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Nachdenken über die Passionsspiele

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Ein alter, hochrädriger Opel (Olympia 1939)?

Oberammergau, 22.5.1960: „Christl, mein Schatz! / Ich kann erst am nächsten Freitag etwas Geld schicken. Ich habe mir ein Paar Shorts, ein zitronengelbes Sporthemd und Sportstrümpfe gekauft und es bleiben mir noch vierzig Mark. / Ach, Christl, ich muß Dir gleich sagen, daß ich so gemischt gelaunt bin. In der vergangenen Woche wurde nicht viel gearbeitet vor lauter Schauen. Wie die Halbstarken gaffen wir den Ausländern und vor allem den erotischen Weiblichkeiten nach. In ihren Kimonos und indischen Umhängen sahen sie auch ganz neu für unsere Augen aus. Aber es ist weit über die Hälfte ein grausiges Globetrotter-Publikum mit Baskenmützen, Windblusen, vergerbten Gesichtern und sehnigen dünnen Beinen. Die Engländer und Franzosen kommen mit alten, hochrädrigen Opeln. Ich habe mir das jetzt eine Weile angesehen und vorerst ein bissel genug davon. / Über das Passionsspiel habe ich gestern im Radio einen Bericht gehört, in welchem die alte Frau Lang (85 Jahre) erzählte, wie das früher war. Da kamen die Besucher in Fußmärschen so als Wallfahrer bis von der Donau und sahen sich als Abschluß ihres Bußganges den Leidensweg Christi an. Ich glaube, in diese Zeiten gehörte das Spiel. 1950 war der Reisebetrieb für unsere Geldbeute auch noch beschränkt auf das Inland und selbst die Intelligenz schaute sich das Schauspiel an. Also heute bietet das Theater im Barock-Rokoko-Gewand dem Intellekt nicht mehr den richtigen Anreiz und die Prominenz läßt sich ja irgendwie von der geistig gebildeten Schicht führen. Ich vermute halt, daß diese Leute ihren Urlaub in anderen Gefilden verbringt. Übrigens hat der junge Wagner in Bayreuth seinen ererbten Opern auch ein neues Gewand geben müssen. Und das bei einer Wagnermusik, die doch wirklich genial ist. / So wundere ich mich halt nicht, wenn das Publikum hier zwar noch in Massen kommt, aber weder aus dem Wunsche, in Gläubigkeit zu schauen, noch dem scharfen Geiste neue Auseinandersetzungen zu bieten. Dieses Mitteldrin ist mir sowieso unsympathisch. Aber vielleicht ist das verregnete Wetter heute der Grund, daß ich mit der Umwelt so unzufrieden bin. Übrigens werden die Spieler in ihren leichten Tüchern heute batschnaß und die Stimmorgane bald erkältet.“

Schifahren

Oberammergau, 11.1.1959, an Ch. Rumold: „Am Samstagmittag gab Karl keine Ruhe und nahm mich mit auf das Schigelände. Ach, es ist mir übel ergangen und ich schimpfte im Stillen über mich, weil ich nicht alleine irgendwohin an einen ruhigen Platz gezogen bin und alleine in Ruhe übte. Auf der Schiabfahrt war trotz des stürmischen Windes und Schneetreibens alles voll Menschen, die normal fahren konnten und ich Anfänger purzelte von einem Sturz in den andern. Ich wurde zwei Stunden lang belacht und bin doch so empfindlich vor dem Verlachtwerden. Karl zeigte mir als: so mußt du’s machen und so und schwingen und stemmen. Aber es gelang halt nicht. / Nun, heute am Sonntag bin ich in der Frühe aufgestiegen, habe meine Bretter geschnappt und mir einen schönen Hügel gesucht. Nicht zu hoch und nicht zu nieder. Die Bahn habe ich mir selbst getreten und siehe, schon bei der ersten Abfahrt gelang mir das links und rechts Kurven recht gut. Es machte mir bald so Spaß, daß ich mir immer wieder sagen mußte, es wäre jetzt schön, wenn Du und Lothar auch dabei wärst und wir gemeinsam die Freude hätten. Zwei Stunden übte ich so eifrig, dann kamen aber immer mehr „Kanonen“ in die Gegend und ich räumte still und zufrieden das Feld. Morgen will ich es wieder so machen und vielleicht jeden Morgen, solang der Schnee liegt. / Nachher konnte ich noch gemütlich schnitzen und Radio hören, bis ich um halb sechs Uhr ins Kino ging. Ja und nachher werde ich noch an einem Kruzifix die Arme leimen und ins Bett gehen.“

Ich liebe Dich sehr, aber komm‘ bloß nicht her! Ein Ammergauer Possenspiel in drei Akten

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Ansichtskarte aus Oberammergau. Ein Geschäft mit Schnitzwaren. Im Hintergrund ruft der Hausberg, der Kofel.

