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Die Oberammergauer Briefe als E-Book

Derzeit bereite ich die Veröffentlichung des kompletten Korpus der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold als E-Book (Kindle) vor. Als E-Book deshalb, weil mir einerseits die Verlagssuche mühsam und müßig zu sein scheint. Zum anderen bin ich schon seit Jahren ein Kindle-Fan und sehe mich dort in bester Gesellschaft. Ich hoffe, mit der Arbeit in sechs bis acht Wochen fertig zu sein, so dass das E-Book wahrscheinlich Ende Juli, Anfang August 2015 bei Amazon erhältlich sein wird.

Titelentwurf für das in Arbeit befindliche E-Book.

Titelentwurf für ein geplantes E-Book (Juli/August 2015)

Vorwort oder Liebe ist Schreibarbeit und Kalter Hund

Bei Bertolt Brecht heißt es, auch die Liebe sei eine Produktion. Bei meinem Vater Berthold Rumold und seiner Frau Christel war sie die ersten langen zehn Jahre lang zum größeren Teil eine handschriftliche Produktion, eine Schreibarbeit. Sich zu lieben hieß für das Paar von 1952 bis 1962 vor allem anderen, sich Briefe zu schreiben. Die Liebe ging bei ihnen also nicht durch den Magen, sondern hauptsächlich durch den Briefkasten und was sonst noch zum damaligen Postweg dazu gehörte. Kein Wunder, könnte man meinen, standen doch sowohl der Großvater als auch der Vater meines Vaters im Dienst der Reichspost, mein Urgroßvater, geboren 1881, als Postillion, mein Großvater als Postassistent, obwohl er seinen Beruf anlässlich der Geburt des zweiten Sohnes Berthold Friedrich (am 16. Oktober 1929) noch als Kaufmann angegeben hatte. Und schließlich entschied sich auch Hans, der jüngere Bruder meines Vaters, nach kurzem, wenngleich heftigem Zögern (es muss ein wahres Sich-Aufbäumen des Siebzehnjährigen gewesen sein) für eine Laufbahn bei der Deutsche Bundespost, was ihn damals noch in den Genuss der Vorteile des Beamtenstandes brachte. Dass die Liebe meiner Eltern nicht durch den Magen gegangen sei, wie ich oben behauptet habe, ist nicht ganz richtig. Denn die Briefe meiner Mutter an meinen Vater erreichten ihren Adressaten nicht selten in Begleitung eines Päckchens, das in der Regel Schokolade, mitunter aber auch Wurst und manchmal sogar einen „Kalten Hund“ enthielt: eine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Firma Bahlsen erfundene Spezialität aus Schichten von Butterkeksen, umgeben von selbstgemachter erkalteter Kakaosoße.

Von den insgesamt rund vierhundert heute noch erhaltenen Briefen, die mein Vater zwischen 1952 und 1962 an meine Mutter geschrieben hat, veröffentliche ich hier die Briefe und Ansichtskarten aus seiner Oberammergauer Zeit. Auch einige an mich selbst, an den „lieben Buben“, gerichtete Briefe werden mit dabei sein. Von Oktober 1956 bis Oktober 1962, also zwischen seinem 27sten und seinem 34sten Geburtstag, lebte und arbeitete mein Vater im oberbayerischen Oberammergau, neunzig Kilometer südlich von München. Oberammergau war und ist eines der Zentren, wenn nicht das Zentrum der deutschen Holzschnitzkunst. Mein Vater hatte im Mai 1952 die Gesellenprüfung im Holzbildhauerhandwerk abgelegt, nachdem er bei Karl Kinsler in der Karlsruher Karlstraße drei Jahre lang in die Lehre gegangen war. Zu dieser Zeit lernte er, der von Haus aus evangelisch gewesen ist, aufgrund seiner Kontakte zur Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten seine spätere Frau Christine (in den Briefen „Christl“) Burst kennen; die beiden heirateten eilends Anfang März 1955, als sie zur Kenntnis nehmen mussten, dass voraussichtlich Anfang September ein von ihnen versehentlich gezeugtes Kind zur Welt kommen würde. Diesem Zeugling, aus dem alsbald ein Säugling und wenig später ich selbst werden sollte, gaben sie den Namen Lothar, ohne zu bedenken, dass die beiden aneinander stoßenden Konsonanten dem rhythmisch-melodischen Aussprechen des Vor- und Nachnamens in einem Atemzug einen gewissen Widerstand entgegensetzen würden. Zumindest was die Wahl des Namens für ihren auch in der Folgezeit ungeplant sich einstellenden Nachwuchs anging, scheinen meine Eltern etwas dazu gelernt zu haben. Denn der Anfang 1959 geborenen Tochter, ihrem zweiten und letzten Kind, gaben sie die Namen Barbara und Christa mit auf den Lebensweg; beide Vornamen verbinden sich mit dem Familiennamen Rumold ohne weiteres zu einer harmonisch-wohlklingenden Einheit.

