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Hände hoch, ich bringe Ihnen einundsiebzig Mark!

Mein Vater schickte meiner Mutter während der sechs Jahre (1956-1962), in denen er in Oberammergau bei Lang selig Erben als Schnitzer arbeitete, wöchentlich Geldbeträge zwischen vierzig und hundert Mark. In der Regel steckte er wohl die Scheine einfach mit in den Briefumschlag, gelegentlich tragen die Briefe am unteren Rand Vermerke wie „anb. 70,- DM“. Ein sicherer, wenn auch mit zusätzlichen Kosten verbundener Weg des Geldtransfers wäre die Zustellung per Geldbriefträger gewesen. Bis 1987 trugen diese „Geldboten der deutschen Bundespost“ (so die offizielle Bezeichnung) Pistolen bei sich, um im Fall der Fälle die Rente oder Postanweisung gegen etwaige Wegelagerer verteidigen zu können. Geldbriefträger gab es immerhin bis April 2002, nach 1987 waren sie allerdings nur noch mit Mobiltelefonen bewaffnet.

Oberammergau, 23.3.1957, an Ch. Rumold: „Unser Bub steht oft genug deutlich vor mir, der kleine Spatz. Wirf ihm bitte die eine Mark über den siebzig in seine Kasse. Ich habe das Geld diesmal einbezahlt, bin aber nicht ganz zufrieden, weil dieser Weg fünfzig Pfennige kostet, mit denen ich gerne etwas anderes angefangen hätte. Ich glaube, das nächste Geld schicke ich wieder im Brief. Heute am Samstag hatte ich einen richtigen Arbeitseifer, ganz im Gegensatz zum letzten. Es macht mir auch jetzt immer mehr Spaß, weil die Arbeit immer leichter von der Hand geht. Lieb, sag doch Herrn Geier, daß ich ihm eine geschnitzte Schachfigurenserie besorgen kann. Ich selbst könne sie leider nicht schnitzen, da ich dringend anderen Aufträgen nachkommen müsse. Die Preise liegen bei dreihundert Mark ohne Brett. Es sind das recht nett geschnitzte Figuren, aber eben auch teuer. Billiger sind sie in der Ausführung nirgendwo, denn das Zeug geht weg wie warme Semmeln. Es sind auch immerhin 32 Einzelfiguren.
Sonst bin ich wirklich zufrieden. Meine Kumpels werden mir immer lieber und die Arbeit leichter. Jetzt ist bei uns die große Zeit des ‚Hornsuchens‘. Horn sind Geweihe der Hirsche. Die werfen jetzt im März ab und die Kerle sind dahinter her, als wären sie aus Gold, dabei flacken sie bald in irgendeiner Zimmerecke, um zu verstauben. Aber es ist nicht erlaubt, diese Apparate zu behalten und so bieten sie eine anreizende Gelegenheit, den Jägern zu beweisen, daß sie Schlafmützen seien: bis die aufsehen ham mia Buam schon längst die Horn dahoam. Ja, und dann weiß ich jetzt auch, daß am 24. März die ersten Schwalben kommen und die Frösche schon da sind. Es gefällt mir ganz gut, wie die Kumpels das Jahr kennen und zu jeder Zeit ihre besonderen Ereignisse haben.“