Oberammergau, 8.8.1958:  „Meine liebe, gute Christl! / Bist Du sehr enttäuscht, daß Du so lange auf eine Antwort warten mußtest? Und dabei hatte ich mich so gefreut, nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte. / Christl, in erster Linie freue ich mich natürlich auf Dein Kommen mit Lothar. Sicher ist das Wochenende am 30.8. recht. Nur die Finanzen, da hab‘ ich mich mal wieder hinein gerannt. Als ich vor vierzehn Tagen am Samstag den Brief an Dich schrieb, sagte ich noch, wie gerne ich mal wieder in die Berge ginge, aber leider keine Zeit hätte. Ja und als am folgenden Sonntag am Vormittag der blaue Himmel lachte, schwang ich mich halt doch auf’s Rad und fuhr in Richtung Garmisch um eine Bergkette zu begehen, die mir schon lange verlockend zuwinkte. Aber, aber ich hatte mich ein bissel stark mit meinen Kräften übernommen. Vier Zweitausender an einem knappen Tag war zu viel, aber auf der Tour fühlte ich mich so stark und gesund und nahm mich scheinbar vor einer Regenwolke auf einem Gipfel nicht sonderlich in Acht. Jedenfalls lag ich die folgende Woche jede Nacht im Fieber und nur viele Tabletten gaben mir am Tage die Möglichkeit, so mit Ach und Weh ein bissel was zu schnitzen. Unserer Ilse mußte ich abschreiben, denn mit dem Verdienst konnte ich ihren Besuch unmöglich gebrauchen. Na, sie schrieb zu gleichen Zeit, daß meine Mutter krank sei und deshalb auch nicht kommen könne. Doch der berüchtigte Sonntag klang für mich so wunderschön aus, denn ich war mit noch zwei Arbeitskumpels von einer amerikanischen Familie eingeladen worden, am Abend um neun Uhr eine Fernsehsendung anzusehen, die einige wunderschöne Aufführungen des russischen Balletts zeigten. Aber das war eine Augenweide und der objektive Ansager übertrieb nicht, als er sagte, daß die Russen mit ihren Solotänzern atemberaubend einmalig sind. Ich würde jetzt überfließen, wenn ich die Schwerelosigkeit der Primaballerina aoder die großartigen Sprünge der männlichen Tänzer im „Schwanensee“ oder dem „Sterbenden Schwan“ beschreiben würde. Also ich lag ganz selig erschlagen am Abend im Bette. Acht Tage später, am vergangenen Sonntag, kam im Kino in Farben und Bühenbildern die ganze Oper aus dem Fernsehen als Film. Das war fast noch schöner. Aber Christl, vielleicht läuft der Film über das russische Ballett auch bei Euch. Da mußt Du hinein. Das „Schwanensee“ mußt Du sehen. Wie da die Liebe ihren vollendeten Ausdruck im Tanz findet, ist sehr, sehr schön. Ja und noch eine Freude hatte ich diese Woche mit meinen beiden Kumpels. In der Wieskirche war am Mittwoch ein Kirchenkonzert am Abend. Es sang ein Chor der internationalen ökonomischen1 Kirchenwoche, ein Bläserchor und ein kleines Orchester. Lauter gute Meister. Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ und „Jesu meine Freude“. Ach, es war wieder sehr schön. Diese großartige Kirche wollte ich schon lange einmal in aller Ruhe betrachten und geführt von der Musik konnte sich da das Auge so recht erfreuen an den Barock- und Rokokoformen. Anschließend trat ein junger Pfarrer auf die Kanzel und erklärte die Geschichte und Bauweise der Kirche ganz noch im Feuer der Musik und, als lächelte sogar der Himmel auf den schönen Abend, kam die Sonne im letzten Gold durch die großen Fenster und das viele Gold und zarte Rot und reine Weiß bildeten mit der schönen Bauweise eine vollendete Harmonie. Ja, das war ein gelebter Abend und die Heimfahrt duch die Wälder und Berge war halt auch herrlich. / Christl, Lieb, ich bekomme manchmal oder öfters ein schlechtes Gewissen, denn ich hab‘ es doch oft sehr schön und Du mußt Dich plagen. Und besonders jetzt. Ja und da hab‘ ich auch noch was gemacht. Nämlich, ich brauchte dringend Schuhe und was hab‘ ich gekauft? Gleich drei Paar auf einen Schlag. Ein Paar Sonntagsschuhe, beige, im italienischen Schnitt, ein Paar feste Halbschuhe für den Werktag und ein Paar Bergschuhe, die mir schon lange in der Nase stecken. Zusammen hat’s 120,- Mark gemacht. Ach, das liebe Geld. Ich jage hinter ihm her und krieg’s so spärlich herein. Einige Entwürfe von Kruzifixen hab‘ ich wieder gemacht, aber ob es deshalb besser wird mit dem Geldverdienen, glaub ich nicht, denn die Firma will doch ihre alten Modelle auf dem Markt behalten, an denen aber nicht viel zu verdienen ist und ein anderer Verleger will wohl meine Modelle und würde mich auch gut bezahlen, aber ich mag mich nicht von meiner Firma lösen, denn ich bin schon so oft gewandert. So arbeite ich halt so viel als möglich schwarz, aber allzuviel kommt auch nicht dabei heraus. Wenn Du hier bist in drei Wochen, wirst Du das aber noch oft genug von mir zu hören bekommen. / Christl, Herz, ich bin doch froh, daß bei Euch zu Hause wenigstens die Waltraud wieder weg ist. Das Mädel hat doch ein Glück gehabt. / Christl, Lieb, was ist es bloß in unserem Leben, wie ist es doch so schwer. Aber in die Haut von einem Menschen wie Waltraud möchte ich doch nicht schlüpfen, denn wenn ich gerade so was sehen und erleben darf wie das Kirchenkonzert und die Ballettaufführung, bin ich froh, daß ich ich bin. Ja, das Leben ist schwer für uns und im Augenblick scheinbar ohne schöne Aussicht. Aber Christl, ich hab‘ Dich lieb, so unendlich lieb und weil ich weiß, daß Dir diese schönene Stunden auch gefallen würden, bin ich so froh, daß ich mit Dir verheiratet bin. Wenn es mir auch sehr weh tut, daß ich so wenig Geld habe. / In unsere Werkstatt kommt immer wieder ein kleines Mädel und schmeichelt so lieb weiblich, daß ich mich wirklich freuen würde, wenn unser Baby ein Mädel werden würde. / Christl, Lieb, ich sage Dir jetzt gute Nacht und sende Dir und Lothar die herzlichsten, liebsten Grüße. / Euer Berthold! / Viele Grüße an Mutti und Siegfried!“