Dieselbe bedenkenlose Zielstrebigkeit, von der mein Vater bei der Zeugung und Benennung seines Sohnes getrieben worden war, hatte zuvor dazu geführt, dass der junge Ahnungslose zwei oder drei Jahre nach Ablegung der Gesellenprüfung meinte, nun als selbständiger Holzbildhauer am Karlsruher Hauptfriedhof ein Geschäft eröffnen zu können. Der größere Teil der Schuldenlast, unter der mein Vater in den Oberammergauer Briefen gewohnheitsmäßig ächzte, stammte vermutlich aus der Zeit dieses ersten, misslungenen Versuchs, eine eigene Werkstatt zu führen. Der Start in die Selbständigkeit musste deshalb misslingen, weil die Zeit des unternehmerischen Laisser-faire, das im Nachkriegsdeutschland geherrscht hatte, Anfang der 1950er Jahre schon wieder vorbei war. Da mein Vater dazu neigte, äußere Zwänge nicht nur persönlich zu nehmen, sondern auch zu personifizieren, richtete sich sein Zorn (in einem Brief ist sogar von Hass die Rede) noch während der Oberammergauer Jahre gegen seinen ehemaligen Lehrmeister Karl Kinsler. Tatsächlich ist wahrscheinlich dieser es gewesen, der die rechtlich grundlose und längerfristig unhaltbare Geschäftsgründung bei der Handwerkskammer zur Anzeige brachte, worauf mein Vater den Betrieb einstellen musste. Doch wäre es wohl auch ohne Kinslers Zutun früher oder später zu einer Geschäftsschließung gekommen. Der ehemalige Kinsler-Lehrling hätte eigentlich froh darüber sein können, dass sein alter Holzbildhauermeister ihn dazu zwang, die Perspektivlosigkeit seines Unternehmens einzusehen und beizeiten nach einer tragfähigeren Alternative Ausschau zu halten.

Bei diesem Ausschauhalten nach anderen Möglichkeiten muss mein Vater irgendwann Oberammergau, das damalige Mekka nicht nur der deutschen Schnitzkunstgläubigen, entdeckt haben. Und so kam es, dass Berthold Rumold Ende 1956 seine junge Frau und sein einjähriges Kind verließ, um sechs Jahre lang im oberbayerischen Ammergau für ‚Lang selig Erben‘ im Rahmen eines anachronistischen, aber durchaus muntereren Verlagswesens als Holz- und insbesondere Herrgottschnitzer auf Stücklohnbasis zu arbeiten. Kurzfristig-aktuell bestand sein Ziel darin, in seinem erlernten Beruf sein Geld zu verdienen. Mittelfristig strebte er darüber hinaus die Ablegung der Meisterprüfung an. Langfristig aber wollte er in Karlsruhe im zweiten Anlauf endlich sein eigenes Geschäft eröffnen.

War er seiner Christel damit zwar die meiste Zeit aus den Augen, so war er ihr doch nicht aus dem Sinn und erst recht nicht aus dem Herzen. Dafür sorgte nicht zuletzt der rege Briefverkehr, der sich, in Ermangelung anderer Verkehrsmöglichkeiten, zwischen den beiden entwickelte. Die Briefe meiner Mutter an meinen Vater sind verlorengegangen. Seine an sie gerichteten Briefe und Briefkarten (auch einzelne Ansichtskarten sind dabei) hat meine Mutter mehr als fünfzig Jahre lang in jenem sprichwörtlichen Schuhkarton („Gabor Mode-Schuhe“) aufbewahrt, den meine Schwester und ich nach ihrem Tod im November 1913 im Keller fanden. Dass meine Mutter alles Mögliche sammelte und nichts wegwerfen konnte, hat mich mehr als einmal wütend und ratlos gemacht. Im Fall der Briefe meines Vaters war und bin ich ihr dankbar für diese ins Pathologische spielende Merkwürdigkeit.