Fastnachtsstimmung schon Ende Januar

Oberammergau, 26.1.1957: „Meine liebe Christl! Über deinen lieben Brief habe ich mich sehr gefreut und sage dir vielen Dank dafür. Lieb, hoffentlich bekomme ich heute Abend einen einigermaßen lesbaren Brief zusammen, bin ein bissel arg müd. Und habe mich doch so sehr über deine Erzählung von unserem Buben gefreut. Grad letzte Woche begegnete ich auf einem Frischluftschnappgang am Kofelweg einer Schulklasse von rotbackigen Buben und bei ihrem Anblick kam mir ein Wunsch, den du mir jetzt aber nicht als neue Schwärmerei verübeln darfst, denn es war nur ein kurzer Wunsch. Weißt du, wenn ich einmal meine Meisterprüfung habe, es müßte doch gehen, daß man in Abendkursen das Abitur nachholen könnte und vielleicht einmal als Zeichenlehrer an einer Realschule ankommen könnte. Das wäre doch schöner als sich mit hinterlistigen Geschäftsleuten herumärgern zu müssen. – Aber lassen wir das jetzt noch schlafen und steuern in einer fröhlichen Werkstatt erst einmal der Meisterprüfung entgegen. Es herrscht schon eine richtige Fastnachtstimmung unter unseren Kerlen. Keiner hat mehr einen Arbeitsgeist und wenn ein Fremder in der vergangenen Woche zu uns hereingeschaut hätte, der hätte hier alles vermutet nur keine Schnitzerwerkstatt. Drei spielen fast ständig Skat, andere haben sich einen Schießstand hergerichtet, weil einer ein Gewehr selbst gebaut hat und zwischendurch wird mit primitivster Kostümierung, bestehend aus einer langen Papnase mit Schnurrbart und sechs, sieben verschiedenen Hüten und Mützen, eine Varietéschau geboten, daß man, ob man will oder nicht, lachen muß bis der Bauch weh tut. Das Radio mit seinem tuttifrutti Rock and Roll bietet natürlich das denkbar beste Sprungbrett für diese Schlauheiten. Aber ich freue mich doch über die Lebensfreude meiner Kumpels. Wir haben die denkbar beste Belegschaft. Unser guter Josef mußte in letzter Zeit schon was herhalten mit seinem Alter von vierzig Jahren. Da läuft doch gerade der Schlager, in dem es heißt: ‚… und von der Kirch und den alten Leut, da geht a Segen aus.‘ Wenn Sepp nun wegen irgendeiner kleinen Sache klagt, bekommt er das zu hören. ‚Aber wartets nur, wenn i amol nimma komm, nachher schaugts drein‘.“

Alle Wege führen nach Oberammergau

Ende Oktober 1956 war mein damals siebenundzwanzigjähriger Vater mit seinem nur wenig älteren Bruder Günther mit dem Auto unterwegs im Voralpenland – wohl um die Landschaft in Augenschein zu nehmen, deren Teil mein Vater nun werden sollte. Denn wenig später arbeitete er schon für Lang selig Erben in Oberammergau als Holzschnitzer. Die Ansichtskarte stammt vom 22.10.1956, von meinem Vater irrtümlich mit 1957 datiert. Konnte er es damals schon kaum erwarten, wieder nach Karlsruhe zu seiner Familie zurück zu kehren? Obwohl die Jahre im Ammergau einmal die glücklichsten seines Lebens gewesen sein würden?

"Garmisch, 22.10.1956 - man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold

An Ch. Rumold: „Garmisch, 22.10.57 – Herz! Man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold“

Heiligabend mit Joseph

"Oberammergau, 20.12.1956 - Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest Euer Papa!"

„Oberammergau, 20.12.1956 – Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest – Euer Papa!“

Oberammergau, 25.12.1956, an Ch. Rumold: „Du mußt mir noch genau schreiben, wann du kommst, damit ich dich abholen kann. Es kann sein, daß du von Murnau aus mit dem Bus fährst, denn nicht alle Züge fahren durch bis nach Oberammergau. […] Das Land ist jetzt ganz weich in Schnee getaucht, vielleicht können wir an Sylvester in Garmisch einem Schispringen zusehen. Es wäre ja schön, könnten wir in einem Hotel oder Gasthaus ein Zimmer nehmen, aber die sind ja so unverschämt teuer. Eine Nacht kommt da mindestens auf zehn bis fünfzehn Mark. Na, beim Joseph werden wir auch gut aufgehoben sein. […] Gestern am heiligen Abend war ich mit Joseph den Tag über in der Werkstatt und als er um sechs weg ging, mußte ich auch bald das Schnitzeisen aus der Hand legen. Es hat wirklich alles seine Grenzen. Nun, ich machte es mir auf zwei Stühlen bequem und lauschte auf die Weihnachtsmusik, auf mein Inneres, und überstand den Abend doch so leidlich gut bis es Zeit war zum Schlafengehen. Heute schnitzte ich den ganzen Tag an einem Christuskopf, aber gegen fünf Uhr war mir doch der Arbeitsgeist ausgegangen und ich ging seit langem wieder mal ins Kino. ‚Santa Lucia‘ mit dem dicken Torriani wurde gegeben. Am Anfang mußte ich mich fast überwinden, wenn das fette Gesicht in Großaufnahme kam aber dann hatte man sich an ihn gewöhnt und er sang auch recht gut.“

