeden Abend zwölf oder ein Uhr bis ich aus der Werkstatt komme. Ich fühle mich halt wirklich wohl und mein Hunger zu lernen ist unersättlich. Es macht mir viel Freude, an meinen Arbeiten zu sehen, wie sie von Stück zu Stück besser werden. Manchmal werde ich ja ungeduldig, wenn ich an einer bestimmten Körperstelle, z. B. gerade an den Rippen, einfach nicht unter einer Stunde fertig werde und die anderen schnitzen so schnell darüber hinweg. Allerdings kann man den Brustkasten dann auch ansehen, das entschädigt mich wieder. Um fünf Uhr werde ich müde und das Eisen legt keinen richtigen Schnitt mehr hin, dann gehe ich hinaus aus der Werkstatt und schnappe auf einem schönen Waldweg frische Luft und wenn ich etwas verzagt bin, weil es mir noch nicht schnell genug geht, so geben mir die Berge mit ihrem großen Anblick immer wieder neue Arbeitsfreude. Ich stehe noch immer auf 75 Mark in der Woche. Das ist aber brutto und ausbezahlt bekomme ich 66,66. In einer Woche komme ich bestimmt um einen Christus höher, daß ich dir sechzig Mark in der Woche schicken kann. […] Wir, d. h. gerade unser Geschäft braucht dringend neue Modelle. Wir waren noch vor einigen Jahren das führende Geschäft in Oberammergau, wurden aber von einem lebendigen Meisterbetrieb überholt. Der Andere bringt immer neue Gedanken ins Holz und wenn sie auch nicht besonders geistreich sind, so bieten sie doch der Kundschaft eine reiche Auswahl, für jede Gelegenheit das Passende zu schenken. Ich habe fest vor, mich hier zäh und fleißig hochzuarbeiten. Zum Glück verstehe ich mich bis jetzt mit allen Leuten sehr gut und will’s auch so weiter halten. […] Bei aller Vielzahl der Gedankengänge kommt immer wieder meine große Liebe zu dir und dem Buben und eine andere Liebe zu der Arbeit als Holzbildhauer durch. Ich weiß, daß beides unauslöschlich in mir lebt und hoffe, daß die Zeit auch Rat mit sich bringt.“

Purzelbäume zwischen Publikumsgeschmack und Lehrmeinung

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 16.1.1962 „Im Geschäft bereiten wir uns wieder auf die Frankfurter Frühjahrsmesse vor. Dafür habe ich wieder viel Arbeit und Herr Lang spricht gerne mit mir über neue Formen in der modernen Art. Leider kann ich wirklich nicht aus eigenen Ideen allein Neues schaffen, aber wir suchen gemeinsam nach einigen guten Formen und sind uns dabei ziemlich einig. Anders sah es in der Schule aus. Herr Huber will ganz andere Formen. Eine entschieden geschlossene Bildhauerarbeit. Streng in den Gesetzen eines Baumes und gewonnenen Kunstgesetzen. Aber da setzt es bei mir genauso aus. Obwohl, das Letztere ist mir lieber, aber ohne Lehrergehalt und ohne Genius muß ich mich halt doch nach dem Kitschgeschmack beugen. […] Christl, so geht es halt purzelbaumschlagenderweise weiter.“

Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da – der Anfang in Oberammergau