Ob meine Eltern die Veröffentlichung der Briefe wohl gewollt hätten, wurde mir einmal zu bedenken gegeben. Vielleicht ja, vielleicht nein, wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch? Mit anderen Worten: diese Frage kann zwar gestellt, aber nicht zweifelsfrei, sondern nur spekulativ beantwortet werden. Irgendwo las ich, irgendein Schriftsteller habe irgendwann verfügt, dass gewisse Briefe erst so und so lange nach seinem Ableben veröffentlicht werden durften. Das Vergehen von Zeit scheint bei solchen Fragen also eine Rolle zu spielen. Die Oberammergauer Briefe meines Vaters wurden von ihm vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben, der Briefschreiber ist seit einem viertel Jahrhundert tot, die Adressatin starb vor zwei Jahren. Lässt sich daraus publikationsmoralisch etwas schließen? Ich weiß nicht, ob mein Vater und meine Mutter dieses Buch gewollt hätten. Fest steht: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre die Abschrift der Briefe und ihre Publikation an diesem Ort nicht zustande gekommen. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne jeden Zweifel sicher. Denn es zeigt sich in diesen Briefen, wer mein Vater Berthold Rumold war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden, zum Sich-Wundern und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Historie der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler gewesen, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus moralischen Gründen nicht zu veröffentlichen.

Schließlich noch eine Bemerkung zu den von mir gemachten Anmerkungen im lesetechnischen Sinn. Sie dienen zum einen dazu, die hier relevanten Wissensstände der Beteiligten (mein Vater, meine Mutter, die Leserin, der Leser, ich selbst) einigermaßen zu synchronisieren (und zwar dann und nur dann, wenn dies erforderlich ist). Zum anderen öffnet sich in den Anmerkungen ein zweiter, bedingt autonomer Mitteilungsraum, in dem eine beinahe unbegrenzte Freiheit des Sujets herrscht. Diese Freiheit ist paradoxerweise eine Folge der Abhängigkeit vom Primärtext. In den Anmerkungen ist von der sachlich-neutralen Information über die persönliche Stellungnahme bis zur philosophischen Spekulation alles Mögliche möglich, ohne dass man sich über Formfragen allzu viele Gedanken machen muss. Ich habe von dieser Möglichkeit der auktorialen Narrenfreiheit gelegentlich Gebrauch gemacht. Auf diese Weise ist ein Sekundärtext entstanden, den man als eine Art Buch oder Büchlein im Buch (nämlich in den Anmerkungen) auffassen könnte, wodurch die Publikation der Oberammergauer Briefe meines Vaters Berthold Rumold unter meinem Namen eine gewisse Berechtigung erhalten würde.

Ein allerletztes Vor-Wort: orthografische Fehler wurden von mir stillschweigend korrigiert. Kreative Besonderheiten (z. B. Wortschöpfungen) wurden originalgetreu wiedergegeben. Die (mit Ausnahme von Punkten und einigen intuitiv gesetzten Kommata) weitgehend fehlenden Satzzeichen wurden weitgehend ergänzt. Dies mindert einerseits die Authentizität der Publikation, beseitigt jedoch andererseits visuelle „Nebengeräusche“, die der Konzentration auf das Mitgeteilte u. U. im Wege stünden.

Es ist eine Princessin!