Stille im Wechsel mit Poltern und Gaudimachen

Oberammergau, 17.11.1956, an Ch. Rumold: „Es macht mir die Arbeit viel Freude. Ich komme jetzt auch so nach und nach in die Schnitzweise der anderen Schnitzer hinein. Nur geht es mir noch viel zu langsam. Mit unserem Vorarbeiter, dem schon genannten jungen Mann, verstehe ich mich auch gut. Gestern saßen wir noch bis spät in die Nacht über einer Arbeit, wobei ich mit Freuden sehr viel lerne. Die anderen Kumpels bleiben alle mehr oder weniger derb wie es halt so ihre Art ist. Sie gehen gerne ins Wirtshaus. Sonntags bestimmt und unter der Woche mindestens einmal. Am nächsten Tag sitze ich dann mit Herrn Pankratz und unserem siebzigjährigen Opa in wohltuender Stille alleine in der Werkstatt. Dann holen wir auch im Radio die Musik oder Sendung, welche uns gefällt. Aber am folgenden Tag, wenn alle wieder da sind ist das Poltern und Gaudimachen dann um so größer. Es ist halt was arges wenn man so empfindlich ist. Das Wetter war bei uns in der letzten Zeit auch nicht gerade schön. Im Dorf ist der Schnee geschmolzen und der Nebel hängt oft den ganzen Tag zwischen den Bergen und kann nicht abziehen. Werden aber die Berge frei, dann sieht man wie in einer bestimmten Höhe der Wald weiß wird, wo also die Kältegrenze liegt. Ich hab einmal in einem Ganghoferbuch davon gelesen, daß das Frühjahr genau am Berg gezeichnet war. Das heißt, oben auf den Gipfeln lag Schnee. Etwas tiefer wurde der Wald schwarz bis unten am Bauernhof die Blumen blühten. Ach ja, du hast nach dem Hof von meiner Großmutter gefragt. Nein, ich war noch nicht dort. Uffing heißt das Dorf. Na, mal sehen, vielleicht wenn der Winter vorbei ist, schau ich mal hin.“

Der vaterlose Vater des vaterlosen Sohnes macht sich Gedanken über Vaterlosigkeit

Oberammergau, 10.11.1956: „Meine liebe Christl! Für deine beiden lieben Briefe und das süße Päckchen, sage ich dir von Herzen Dank. Christl, ich mache mir natürlich auch meine Gedanken über meinen Weg und bin zwar sehr unruhig, aber manchmal doch sehr zufriedenglücklich. Meine Arbeit macht gute Fortschritte. Neben mir sitzt ein Bildhauer von 40 Jahren. Er ist der Beste hier in der Werkstatt und einer der ersten Herrgottschnitzer im Ammergau. Dabei ist er ruhig und bescheiden. Ich halte mich gerne an ihn und er zeigt mir genauso gerne, wie er schnitzt. Lieb, das macht mich glücklich. Heute hatte ich mir vom Nachmittag auch einmal die Zeit genommen und einen Berg bestiegen. Es ist der ‚Kofel‚, der auf der letzten Ansichtskarte mit unserer Werkstatt im Hintergrund zu sehen ist. Er ist zwar nur ein Ausläufergipfel in der Hohen Bergkette der Alpen, aber man bekommt einen leichten Vorgeschmack von der Schönheit des Bergbezwingens. So ein Rundblick – ich wollte fast nicht mehr herunter.  Ja bei dieser Besteigung war ich auch glücklich. Es ist aber nicht das Gefühl vom Ferienglück, nein, es sitzt tiefer. Meine Lernbegierde ist unendlich und hier findet sie reichlich Nahrung. So geht es mir doch viel besser als auf dem Bau oder in der Fabrik. – Übrigens, wir sind in Oberammergau ungefähr 300 Schnitzer. Junge Männer wo du hin und naus schaust. Mit dem Arbeitseifer ist es bei ihnen nicht immer so gut bestellt wie in der ersten Woche, als ich herkam. Der Grund ihres Fleißes war damals, daß sie in der vorhergegangenen Kirchweihwoche dermaßen oft blau gemacht haben, daß sie es dann nachholen mußten und deshalb bis lange in die Nacht noch schnitzten. – Ich habe mich gefreut, daß du mir auch von Lothar etwas erzählt hast. Ich glaube, daß ich ihm fehle, jedenfalls denke ich selbst ja nur zu oft schmerzlich an eine vaterarme Kindheit.“

Lieber keine Karriere und kein zweites Kind oder: Das Schlimmste wäre, wenn es besser würde