Brief aus Oberammergau (Kleppergasse 10, bei Familie Strauß) vom 2.11.1956: „Meine liebe Christl! Sicherlich wartest du schon lange auf einen Brief von mir, aber es war diesmal ausnahmsweise keine Schreibfaulheit von mir, die mich nicht zum Schreiben kommen ließ. Ich muß vorerst noch schnitzen und nochmals schnitzen, um einigermaßen bei diesen routinierten Herrgottschnitzern mitzukommen. Aber ich komm jetzt schon auf 75 Mark in der Woche und hoffe in zwei bis drei Monaten wie die Andern meine hundert Mark verdienen zu können. Von der schönen Landschaft bekomme ich dabei vorerst noch nicht viel zu sehen, aber dafür um so mehr von seinen Bewohnern zu hören. Doch Liebe, vielleicht erzähle ich mal von Anfang an, wie es mir ging. Na, die Eisenbahnfahrt über München war regnerisch und trübe. In Murnau, der zweiten und letzten Umsteigestelle, fuhr ein Bus die Reisenden die letzten zwanzig Kilometer durch das tief verschneite Land bis Oberammergau. Ich hatte mal wieder Kopfschmerzen und steuerte mit meinen beiden Koffern gleich ins nächste Gasthaus. Übrigens hat mich ein leichtes dußliges Gefühl im Kopf bis heute noch nicht verlassen. – Ja ich nahm gleich ein Zimmer für eine Nacht, ging aber am Abend noch einige Meister besuchen. Arbeit war überall, nur kein Platz. Bis ich dann ins älteste und bekannteste Verlagshaus mit Werkstätten, dem ‚Lang selig Erben‘ kam, wo ich auch angenommen wurde. Ich glaube, es war der beste Griff den ich machen konnte, denn mittlerweile habe ich gesehen, daß jede anfallende Bildhauerarbeit in Holz bei uns ausgeführt wird. Das Geschäft hat fünf bis sechs große Werkstätten, in denen die einen Christusfiguren, die anderen Madonnen, wieder andere Altäre oder auch schöne Grabmäler oder profane Schnitzereien, also alles das, was ich lernen oder zumindest näher kennenlernen möchte, ausführen. Und schnitzen können die Leut das ist zum Staunen. Ja und dann kam der Dienstag, an dessen Abend mir der Meister sagte, daß ich bleiben könne. Er gab mir auch eine Adresse wo ich schlafen könne und so zog ich gleich um. Meine Wirtin sieht so aus wie Frau Bauer in Bulach. In meinem Zimmer schläft noch ein junger Mann mit dem ich mich schon gut verstehe. Er ist aus dem Rheinland und auch Schnitzer, aber das Beste an ihm ist, daß er hier eine Braut hat, bei der er schlafen kann, wenn du zu mir kommen kannst. Meine Kollegen sind Leute in meinem Alter außer einem vierzig und einem sechzig Jahre alten Arbeiter. Es gibt viel Gaudi während der Arbeit, das Radio spielt dazu und manchmal ist [es] ein bissel zu arg. Aber das ist nicht schlimm. Wir sitzen alle beim Schnitzen, also geht es nicht wie in Karlsruhe, daß das Holz in die Hobelbank eingespannt wird, sondern man hält den Herrgott in der Hand und bearbeitet ihn mit dem Schnitzmesser und nur sparsam mit den Eisen. Das war natürlich für mich ganz neu und ist noch eine große Umstellung, aber viel bequemer. Ja ich habe gemerkt, daß es auch schneller und sauberer geht. Die ‚Buam‘ kommen und gehen, wann sie wollen und es wird schon neun, halb zehn Uhr am Abend bis der Letzte sein ‚Pfürdi‘ sagt. Sonntags oder feiertags, wie gestern, wird nach der Kirche schön weiter geschnitzelt bis zum Nachmittag. Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da und die Frauen manchmal auch dabei. Wenn da das Verhältnis untereinander nicht so freundschaftlich wäre und von jedem eine Gemütlichkeit ausstrahlen tät, nachher wär’s eine Plage. Aber so kann ich es gut aushalten. Ja mein Herz, so nimmt eine Sehnsucht nach dir und eine Freude an der Arbeit, halt, der Lothar ist auch noch da, meine Seele ein. Ich bin in Gedanken fast immer bei dir und dem Buben und bin glücklich, wenn ich dich wieder in den Arm nehmen darf und Lothar spazieren führen kann. Es ist jetzt Freitagabend, hoffentlich liegst du schon im Bett, es geht auf zwölf. Träum was schönes von uns und laß dich vielmals grüßen und küssen von deinem Berthold. Viele liebe Grüße und Küsse an Lothar. Viele Grüße an Mutti und Siegfried.“

mitgiesskanne1957

„halt, der Lothar ist ja auch noch da“ (etwa ein halbes Jahr später, im Sommer 1957)