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Die Reiseschreibmaschine ‚Prinzess 200‘ der Firma Keller und Knappich

Oberammergau, 22.5.1958, an Ch. Rumold: „Liebe Christl! Mit dieser Karte geht die eben eingetroffene Schreibmaschine weiter. Bitte kontrolliere, ob es die Pr. 200 / Lederkoffer / Perlschrift ist. Ich möchte das Paket nicht aufmachen, weil es so gut mit Stahlfedern verpackt ist. Herz, ich freue mich selbst darüber, daß wir sie nun haben. Sei herzlich gegrüßt von Deinem Berthold.“

Die Princess 200 erblickte das Licht meiner Welt also Ende Mai 1958. Schon einen Monat später (mit knapp drei Jahren) übte ich mich in ihrem Gebrauch: „Christl, hab vielen Dank auch an Lothar für eure beiden Briefe. Unser Lothar schreibt ja schon sehr schön. Soll er sich nur mit der Schreibmaschine vertraut machen, das ist das beste Handwerkszeug.“  (Brief vom 15.6.1958)

Skizze zu einer Körper-Biografie

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Berthold Rumold mit ca. 30 Jahren in den Ammergauer Bergen

Mein Vater war ein gutaussehnder Mann. Als Junge erkannte ich in ihm Old Shatterhand alias Lex Barker wieder. Was war dagegen schon der Alain-Delon-Vater meines besten Freundes, zumal jener diesen regelmäßig schlug. Ein gutaussehnder Mann mit einem leichten Buckel, den ich schon als Siebenjähriger wahrnahm, da mir auffiel, dass mein Vater bei Tisch keineswegs so vorbildlich gerade saß, wie man es von mir verlangte. Kein Hühne, aber groß, blond und blauäugig genug – von Frauen durchaus umschwärmt bis in seine Fünfziger hinein. Bildhauer wird man nicht zuletzt aus körperlichen Gründen: aus erotischer Liebe zum Plastischen und weil man sich gerne muskulär verausgabt. Noch die angeborene Rückgratverkrümmung schien zu seiner Holzbildhauerei zu passen, da beim Schnitzen nicht selten eine leicht gekrümmte Haltung einzunehmen ist. Ludwig Marcuse sieht im Körper „den großen Vergessenen, der uns herumschleppt“ (Philosophie des Un-Glücks). Nun, bis in seine dreißiger Jahre hinein war mein Vater durchaus nicht somavergessen: er kletterte in den Bergen rund um Oberammergau, fuhr Ski und liebte es, an einem Bach in der Sonne zu liegen; hatte er die Möglichkeit dazu, schwamm er im Rhein. Und das, was er in einem Brief einmal „das gewisse Etwas“ genannt hat, kam zwar (mindestens) bis 1962 mehr als nur etwas zu kurz, dies aber nur aus Mangel an Gelegenheit und nicht aus Mangel an Interesse.

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Von links nach rechts: Berthold Rumold, Georg Rumold (der eine Großvater) oder Friedrich Ott (der andere Großvater), Klara Rumold (die Mutter), Änne Rumold (eine Schwester); 1934 im Gartenhaus, Sieglindenstr. 9, Ludwigshafen

Was macht einer, der gerne klettert und im Schnee herumrutscht, wenn ihn das selbst gewählte Schicksal nach Karlsruhe zurück verschlägt? Aus den Bergtouren alleine oder mit einem Kumpel wurden Spaziergänge mit der Familie, Rad- und Wandertouren mit der Tochter. Ansonsten war der Körper Bestandteil des Arbeitsprozesses und ging, als deren unabdingbare Voraussetzung, ein in die Holz- und Steinbildwerke, die er schuf. Den Werken tat das gut, den Knochen, Muskeln, Sehnen und Venen nicht nur. Der krumme Rücken wurde immer krummer. War es auch ein körperliches Sich-am-Ende-Fühlen, das meinen Vater schließlich veranlasste, einem Bekannten gegenüber zu äußern, er habe mit dem Leben abgeschlossen? Oder war es am Ende noch einmal jenes von weither kommende, existenzielle Es-geht-nicht-Mehr, das er mir vererbt zu haben glaubte, wie er im Brief vom 8.2.1958 schrieb: „Ist unser [damals zweieinhalb Jahre alter] Lothar wieder gesund? Es ist mir sehr nachgegangen, daß er sagte, es ginge nicht mehr. Das ist ein Stück Wesen von seinem Papa.“

Hände hoch, ich bringe Ihnen einundsiebzig Mark!