Oberammergau, 21.6.1958: „Meine liebe Christl! Es ist Samstagabend und eigentlich wollte ich ins Kino, denn das Regenwetter nimmt mir die Lust zum Arbeiten, obwohl ich dringend zwei Kruzifixe fertig schnitzen sollte. Na, vielleicht habe ich morgen mehr Arbeitsgeist. Es ging in dieser Woche etwas turbulent zu hier in meinem Verhältnis zum Geschäft und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich nächste Woche vorn im Laden Schnitzler und Verkäufer. Aber ich warte doch noch etwas ab, denn diese Stellung ist bei uns nichts so Normales wie sonst in einem Geschäft, es ist hier schon eine Schlüsselstellung. Mein Grünewaldrelief hat mich einen fühlbaren Sprung aufwärts gebracht im Betrieb. Zuerst wollte ich es ja nicht nach hier verkaufen, aber mein Chef bekam es zu sehen und war ganz begeistert davon. […] Sicher warst du bei meinem letzten Brief enttäuscht. Es ist schon eine Misere der augenblickliche Zustand unserer Ehe und wenn ich sehe, daß ich mich so langsam aber sicher im Geschäft hocharbeite, kann ich dir noch nicht einmal Hoffnung machen, so schnell von hier weg zu gehen. An Frau Goebel habe ich die hundert Mark wieder geschickt. Mit der hab ich mir’s verdorben, schrieb sie mir doch in einem Brief, daß eine Meisterstellung in ihrem Betrieb nur in Verbindung mit der Heirat einer ihrer Töchter frei würde. Na, ich hab dann etwas zu zynisch geantwortet, aber ich hatte mir halt wieder mal zu viel Hoffnungen gemacht.“

Zehn Tage später hatte meinen Vater die Nachricht erreicht, dass ein zweites Kind, meine Schwester Barbara, unterwegs war. Wie er in einem Brief vom 1.7.1958 schreibt, habe er zuerst an Abtreibung gedacht, daran, „etwas mit einem Arzt zu unternehmen“. Sein Bruder Günter (er schreibt konsequent „Günther“) verfüge gewiss über entsprechende Kontakte. Hatte es im oben auszugsweise wiedergegebene Brief vom 21.6. noch geheißen, er könne sich nun „langsam aber sicher im Geschäft hocharbeiten“, sieht er sich keine zwei Wochen später nicht dazu in der Lage „ein Kind und eine Frau zu ernähren […] und da soll nun gar noch ein Kind dazu kommen.“ Und weiter: „Wenn ich wenigstens einen anderen Beruf hätte. Von hier kann und will ich vor den nächsten zwei Jahren nicht weg. Ich beginne gerade, mich einzuarbeiten und will nicht wieder davonlaufen. Aber Christl, ich möchte auch nicht, daß du nach hier kommst. Ich kenne deine Abneigung gegen das Dorfleben nur zu gut und nichts wäre mir schrecklicher, als deine Unzufriedenheit neben mir.“ Mit anderen Worten: obwohl er im Begriff war, die ersten Stufen der Karriereleiter in einer (auch durch sein Zutun) prosperierenden Firma zu erklimmen, wäre es ihm lieber, das zweite Kind käme nicht zur Welt und auf keinen Fall will er, dass seine Frau und sein(e) Kind(er) zu ihm ins dörfliche Oberammergau (das damals durchaus etwas Weltläufiges gehabt haben muss) ziehen.

Das Radio ein- oder abschalten mit ihr

Oberammergau, 21.9.1959, an Ch. Rumold: „Ach, Christl, ich bin so nervös seit ich weiß, daß wir eine eigene Wohnung haben und ich hier sitze. Ich habe dir gestern zwar zwei Briefe geschrieben. Der erste war zu traurig und über dem zweiten bin ich eingschlafen. Ich wäre so gerne bei dir in der Wohnung und hätte gerne einmal einen richtigen Feierabend, so eine liebe Bummelei auf der Couch und höchstens das Radio ein- oder abschalten mit dir. Ach, Christl, ich habe dich so lieb und möchte es dir so gerne schön machen und bin auch so furchtbar eifersüchtig. Christl, in der letzten Zeit geht mir immer drängender meine Vorbereitung zur Meisterprüfung durch den Kopf. Wenn ich mit der Prüfung eine Lehrerstelle erreichen könnte, möchte ich die Konjunktur im Passionsjahr ausnutzen und mich auf der Schnitzschule richtig ausbilden lassen und nach Feierabend leicht verkäufliche gut bezahlte Modelle schnitzen. Sollte mir die Prüfung allerdings keine Tore zur Schule öffnen, dann bleibe ich vorläufig in der Firma. Schatz, bitte schreibe das Beiblatt mit der Schreibmaschine. Ich will doch einmal Gewißheit haben. In der Arbeit geht es jetzt gut. Meine modernen Formen finden bei den Filialleitern freudige Abnahme und der Chef drängt auf neue Sachen. Aber ich suche jetzt lieber den besten Weg für mich.“

