Oberammergau, 20.2.1960: „Meine liebe Christl! Es ist mal wieder Wochenende. Im Radio spielt heute ein Wunschkonzert vom österreichischen Rundfunk. Unser Anderl schnitzt hinter mir herum, ein bissel mißgelaunt, weil auch er die stillen Tage fürchtet. Mit seinen 34 Jahren springen ihm die Mädels doch nicht mehr so nach wie er es will, aber ich glaube, er selbst will auch nicht mehr die Flirterei und zum Heiraten kommen ihm immer mehr Bedenken je älter er wird. Außerdem ist er magenkrank. – Ja so ist es wieder ein typischer Samstag. Mein Heimweh fehlt auch nicht.“
Schlagwort-Archiv: die Briefe
Der „Klepper“ wird in den Gemeinderat gewählt
Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 28.3.1960: „Es war so ein schöner Tag, daß ich jetzt am späten Abend, wo alles aus der Bude ist, doch noch gerne ein bissel an dich schreiben möchte. Viel gearbeitet wurde ja heute am Montag nicht. Es war viel zu viel Aufregung im Dorf und ein fantastisch schöner blauer Himmel. Schon als ich aufwachte und laut Radiosendung mit schlechtem Wetter rechnete, aber einen blauen Himmel sah, war ich froh. Im Geschäft war dann wenig Betrieb, weil gestern Wahltag war für den Bürgermeister und den Gemeinderat. Unser Josef (Pankratz) und der Chef, Herr Lang, hatten kandidiert. Aber weil noch keine Ergebnisse heraus waren, stand alles diskutierend beieinander auf der Straße und genoß teilweise das schöne Wetter und teilweise die steigenden Chancen von Herrn Lang. Die Spannung lag darin, daß unser schärfster Geschäftskonkurrent bei der Gegenpartei aufgestellt war. Und endlich war es soweit. Unser Gegner, der bisher im Gemeinderat saß, mußte heraus und unser ‚Klepper‘ [Spitzname für Herrn Lang] hatte genug Stimmen, um hinein zu kommen. Da unternahmen wir natürlich gleich einen Firmenausflug ins Grüne. […] Josef kam bei der Wahl nicht durch. Er hatte nicht allzuviel Stimmen bekommen. Ein bissel bin ich schadenfroh, weil er so gerne den Feldwebel spielt.“
Keine Lust auf die Buddenbrooks
Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 27.2.1960: „Es ist schönes Wetter, ja schon ein Hauch von Frühling in der Luft. Wenn es morgen am Sonntag so ist, gehe ich am Nachmittag über den Berg. Sonst bin ich zufrieden im Geschäft mit der Arbeit und in der Schule. Den Film ‚Die Buddenbrooks‘ habe ich mir nicht angesehen. Es liefen beide Teile bei uns. Ich habe ein Vorurteil gegen das Milieu des gehobenen Bürgerstandes mit der Liselotte Pulver und Nadja Tiller. Es wäre vielleicht interessant gewesen, aber ich hatte halt keine Lust am letzten Sonntag. Christl, ich höre jetzt auf zu schreiben. Vielleicht arbeite ich noch ein bissel, es täte mir gut in der nächsten Woche.“
Ehrfurcht vor dem Augenblick
Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 23.4.1960: „Meine liebe Christl, ich habe mich so gefreut, als ich heute deinen lieben Brief gelesen habe. Es geht mir im Geschäft gut. Es ginge mir aber noch besser, wenn ich nicht so gute Kameraden hätte, die sich im Laufe des Jahres so allerhand einfallen lassen. Heute z. B. hat unser Toni geheiratet in der Ettaler Kirche. Es war ja sehr schön, nur an meine liegengebliebene Arbeit darf ich nicht denken. Aber es hat mir wirklich gut gefallen mit meinen sieben Kumpels in der Kirchenbank zu stehen, sitzen, knien, grad wie es die meisten von uns machen, so tun die andern auch. An Gott denkt dabei kaum jemand, aber wenn der Pfarrer vorne ein paar mahnende Worte an das Brautpaar richtet und die Orgel so schön spielt, hat man eine bestimmte Ehrfurcht vor dem Augenblick. Es ist doch die Liebe sichtbar geworden. – Schatz, ich denke so gerne an unsere Ostertage zurück, an unseren Kaffeetisch am Samstag und Sonntagmorgen, wie Lothar und Barbara so quicklebendig auf dem Sesselstuhl herumturnten. Ach, wir sind doch eine glückliche Familie. Ich bin verliebt in meine Kinder und vor allem in dich, Christl.“
Dazu ergänzend aus einem zwei Tage zuvor geschriebenen Brief: „Es war sehr schön bei dir und unseren Kindern. Vor allem habe ich mich über Lothar gefreut, denn um sein Herz hatte ich immer ein bissel Bange.“ Hier geht es nicht um das Herz im physischen, sondern gewissermaßen im metaphysischen Sinn. Das Getrenntleben ab Ende 1956 (im April 1960 seit ca. dreieinhalb Jahren) war offenbar meinerseits cordial nicht ohne Folgen geblieben. Wenn man bedenkt, dass die Ehepartner nicht häufiger als ungefähr dreimal im Jahr zusammenkamen (und dann immer nur für ein paar Tage) grenzt es an ein Wunder, dass anscheinend nur die Vater-Sohn-Beziehung emotional besorgniserregend war.