Oberammergau, 21.8.1958: „Liebe, liebe Christl! / Vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Grüße, die Du Deiner Geschäftskollegin aufgetragen hast. (Ich hatte die Frau gar nicht mehr erkannt.) / Ja, Christl, je näher der erste September kommt, desto mehr sehe ich, daß es mir mit dem Geld bei bestem Willen nicht reicht. / So schlecht wie in diesem Monat ging es mir finanziell schon lange nicht. / Und vorm Schuldenmachen graut es mir. Christl, bitte, bevor ich mir für den nächsten Monat wieder eine Geldlast auflade oder ein paar supersparsame Tage mit Dir hier verbringe, bleibe ich wirklich lieber alleine. Christl, sei so gut und verstehe das. Ich grüße Dich und Lothar auf das Herzlichste. / Euer Berthold. / Viele Grüße an Mutti u. Siegfried!“

Oberammergau, 25.8.1958: „Meine liebe, liebe Christl! / Das hab‘ ich natürlich nicht gewollt, daß Du mir Geld schickst. Schatz, tausend Dank dafür. / Christl, ich überleg natürlich hin und her und wie schön es wäre, wenn Du für ein paar Tage hier sein könntest, aber zum Schluß komm‘ ich doch auf den Wunsch, im kommenden Monat wieder auf meine normale Höhe zu kommen und die laufenden Zahlungen gut durchführen zu können. Ach und bei dem Gedanken ans Geld werfe ich alle meine Wünsche über Bord und will nur noch sehen, daß ich vorwärts komme, um die Geldlast weg zu kriegen. Wir brauchen doch ab Winter wieder mehr Geld. Christl, sei so gut und mach Dir ein paar schöne Tage in Deinem Urlaub. Nimm doch einen Teil des vorgesehenen Urlaubsgeldes dafür. Kauf Dir ein Paar Schuhe, gehe ein bissel aus und versuche, Dich zu erholen. Ich finde hier mit meinen Arbeitskameraden immer wieder schöne Stunden beim Bergsteigen und Konzertbesuch. Christl, Lieb, viele herzliche Grüße / Dein Berthold!“