Mein Vater schickte meiner Mutter während der sechs Jahre (1956-1962), in denen er in Oberammergau bei Lang selig Erben als Schnitzer arbeitete, wöchentlich Geldbeträge zwischen vierzig und hundert Mark. In der Regel steckte er wohl die Scheine einfach mit in den Briefumschlag, gelegentlich tragen die Briefe am unteren Rand Vermerke wie „anb. 70,- DM“. Ein sicherer, wenn auch mit zusätzlichen Kosten verbundener Weg des Geldtransfers wäre die Zustellung per Geldbriefträger gewesen. Bis 1987 trugen diese „Geldboten der deutschen Bundespost“ (so die offizielle Bezeichnung) Pistolen bei sich, um im Fall der Fälle die Rente oder Postanweisung gegen etwaige Wegelagerer verteidigen zu können. Geldbriefträger gab es immerhin bis April 2002, nach 1987 waren sie allerdings nur noch mit Mobiltelefonen bewaffnet.

Oberammergau, 23.3.1957, an Ch. Rumold: „Unser Bub steht oft genug deutlich vor mir, der kleine Spatz. Wirf ihm bitte die eine Mark über den siebzig in seine Kasse. Ich habe das Geld diesmal einbezahlt, bin aber nicht ganz zufrieden, weil dieser Weg fünfzig Pfennige kostet, mit denen ich gerne etwas anderes angefangen hätte. Ich glaube, das nächste Geld schicke ich wieder im Brief. Heute am Samstag hatte ich einen richtigen Arbeitseifer, ganz im Gegensatz zum letzten. Es macht mir auch jetzt immer mehr Spaß, weil die Arbeit immer leichter von der Hand geht. Lieb, sag doch Herrn Geier, daß ich ihm eine geschnitzte Schachfigurenserie besorgen kann. Ich selbst könne sie leider nicht schnitzen, da ich dringend anderen Aufträgen nachkommen müsse. Die Preise liegen bei dreihundert Mark ohne Brett. Es sind das recht nett geschnitzte Figuren, aber eben auch teuer. Billiger sind sie in der Ausführung nirgendwo, denn das Zeug geht weg wie warme Semmeln. Es sind auch immerhin 32 Einzelfiguren.
Sonst bin ich wirklich zufrieden. Meine Kumpels werden mir immer lieber und die Arbeit leichter. Jetzt ist bei uns die große Zeit des ‚Hornsuchens‘. Horn sind Geweihe der Hirsche. Die werfen jetzt im März ab und die Kerle sind dahinter her, als wären sie aus Gold, dabei flacken sie bald in irgendeiner Zimmerecke, um zu verstauben. Aber es ist nicht erlaubt, diese Apparate zu behalten und so bieten sie eine anreizende Gelegenheit, den Jägern zu beweisen, daß sie Schlafmützen seien: bis die aufsehen ham mia Buam schon längst die Horn dahoam. Ja, und dann weiß ich jetzt auch, daß am 24. März die ersten Schwalben kommen und die Frösche schon da sind. Es gefällt mir ganz gut, wie die Kumpels das Jahr kennen und zu jeder Zeit ihre besonderen Ereignisse haben.“

Die Schnitzbank hatte ihn wieder

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Oberammergau, 4.11.1960: „Lothar, mein lieber Bub! Ich habe da eine lustige Karte gefunden und möchte sie dir mit einem lieben Gruß schicken. Es war schön bei dir zu Hause – jetzt bin ich wieder an meiner Schnitzbank in der Werkstatt. Lothar bleibe lieb zu Mama und Barbara und Oma. Sei herzlich gegrüßt und geküßt von deinem Papa!“

Genealogisches Aha-Erlebnis

Unter meinen Vorfahren der letzten drei bis vier Generationen war, wenn man den amtlichen Angaben Glauben schenkt, nicht einmal ein Pfarrer. Auch kein Haus- oder sonstiger Lehrer, erst recht kein Professor oder ähnliches. Aber nicht nur der allgemein geistlich-geistige, nein, auch der ganze musisch-künstlerische Bereich ist vollkommen unter-, ja weniger noch: überhaupt nicht repräsentiert. Ärzte gab es auch keine, noch nicht einmal dental dilletierende Barbiere, mit deren modernen, technisch aufgerüsteten Kollegen mein Vater schon in jungen Jahren mehr zu tun hatte, als ihm lieb gewesen sein dürfte – dies nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Er war noch keine 28 Jahre alt, da musste die zuvor nur überkronte obere vordere Reihe von neun Zähnen komplett ersetzt werden, wie er in einem Brief vom 9. Februar 1957 detailliert erläutert.