Jetzt hoffen wir halt, dass es mit mir einmal besser wird
Aus einem Brief an Ch. Rumold – Oberammergau, 9.1.1961: „Den Mantel, den ich für dich machen ließ, habe ich schon drei Wochen in meinem Schrank hängen. Er war eine grausige Enttäuschung in Farbe und Schnitt. Ich hatte ein zartes Weinrot ausgesucht. Es ist ein grausiges Grau geworden. Der Schnitt ist ja einfach, aber der Kragen so eckig und unweiblich, nicht ein bissel modern gefällig – und dafür muß ich noch 150 Mark zahlen. So schlaue Sachen mache ich am laufenden Band. Wenn ich wenigstens daraus lernen würde; aber da habe ich wenig Hoffnung. Sonst bin ich wenigstens gesund, ich gehe gerne mit meinen Schi einen Berg hinauf und puste mich dabei gründlich aus und fahre dann einen gemütlichen Weg hintenrum herunter. Das Wetter ist heut‘ Morgen immer ein bissel unter und etwas über dem Gefrierpunkt. Schneien tut es oft. Zum Schilaufen ist das recht schön. Wenn ich es nur ein bissel besser könnte, nur zu oft muß ich im Hochwald vor einem Baum die Notbremse ziehen, d.h. mich grad auf den Hintern setzen, bevor ich in einen Baum sause. Aber es geht doch von mal zu mal besser und schön ist es immer in der verschneiten Stille, wenn nur das Wild in gemessenem Abstand an einem vorbeizieht, oder verhoffend von oben herab auf einen lugt. Gestern bekam ich fast Angst vor einem großen Hirsch, der nicht aus dem Weg ging (ich kam gegen den Wind ganz still herangeschlittert er sah mich nicht beim Äßen und hörte nichts). – Am Abend sah ich O. W. Fischer in ‚Scheidungsgrund Liebe‘. Er hat sich da ein bissel arg in Szene gestellt und überflüssige „Boulevard-Milieus“ waren auch genug drin. Schade, es war so nett, wie er den Köder selbst bezahlen mußte (ein Fisch) mit dem er ‚geangelt‘ wurde. Christl, Schatz, jetzt hoffen wir halt, daß es mit mir einmal besser wird.“
Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen
Brief an Ch. Rumold, Oberammergau, 30.4.1960: „In der Arbeit geht es zur Zeit sehr gut. Meine modernen Entwürfe machen sich immer mehr bezahlt, denn die einfachen Formen sind schnell zu schnitzen und gehen jetzt so gut los, daß der Künstlerspleen in mir schon beinahe beleidigt ist, weil der sich vor dem Beifall der Masse fürchtet. Aber wenn ich, wie es mir am Freitag gelang, in acht Stunden neunzig Mark verdienen kann, ist mir doch wohler als das Hungerkünstlerleben. Die übliche Schwarzarbeit mit Grünewalds ist mir schon nicht mehr rentabel, weil ich dabei viel zu sorgfältig bin und viel Zeit verliere. Wenn nur die Steuern nicht so hoch wären, geht es nämlich über die Hundert-Grenze, dann zahle ich Abgaben, daß mir’s graust. Gestern bekam ich auch endlich mein modernes Relief fertig. Die Hochzeit am vergangenen Wochenende ließ mich doch nicht zur Arbeit kommen und unter der Woche hatte ich keine rechte Lust und genug andere Arbeit zu erledigen. Ich bin aber zufrieden wie es jetzt geworden ist. Es wurde eine schöne klare Darstellung des Gespräches auf Golgatha zwischen Jesus und seiner Mutter mit dem hilflosen Johannes, der still dabei steht und alles nicht begreifen kann. Für die Modellierstunden am Dienstag habe ich einen neuen Gedanken von einem Abendmahl. Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen mit Johannes in seinem Schoße. Im oberen Kreisbogen verteile ich die zehn Jünger hinter Christus und unten steht allein Judas, dem der Kelch gereicht wird. Es ist für mich das große Problem des Ausgestoßenwerdens. Judas muß gegen die zehn Jünger soviel Spannung ausstrahlen, daß er diese aufwiegt. – In München ist doch noch immer die Gauguin-Ausstellung. Zu gerne möchte ich mir diese anschauen, denn die Eindrücke, die so ein Genie auf mich macht, sind mir wichtig.“