Unbedachter Sozialneid und Porträt des Schnitzers als Gärtner

Oberammergau, 24.2.1957, an Ch. Rumold: „Gell, wenn man im Radio von den Errungenschaften der Metallarbeiter hört, mit ihrer Fünftagewoche und dem Lohnausgleich im Krankheitsfalle, da schütteln wir nur den Kopf und der Seppl sagt dazu: „Hätt‘ ma doch nor was g’scheit’s g’lernt!“ Aber gerade weil ich sehe, wie unregelmäßig bei uns gearbeitet wird, wie ein Unwohlsein oder Krankheit den Verdienst einer Woche so enorm schmälern können, will ich unbedingt einmal auf Nummer sicher gehen. / Schatz, vor mir steht neben Deinem Bilde ein kleiner Blumenstock, ein ‚fleißiges Lieschen‘, und treibt und treibt seine Blätter. Hab ich Dir eigentlich schon von ihm geschrieben? Er war nur ein kleiner Ableger mit einem roten Blütchen. Der Hans, ein Arbeitskumpel, hatte zwei und schenkte mir eines davon. Das seine hatte drei Blüten und meine eine fiel zum Pech auch noch bald ab. Aber das Stöckle treibt dafür Blätter noch und noch und geht schön gerade in die Höhe, daß ich meine größte Freude daran habe. Wie einem so ein ständiges Wachstum unter einer eigenen Pflege doch erfreuen kann. Dem Hans seines will nicht recht wachsen, scheinbar weil es zu arg blüht. Er hat jetzt die Blüten abgepflückt, vielleicht wird’s dann besser. Ein bissel Kopfweh hab ich wieder, sicherlich ist das trübe Wetter daran schuld, ich werde besser eine Tablette nehmen.“

Die Bezahlung auf Stücklohnbasis war zweifellos von Nachteil, etwa wenn einer der Schnitzer krank wurde. Andererseits bot das verkappte Verlagswesen, das von ‚Lang selig Erben‘ ins 20. Jahrhundert hinein gerettet worden war, geradezu erstaunliche Vorteile. Bei entsprechendem Arbeitseinsatz lagen die Verdienstmöglichkeiten deutlich über denen der meisten („anderen“) Fabrikarbeiter mit ihren vertraglich garantierten Festlöhnen samt bezahlten Urlaubstagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Aber vor allem: die Schnitzer benahmen sich in ihrer Werkstatt als wären sie dort zuhause (ein typisches Kennzeichen des Verlagswesen war ja auch die Heimarbeit). Kontrollen irgendwelcher Art gab es nicht. Jeder kam und ging zu jeder Tages- und Nachtzeit wie er wollte oder konnte, und dies auch an Sonn- und Feiertagen. In der Werkstatt konnte man sich etwas kochen, es wurde gegessen und getrunken, das Radio lief beinahe ohne Unterbrechung. Mein Vater schrieb dort die Mehrzahl der Briefe an meine Mutter (ich hätte dieses Buch auch „Briefe aus einer Oberammergauer Schnitzwerkstatt“ nennen könne), während am Tisch in der Ecke ein Kartenspiel im Gange war oder die Kumpels sich fürs Fastnachtstreiben umzogen. Und vielleicht am erstaunlichsten: es war sogar möglich, nebenbei in Schwarzarbeit Schnitzaufträge für fremde Abnehmer zu erledigen oder die fertigen Stücke nicht an die eigene Firma, sondern unmittelbar an winters wie sommers hereinschneiende Touristen zu verkaufen (dann vermutlich unter dem Ladenpreis der Firma, aber über dem Betrag, den man von ‚Lang selig Erben‘ dafür bezahlt bekommen hätte). Den Werkstattinhaber schien das nicht zu interessieren, solange er von seinen Schnitzern eine ausreichende Menge an verkaufbaren Schnitzerein erhielt.

