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Das Nicken der Götter

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Lauchheim, 21.7.1953: „Meine liebe Mutti! Meine liebe Christl! Aus dem Gewühl der Arbeit möchte ich euch schnell ein paar liebe Worte senden, die euch sagen sollen, daß selbst ein Brief von zehn Seiten nicht ausreichen würde, um die Freude über eure Liebe, mit der ihr mich umgebt, dankbar auszudrücken. Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen bleibe ich euer Berthold.“

Die Gegend östlich von Stuttgart bis Schwäbisch Gmünd, und darüber hinaus bis zur bayerischen Grenze „links“ von Nördlingen, war mir bis vor fünfzehn Jahren gänzlich unbekannt. Dann stieß ich, Zufall oder nicht, auf die Rumold-Realschule in Rumolds-, heute Rommelshausen, Gemeinde Kernen, und inszenierte dort eine kleine Kunstschau. Damit hatte ich, ohne es zu wissen, den ersten Schritt Richtung Lauchheim getan, wo mein Vater 1953 eine Zeitlang gelebt hat, kurz nachdem er 1952 meine Mutter kennengelernt hatte. Ein paar Jahre später brachte mich ein Holzgrabmal-Auftrag nach Plüdershausen. Da war ich Lauchheim wieder ein gutes Stück näher gekommen. 2007 fuhr ich mit meiner Frau zu einem Konzert ihres Ensembles Con Sprezzatura auf der Lauchheimer Kapfenburg (siehe Ansichtskarte). Noch immer hatte ich keine Ahnung, dass mein Vater hier einmal ansässig gewesen war. Das erfuhr ich erst, als ich nach dem Tod meiner Mutter die Briefe las, die er ihr aus Lauchheim und aus dem nahe gelegenen Aalen geschrieben hatte. In Schechingen, westlich von Aalen, hatte ich ein halbes Jahr zuvor ein bei mir in Auftrag gegebenes Grabmal aufgestellt. Was irritiert: nie zuvor war ich in diese Gegend gekommen und jedesmal führte mich dann der Weg nach oder in Richtung Aalen und Lauchheim, wo der Vater unwahrscheinlicher Weise vor fünfzig Jahren eine Zeitlang gelebt hatte. Die Götter nicken numinos. Aber was wollen sie uns mit ihren Winken bedeuten? Oder winken sie einfach nur so, wie um zu sagen: wir sehen euch, seht ihr uns auch?

Betrachtungen bei einer Zigarette in Lauchheim 1953

Aus einem Brief an Ch. Burst aus Lauchheim am 1.9.1953: „Langsam ging ich in ein Geschäft kaufte mir eine Zigarette und spazierte einen sogenannten Stationenweg zu einer Wallfahrtskirche vor die Stadt. Ein seltsames Gefühl ist das, wenn man mit der Zigarette in der Hand die Leiden unseres Heilandes von Pilatus aus verfolgt, bis zur Grablegung. Ich bekam das erste Mal vor einem Bild, und sogar noch vor ganz gewöhnlich ja nahezu kitschigen Ausführungen, einen Schauer und ein Miterleben der Leiden unseres Herrn. Als er zum ersten Mal hinfiel, der Augenblick der Kreuznagelung, der für mich immer der schrecklichste Gedanke war, denn mit dem Einschlagen der Nägel in das Fleisch Gottes wurde der Tod des Lebens Wirklichkeit. Es ist für mein Empfinden schlimmer als das grausige Hängen am aufgestellten Kreuze. Endlich wurde er abgenommen und behutsam ins Grab gelegt. – Und ich ging weiter, setzte mich unter einen Lindenbaum und schaute, versonnen meine Zigarette weiterrauchend, auf das Lauchheim.“

(Siehe dazu auch diesen Beitrag: Später Kreuzweg als visueller Schlussakkord.)

Mein Vater hatte 1953 erst eine Zeitlang in Aalen in einer Ziegelei gearbeitet und war dann ins benachbarte Lauchheim gezogen, um dort in einer nicht näher bezeichneten Werkstatt zu arbeiten, obwohl er in der Fabrik besser bezahlt worden wäre. Einer der Gründe für den Wechsel lag wohl in dem von ihm so genannten „Sabbatkampf“ mit den Adventisten, in deren Kreisen er verkehrte. Damals war der Samstag (für Nicht-Adventisten) noch ein beinahe normaler Arbeitstag, doch für die Advent-Gemeinde rührte der Verstoß gegen das Gebot der Sabbat-Ruhe an die Grundlagen ihres Selbstverständnisses. Denn als „Siebenten-Tags-Adventisten“ hatten sie sich gerade das Dringen auf die Beachtung des samstäglichen Arbeitsverbots zu ihrer ureigenen Aufgabe gemacht.