Stattdessen gab es mütterlicherseites mindestens einen Schreiner- und einen Glasermeister, einen Landwirt, einen Holzhauer und einen Bahnarbeiter, als dessen Pendant väterlicherseits man vielleicht den 1881 im Schwäbischen geborenen Postillion Georg Adam Jakob Rumold ansehen kann, der dann vor 1905 die aus dem bayerischen Uffing (nicht weit von Oberammergau) gebürtige Köchin Kreszenzia Mayr geheiratet hat. War sie ihm etwa bei einer dienstlichen Fernpostkutschfahrt in Uffing vor die Pferde gelaufen?

Was noch? Ein Postbeamter, ein Gutspächter, ein Söldner, ein Fabrikarbeiter und ein Schneider. Also vielleicht kein Wunder, dass ich mich im Studium immer ein wenig wie im falschen Film fühlte, ohne dass ich hätte sagen können, welches denn der richtige Film für mich gewesen wäre?

Der vaterlose Vater des vaterlosen Sohnes macht sich Gedanken über Vaterlosigkeit

Oberammergau, 10.11.1956: „Meine liebe Christl! Für deine beiden lieben Briefe und das süße Päckchen, sage ich dir von Herzen Dank. Christl, ich mache mir natürlich auch meine Gedanken über meinen Weg und bin zwar sehr unruhig, aber manchmal doch sehr zufriedenglücklich. Meine Arbeit macht gute Fortschritte. Neben mir sitzt ein Bildhauer von 40 Jahren. Er ist der Beste hier in der Werkstatt und einer der ersten Herrgottschnitzer im Ammergau. Dabei ist er ruhig und bescheiden. Ich halte mich gerne an ihn und er zeigt mir genauso gerne, wie er schnitzt. Lieb, das macht mich glücklich. Heute hatte ich mir vom Nachmittag auch einmal die Zeit genommen und einen Berg bestiegen. Es ist der ‚Kofel‚, der auf der letzten Ansichtskarte mit unserer Werkstatt im Hintergrund zu sehen ist. Er ist zwar nur ein Ausläufergipfel in der Hohen Bergkette der Alpen, aber man bekommt einen leichten Vorgeschmack von der Schönheit des Bergbezwingens. So ein Rundblick – ich wollte fast nicht mehr herunter.  Ja bei dieser Besteigung war ich auch glücklich. Es ist aber nicht das Gefühl vom Ferienglück, nein, es sitzt tiefer. Meine Lernbegierde ist unendlich und hier findet sie reichlich Nahrung. So geht es mir doch viel besser als auf dem Bau oder in der Fabrik. – Übrigens, wir sind in Oberammergau ungefähr 300 Schnitzer. Junge Männer wo du hin und naus schaust. Mit dem Arbeitseifer ist es bei ihnen nicht immer so gut bestellt wie in der ersten Woche, als ich herkam. Der Grund ihres Fleißes war damals, daß sie in der vorhergegangenen Kirchweihwoche dermaßen oft blau gemacht haben, daß sie es dann nachholen mußten und deshalb bis lange in die Nacht noch schnitzten. – Ich habe mich gefreut, daß du mir auch von Lothar etwas erzählt hast. Ich glaube, daß ich ihm fehle, jedenfalls denke ich selbst ja nur zu oft schmerzlich an eine vaterarme Kindheit.“

Zur Moral der Briefpublikation

Sollte das einmal privat Gewesene für immer privat bleiben? Wird die intime Sphäre im Nachhinein verletzt, wenn Mitteilungen between you and me and the bedpost Jahrzehnte später publik werden? Wer darf in solchen Fragen in welchem Umfang entscheiden, wer darf es sich unter welchen Umständen herausnehmen, über indviduelle Entscheidungen zu urteilen? Eine Ethikkommission würde vielleicht sagen, dies sei ein delikates moralisches Problemgeflecht. Und nach längerer Beratung zu dem Schluss kommen, dass manches dafür und manches dagegen spreche. Und womöglich würde sie von übergeordneten gesellschaftlichen Interessen faseln, die feststellbar sein müssen, damit gegen das Gebot des grundsätzlich ewigen Schutzes der Privatsphäre verstoßen werden darf. Oder so ähnlich oder auch ganz anders.