Mal schön, mal stolprig

Oberammergau, 2.8.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Ich bekam beim Lesen Deines lieben Briefes ein ganz schlechtes Gewissen, denn während Du voll Sehnsucht an mich schriebst, spazierte ich ganz ruhig mit drei Frauen auf den Pürschling. Es waren Feriengäste, die bei uns in der Werkstatt schön eingekauft hatten, und weil meine Kumpels dabei die besten Verdiener waren, konnte ich für sie zum Dank den Frauen die Gegend zeigen. Es war aber trotzdem ein schöner Nachmittag. […] Ja, der Hans kommt am Sonntag für acht oder 14 Tage her und ich hoffe nur, daß das schöne Wetter weiter so anhält, damit ihm nicht die Zeit lange wird. Ich lasse ihn mal ziemlich alleine die schöne Natur hier erleben. er soll mal empfinden wie die Ruhe im Alleinesein ist. Vielleicht tut es ihm gut, vielleicht ist es ihm aber auch nicht recht. Mal sehen. Ich freue mich wenn er da ist. Es ist halt manchmal doch einsam und bei aller Freude, die ich mit den Kumpels habe, konnte ich doch noch nicht so was wie eine Kameradschaft schließen, denn die Wirtschaft mit ihrem Gestank ist nicht mein Milieu, in dem ich mich am Abend wohlfühle. Und am Sonntag Kundinnen spazierenführen ist doch zu gefährlich. Christl, Lieb, eben hab‘ ich das Geschriebene durchgelesen und es ist mir nicht ganz recht, daß ich das Schaffen mit den Leuten in den Worten so übertrieben habe. Vorgestern hatten wir die ganze Bude voll mit Leuten, die einen echten Ludwigshafener Dialekt sprachen und als ich sagte, daß ich auch von dort her bin, war das Hallo natürlich groß und ich mußte ihnen alles genau erklären, was wir hier machen und das ganze Drum und Dran. Dann wollten viele eine Schnitzarbeit mitnehmen, was mich zu der Arbeit brachte, mit so nahezu zehn Leuten und Kumpels zu verhandeln, aber mehr als ein Trinkgeld kam dabei nicht heraus. Im Gegenteil, meine Kumpels schimpfen jetzt mit mir, weil meine Landsleute so Geizkragen sind. Da läßt sich mit den Amerikanern eher ein Geschäft machen. So vergehen die Tage, mal ein bissel schöner und mal stolprig.“

Zu einer Poetik des Briefes und vom Bruddeln und Ausländergucken

Oberammergau, 7.7.1957, an Ch. Rumold: „Schatz, bis Du den Brief erhältst, ist es Dienstag und deshalb sollte ich ihn vielleicht im Dienstagmorgen-Geiste schreiben, aber es ist halt jetzt Sonntag – lies ihn bitte in einer ruhigen Nachmittagsstunde nochmal. Die Sonne scheint so friedlich in unsere Werkstatt. Ich habe heute länger geschlafen, wollte Dir dann gleich schreiben, habe aber gesehen, daß Dich der Brief morgen doch nicht mehr erreicht und dann halt ein bissel geschnitzt oder geputzt an der Lampe, meiner Sonntagsschnitzlerei. Das Radioprogramm war recht schön. Das Kaffeetrinken hab ich dann auf elf Uhr verlegt, das ist so günstig, weil, wenn ich bis halb zwölf gemütlich kaue und trinke, eben gleich das Mittagessen einbezogen werden kann. Als ich wieder alles verstaut hatte, kam einer meiner Kumpels, der Anderl, um ein bissel zum bruddeln. Er ist einer der wenigen Menschen, mit denen ich gerne so ein bissel bruddle. Es gefällt ihm dann die Radiosendung nicht, die ich geholt habe, und wenn ich auch noch die Uhr aufgezogen habe, so daß er’s nicht mürrisch machen kann, stellt er sich hinter mich und wackelt von einem Bein auf das andere. Bis ich ganz urbayrisch schimpfe, so ‚am Oa…‘ – nein, ich schreib’s besser nicht. Ich ging danach ein wenig mit ihm auf die Straße, da stehen vor unserem Haus unter einer Linde zwei Bänke und wenn ich da eine Weile bei ihm sitze, mit seiner Sonnenbrille auf der Nase, sind wir eigentlich beide zufrieden. Und der Verkehr fließt an einem vorbei, also ich kann Dir sagen, man weiß nicht wohin zuerst mit den Augen. Die Omnibusse voll winkender Menschen, die älteren Ausländerinnen in farbenschreiendster Aufmachung. Energisch aussehende Männer mit schönen Frauen. Alles lacht, schwitzt und so weiter.“

"Oberammergau - Dorfplatz mit Kofel": rechts im Bild vermutlich die beiden (in Rot gestrichenen) Bänke, von denen im Brief die Rede ist.