Glücklich im begrenzten Raum
Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 30.1.1960: „Die Arbeit war gut und beinahe wäre ich stolz gewesen auf hundert Mark, wenn ich mich nicht ab und zu an die Gehälter anderer Leute erinnerte. Doch ich bin während der Arbeit ganz zufrieden, sogar glücklich im begrenzten Raum.“

In den Ammergauer Bergen, ca. 1960, Originalabzug 83 x 56 mm
An der Schwelle zum richtigen Bildhauer
Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 1.8.1960: „Ich zapple verbissen an der Schwelle zum richtigen Bildhauer und schnitze nun schon vierzehn Tage an einem Riemenschneider-Georg, der mir im Augenblick fast nur Ehre einbringt. Aber diese Achtung brauche ich und ich werde auch einmal schneller an den guten Figuren werden, doch jetzt geht es mir um schöne saubere Arbeit. Vor drei Wochen habe ich eine Maria hingestellt, die zu meinem Glück so gut gelungen war, daß sie von meinem Chef mit seinem Namenszug signiert wurde und einen halben Tag lang im Laden stand und schon verkauft war. Schatz, ich schreibe diese Protzerei, weil ich dir und den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen habe. Wenn wir dein Geld nicht hätten, sähe es arg böse mit unserer Wirtschaft aus. Und doch bin ich in der Arbeit jetzt etwas zufriedener. In den letzten Wochen habe ich immer wieder gedacht, daß ich mit der eigenen Christusschnitzerei niemals ein Meisterniveau erreichen kann. Jetzt geht es ein bissel besser. Es warten zwei gute Aufträge zum Aushauen auf mich, und wenn die wieder hinhauen, hoffe ich, daß ich weiter komme.“
Die hier geäußerten Selbstzweifel meines Vaters und seine Bedenken im Hinblick auf seine Qualifikation als Meister-Schnitzer (nach vier Jahren Oberammergau) waren alles andere als gerechtfertigt. Man sehe sich nur einmal an, wie relativ wenig technisches Können für die Ausführung des (mit der Note „gut“ bewerteten) Meisterstücks dann zwei Jahre später tatsächlich erforderlich war.
Die gute böse Frau wird achtzig
Aus einem Brief an Ch. Rumold vom 16.5.1959 aus Oberammergau: „Heute Abend nehme ich meine Wirtin mit ins Kino. Die gute böse Frau wurde dieser Tage achtzig Jahre. Das ganze Dorf hat sie beschenkt und sie ist glücklich, weil doch jeder ihre scharfe Zunge fürchtet und ihr trotzdem eine mehr oder weniger große Geburtstagsfreude gemacht hat. Der Film heißt: Die Zehn Gebote. Es wird ein so theatralisches Gespiele sein wie die Passion.“
Die Berge strahlten in glitzerndem Schnee
Kunstkarte aus Oberammergau am 10.11.1960: „Mein lieber Lothar! Ich möchte dir einen lieben Gruß beilegen. Auf der Bildseite ist Maria mit dem Jesuskind zu sehen. Warum der Josef den Stock hoch hält, weiß ich nicht. Sicher gibt er acht, daß niemand dem Kindlein und seiner Mama etwas tut. Lothar, wie geht es dir und Barbara? Schade, daß du bei dem schönen Wetter nicht hier sein kannst. Unsere Berge strahlen in glitzerndem Schnee bei dem schönen Wetter. Leider geht’s halt nicht immer wie man will. Jetzt sende ich dir, Barbara, Mama, Oma und O. Siegfried viele liebe Grüße – dein Papa.“

Gerard David (1460-1523): Die Heilige Familie bei der Rast auf der Flucht nach Ägypten
Wenn es nicht die Grenze zum Blasphemischen berühren würde, könnte einem in den Sinn kommen, dass die von Gerard David so schön ins Bild gesetzte Szene auf gewisse Grundzüge der damaligen Situation der Familie Rumold verweist: Mutter und Kind(er) in sphärisch geschlossener Zwei- bzw. Dreisamkeit, während der nominelle Vater durch Abwesenheit glänzt und in einiger Entfernung unverständliche Dinge treibt.