Abgesehen davon, dass ich es für moralisch fragwürdig halte, die Moral einer Geschichte zu einer Angelegenheit für Experten zu erklären und sich ihrer mit Hilfe von Ethikkommissionen zu entledigen, wüsste ich derzeit nicht, von wem ich mir sagen lassen könnte, sollte oder wollte, ob ich die Briefe meines Vaters in voller Länge oder vielleicht wenigstens in Auszügen gewissermaßen ungefragt veröffentlichen darf oder nicht. Von Friedrich Nietzsche würde ich eine andere Auskunft bekommen als von Hans Küng, mit der Entscheidung für den Entscheider ist in der Sache also schon vorentschieden worden. Das heißt, ich komme so oder so, implizit oder explizit, um eine eigene Meinung nicht herum.

Der Letzte Wille eines Menschen ist ein noch zu Lebzeiten be(ur)kundeter. Glaubt man nicht an die Authentizität oder Verbindlichkeit der Resultate von spiritistischen Befragungen, dann gibt es jenseits davon keinen weiteren oder allerletzten, posthum geäußerten Willen. Bleibt die irreal-spekulative Frage, ob er es gewollt hätte, beziehungsweise (und das macht die Sache noch komplizierter) ob sie, die Eltern, es gewollt hätten. Denn meine Mutter hätte dann wohl auch ein Wörtchen mitzureden, um nicht zu reden von nicht wenigen anderen, längst verstorbenen Personen, über die in den Briefen dies und das mitgeteilt wird. Einmal mehr zeigt sich: das Nachdenken über ein Problem führt, je gründlicher es geschieht, nicht zu einer Lösung, sondern zur Vervielfachung der offenen Fragen.

Ich weiß nicht, ob er es gewollt, ob sie es gewollt hätte. Eher nicht, würde ich sagen. Oder vielleicht doch? Wer weiß. Hätte, könnte, wollte, würde: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre dieser Patrolog nicht begonnen worden. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne Zweifel sicher. Mehr noch: aus diesem Schade-Finden ergibt sich für mich die moralische Pflicht, mit der Veröffentlichung der Briefe und der Bilddokumente fortzufahren. Wäre ich pathetisch veranlagt (und tatsächlich ist mir eine gewisse Neigung zum skeptisch gebrochenen Pathos nicht fremd), würde ich sagen: ich bin es meinen Eltern, aber insbesondere meinem Vater schuldig, seine Briefe hier (und später vielleicht noch an anderem Ort und in anderer Form) zu publizieren. Denn es zeigt sich in ihnen, wer er war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Geschichte der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus „ethischen Gründen“ nicht zu veröffentlichen.

Weltaufgang Januar 1959 – und alles Land liegt in tiefstem Schnee

Die paplose Familie 1959, die große und die neue kleine Christl und Lothar, der liebe Bub.

Die papalose Familie 1959: die große und die neue kleine Christl (spätere Barbara) und Lothar, der „liebe Bub“.

Oberammergau, 9.1.1959, an Ch. Rumold:
„Über meine Tochter wurde natürlich [unter den Kumpels] gelacht und geredet, aber alle haben sich gefreut, ganz nebenbei muß ich natürlich für ein Faß Bier herhalten, aber das geht jedem so von uns, der in diese glückliche Lage kommt. Gell, meine Schrift ist schlecht, aber ich bin jetzt ein bissel müde in der Hand. Vielleicht ist auch die klimatische Umstellung daran schuld. Es schneite den ganzen Tag was der Himmel hergab und alles Land liegt in tiefstem Schnee. Christl, Lieb, ich möchte dich ja schon die ganze Zeit danach fragen, aber ein Satz nach dem anderen sprudelte mir aus der Feder: Herz, wie geht es dir? Hoffentlich bist du gesund und unsere kleine Christl auch.“