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Ansichtskarte vom 28.9.1959: „Christl, mein Schatz! Vielen Dank für deinen lieben Brief. Ich hatte zwar eine gutbezahlte Woche, bekomme aber erst diesen Freitag das ganze Geld. Schatz, es geht mir so durchwachsen. Sei mit den Kindern auf das Liebste gegrüßt und geküßt, dein Berthold.“

 

Ein Gesplitter von Grau, Schwarz, Rot und Grün – und eine unvergessliche Bergtour

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„Christl, das Kleid hat mir gefallen, könnte das schön sein? Meine großformigen Modelle haben auf der [Frankfurter] Messe doch großen Anklang gefunden.“

Oberammergau, 8.10.1959, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Vielen herzlichen Dank für deinen lieben Brief. Ach Schatz, wenn ich ein Bild malen müßte von der augenblicklichen Zeit hier, gäbe es ein Gesplitter von Grau, Schwarz, Rot und viel, viel Grün. Ich habe in der Schnitzschule angefangen Zeichen- und Modellierkurse zu nehmen als Vorarbeit für die Meisterprüfung und sah, daß ich noch viel lernen muß. Und bin eifrig beim Lernen. Und bin doch mit einem Male so müde, so unendlich müde vom Alleinsein. Wenn mich mein Chef vorige Woche nicht zurück gehalten hätte, wäre ich nach Hause zu dir gefahren und hätte bei Kinsler Arbeit gesucht. Aber von geschäftlicher Schau aus wäre es wirklich nicht richtig, jetzt aufzugeben, wo es um die entscheidende Strecke bis zur Meisterprüfung geht. Sicher ist es im Augenblick eine heftige Krise und in vierzehn Tagen geht es wieder besser weiter. […] Vor drei Wochen hatte ich ja ein sehr schönes Wochenende. Es war ein so schönes Wetter am Samstag, daß ich mich kurz vor Mittag entschloß, alles zusammen zu packen und auf die Zugspitze zu steigen. Den Karl fragte ich anstandshalber, ob er mit komme, aber es war mir recht, alleine zu gehen. Alleine laufe ich nämlich so, wie es mir gefällt, mal schnell, mal langsam und auf der Zugspitze ist man bei schönem Wetter nicht alleine. So kam es auch, daß ich am Abend in der vollgepfropften Zugspitzhütte saß unter mehr oder weniger guten Bergsteigern, die mich auch bald einluden, einen wunderschönen, aber schwierigen Grat zu begehen. Sie hatten Seile dabei, es konnte da nicht allzuviel passieren. Ach, es war schön unter diesen Leuten zu sein. Es waren Studenten und Ingenieure aus Augsburg. Die Nacht auf der Hütte vergesse ich so schnell nicht. Wir schliefen auf und unter den Tischen und Bänken und mit wehen Gliedern und ein bissel Angst zogen wir schon vor Tage los. Zwölf Stunden lang waren wir zu siebt ein Herz und eine Seele. Wir lachten, schimpften und fürchteten uns miteinander und waren doch glücklich. Wäre jemand aus der Werkstatt dabei gewesen, ich hätte nicht so frei und froh sein können. Vor acht Tagen wollte ich den Weg mit Karl noch einmal gehen. Zum Glück überfiel uns auf der Zugspitze schlechtes Wetter, daß wir wieder zurück ins Tal mußten. Es ist nämlich ein blödsinniger Rivalenkampf unter Werkstattkameraden, den ich gar nicht mag.“

