Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da – der Anfang in Oberammergau

Brief aus Oberammergau (Kleppergasse 10, bei Familie Strauß) vom 2.11.1956: „Meine liebe Christl! Sicherlich wartest du schon lange auf einen Brief von mir, aber es war diesmal ausnahmsweise keine Schreibfaulheit von mir, die mich nicht zum Schreiben kommen ließ. Ich muß vorerst noch schnitzen und nochmals schnitzen, um einigermaßen bei diesen routinierten Herrgottschnitzern mitzukommen. Aber ich komm jetzt schon auf 75 Mark in der Woche und hoffe in zwei bis drei Monaten wie die Andern meine hundert Mark verdienen zu können. Von der schönen Landschaft bekomme ich dabei vorerst noch nicht viel zu sehen, aber dafür um so mehr von seinen Bewohnern zu hören. Doch Liebe, vielleicht erzähle ich mal von Anfang an, wie es mir ging. Na, die Eisenbahnfahrt über München war regnerisch und trübe. In Murnau, der zweiten und letzten Umsteigestelle, fuhr ein Bus die Reisenden die letzten zwanzig Kilometer durch das tief verschneite Land bis Oberammergau. Ich hatte mal wieder Kopfschmerzen und steuerte mit meinen beiden Koffern gleich ins nächste Gasthaus. Übrigens hat mich ein leichtes dußliges Gefühl im Kopf bis heute noch nicht verlassen. – Ja ich nahm gleich ein Zimmer für eine Nacht, ging aber am Abend noch einige Meister besuchen. Arbeit war überall, nur kein Platz. Bis ich dann ins älteste und bekannteste Verlagshaus mit Werkstätten, dem ‚Lang selig Erben‘ kam, wo ich auch angenommen wurde. Ich glaube, es war der beste Griff den ich machen konnte, denn mittlerweile habe ich gesehen, daß jede anfallende Bildhauerarbeit in Holz bei uns ausgeführt wird. Das Geschäft hat fünf bis sechs große Werkstätten, in denen die einen Christusfiguren, die anderen Madonnen, wieder andere Altäre oder auch schöne Grabmäler oder profane Schnitzereien, also alles das, was ich lernen oder zumindest näher kennenlernen möchte, ausführen. Und schnitzen können die Leut das ist zum Staunen. Ja und dann kam der Dienstag, an dessen Abend mir der Meister sagte, daß ich bleiben könne. Er gab mir auch eine Adresse wo ich schlafen könne und so zog ich gleich um. Meine Wirtin sieht so aus wie Frau Bauer in Bulach. In meinem Zimmer schläft noch ein junger Mann mit dem ich mich schon gut verstehe. Er ist aus dem Rheinland und auch Schnitzer, aber das Beste an ihm ist, daß er hier eine Braut hat, bei der er schlafen kann, wenn du zu mir kommen kannst. Meine Kollegen sind Leute in meinem Alter außer einem vierzig und einem sechzig Jahre alten Arbeiter. Es gibt viel Gaudi während der Arbeit, das Radio spielt dazu und manchmal ist [es] ein bissel zu arg. Aber das ist nicht schlimm. Wir sitzen alle beim Schnitzen, also geht es nicht wie in Karlsruhe, daß das Holz in die Hobelbank eingespannt wird, sondern man hält den Herrgott in der Hand und bearbeitet ihn mit dem Schnitzmesser und nur sparsam mit den Eisen. Das war natürlich für mich ganz neu und ist noch eine große Umstellung, aber viel bequemer. Ja ich habe gemerkt, daß es auch schneller und sauberer geht. Die ‚Buam‘ kommen und gehen, wann sie wollen und es wird schon neun, halb zehn Uhr am Abend bis der Letzte sein ‚Pfürdi‘ sagt. Sonntags oder feiertags, wie gestern, wird nach der Kirche schön weiter geschnitzelt bis zum Nachmittag. Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da und die Frauen manchmal auch dabei. Wenn da das Verhältnis untereinander nicht so freundschaftlich wäre und von jedem eine Gemütlichkeit ausstrahlen tät, nachher wär’s eine Plage. Aber so kann ich es gut aushalten. Ja mein Herz, so nimmt eine Sehnsucht nach dir und eine Freude an der Arbeit, halt, der Lothar ist auch noch da, meine Seele ein. Ich bin in Gedanken fast immer bei dir und dem Buben und bin glücklich, wenn ich dich wieder in den Arm nehmen darf und Lothar spazieren führen kann. Es ist jetzt Freitagabend, hoffentlich liegst du schon im Bett, es geht auf zwölf. Träum was schönes von uns und laß dich vielmals grüßen und küssen von deinem Berthold. Viele liebe Grüße und Küsse an Lothar. Viele Grüße an Mutti und Siegfried.“

mitgiesskanne1957

„halt, der Lothar ist ja auch noch da“ (etwa ein halbes Jahr später, im Sommer 1957)