Große Kunst und kleiner Kaffeekampf mit Kohlesäureperlen

Oberammergau, 8.5.1960, an Ch. Rumold: „Christl, mein Schatz! […] Wenn ich samstags arbeite, ist mir im allgemeinen nicht recht wohl. [Offenbar fühlte er sich noch immer an die Regel der Adventisten gebunden, L. R.] Zum Glück hatte ich gestern einen guten Arbeitsgeist und dein Brief ließ mich auch am Nachmittag froh bleiben und mein Zeil erreichen. Morgen werde ich mit meinem Schnitzschullehrer nach Landshut fahren und ein Wandrelief einsetzen. Ich möchte mich damit ein bissel erkenntlich zeigen für die Zeit und Mühe, die er doch immer wieder für mich erübrigt hat. Mein Zeichenlehrer hat mich auch wieder geangelt. Ach, wenn ich doch einmal ein paar tausend Mark gewinnen würde, damit ich ein ganzes Jahr nur bei diesen Männern sein könnte. Es ist nicht schön, so hin und her gerissen zu werden zwischen absolutem Kunststudium und Souvenirschnitzereien. Das Schnitzen macht mir Freude, aber der Versuch zu einem Kunstwerk verlangt für sich so viel an Schubkraft und Empfindsamkeit, das glaubt man kaum. Es ist, als wenn ein Reiter von seinem täglichen Arbeitspferd ein Turnierpferd besteigt. In München in der Gauguin-Ausstellung war ich noch nicht. Mein Zeichenlehrer hat mir sogar davon abgeraten. Ich habe allerdings auch in verschiedenen Kunstbüchern eine negative Kritik über G. gelesen. Er war wie Utrillo ein genialer Individualist und hat unserem Jahrhundert eitwas von sich gesagt, aber er konnte nicht die bisherigen Sprachen zusammenfassen und um einen weiteren Baustein bereichern. Picasso brachte das fertig, deshalb ist er das Genie der Kunst in unserer Zeit. Das habe ich allerdings nicht gelesen. Die Übung in der Arbeit zeigt einem das von alleine. – […] In der kommenden Woche beginnt ja das große Rennen. Ich fürchte ein Fiasko. Wir haben jetzt einen supermodernen großen Geschäftsraum gebaut, aber keinen Vorrat an Schnitzereien. Die Arbeiter tun nicht mehr viel, wenn sie im Theater spielen und der Chef kniet wohl auf mir herum, aber ich kann ja nicht mehr als das Zeugs sausen lassen so viel ich zusammen kriege. Es bleibt immer nur ein Tropfen auf einem heißen Stein. (Ein Glück, daß die Firma mich hat.) Aber ich wollte noch ein bissel auf deinen Brief eingehen. Ich sehe immer wieder meine beiden Kinder auf ihrem gemeinsamen Stuhl sitzen. Ach, wir sind doch glücklich, wenn wir zufrieden sind, und wenn der Kaffeekampf einen ganzen Sonntagmorgen dauern darf, ist ’s grad schön. Wie bald sind wir alle vier älter und da setzt sich jeder der beiden Spatzen viel zu früh in seinen eigenen Sessel. Christl, dein Erzählen über Lothars ausgesprochene Freude, weil du seinen Wunsch nicht vergessen hast, hat mich auch mit einem überraschten Erstaunen schmunzeln lassen. Aber ich bin sehr froh, wenn ich bei Lothar bin und wir, du und ich, ihm zwei sorgende Eltern sein können. Lothar beobachtet scharf, er sieht bald, was ein lebendiger Mensch zum Leben braucht. Ich glaube ich muß noch viel an mir erziehen, um einmal sein Herz zu gewinnen. Aber ich bin glücklich um solch einen Menschen. Nach deinem Brief habe ich mir gedacht: Unsere Barbara holt sich ganz einfach soviel Liebe wie sie braucht und wer könnte ihr widerstehen und Lothar wartet auf sie. […] Gestern Nachmittag hörte ich dem Radio zu. Zwischen angenehmen Melodien kamen immer so erzählte Lebensbeobachtungen. Übrigens fiel mir auf, daß sich die meisten Erzähler über sich selbst lustig machten. Es scheint große Mode zu sein, den Wilhelm Busch nachzuahmen. An der ersten Glossierung hatte ich noch Spaß. Ein ‚ahnungsloser‘ Ehemann freute sich auf die Urlaubsreise mit seiner Frau nach Spanien und träumte schon vom warmen Land, kühlem Wein, bis ihm seine Frau so nebenbei sagte: Spanien ist das Land, in dem du einmal Kavaliere sehen und studieren kannst. Nun, sie kamen in jenes Land und die Männer benahmen sich halt – normal. Bei jedem unangenehmen Zusammentreffen konnte der Ehemann jetzt fragen: ‚Sind das die Kavaliere?‘ – Am Ende der Geschichte gestand der Erzähler verschmitzt: ‚Ich hatte halt Glück.‘ – Ja, mir gefallen solche Kohlesäureperlen im Weinglas des Zusammenlebens zweier Menschen.“