„Oberammergau – Dorfplatz mit Kofel“ (Mitte der 1950er Jahre): rechts im Bild vermutlich die beiden (in Rot gestrichenen) Bänke unter einer Linde, von denen im Brief die Rede ist.

Hände hoch, ich bringe Ihnen einundsiebzig Mark!

Mein Vater schickte meiner Mutter während der sechs Jahre (1956-1962), in denen er in Oberammergau bei Lang selig Erben als Schnitzer arbeitete, wöchentlich Geldbeträge zwischen vierzig und hundert Mark. In der Regel steckte er wohl die Scheine einfach mit in den Briefumschlag, gelegentlich tragen die Briefe am unteren Rand Vermerke wie „anb. 70,- DM“. Ein sicherer, wenn auch mit zusätzlichen Kosten verbundener Weg des Geldtransfers wäre die Zustellung per Geldbriefträger gewesen. Bis 1987 trugen diese „Geldboten der deutschen Bundespost“ (so die offizielle Bezeichnung) Pistolen bei sich, um im Fall der Fälle die Rente oder Postanweisung gegen etwaige Wegelagerer verteidigen zu können. Geldbriefträger gab es immerhin bis April 2002, nach 1987 waren sie allerdings nur noch mit Mobiltelefonen bewaffnet.

Oberammergau, 23.3.1957, an Ch. Rumold: „Unser Bub steht oft genug deutlich vor mir, der kleine Spatz. Wirf ihm bitte die eine Mark über den siebzig in seine Kasse. Ich habe das Geld diesmal einbezahlt, bin aber nicht ganz zufrieden, weil dieser Weg fünfzig Pfennige kostet, mit denen ich gerne etwas anderes angefangen hätte. Ich glaube, das nächste Geld schicke ich wieder im Brief. Heute am Samstag hatte ich einen richtigen Arbeitseifer, ganz im Gegensatz zum letzten. Es macht mir auch jetzt immer mehr Spaß, weil die Arbeit immer leichter von der Hand geht. Lieb, sag doch Herrn Geier, daß ich ihm eine geschnitzte Schachfigurenserie besorgen kann. Ich selbst könne sie leider nicht schnitzen, da ich dringend anderen Aufträgen nachkommen müsse. Die Preise liegen bei dreihundert Mark ohne Brett. Es sind das recht nett geschnitzte Figuren, aber eben auch teuer. Billiger sind sie in der Ausführung nirgendwo, denn das Zeug geht weg wie warme Semmeln. Es sind auch immerhin 32 Einzelfiguren.
Sonst bin ich wirklich zufrieden. Meine Kumpels werden mir immer lieber und die Arbeit leichter. Jetzt ist bei uns die große Zeit des ‚Hornsuchens‘. Horn sind Geweihe der Hirsche. Die werfen jetzt im März ab und die Kerle sind dahinter her, als wären sie aus Gold, dabei flacken sie bald in irgendeiner Zimmerecke, um zu verstauben. Aber es ist nicht erlaubt, diese Apparate zu behalten und so bieten sie eine anreizende Gelegenheit, den Jägern zu beweisen, daß sie Schlafmützen seien: bis die aufsehen ham mia Buam schon längst die Horn dahoam. Ja, und dann weiß ich jetzt auch, daß am 24. März die ersten Schwalben kommen und die Frösche schon da sind. Es gefällt mir ganz gut, wie die Kumpels das Jahr kennen und zu jeder Zeit ihre besonderen Ereignisse haben.“

Von einer fröhlichen Insel und einem, der auch zur See fahren will

Oberammergau, 23.2.1957, an Ch. Rumold: „Ich war heute am Bahnhof und habe mich nach der Zugverbindung orientiert und wenn alles gut verläuft, bin ich nächsten Samstagmittag 12:59 Uhr bei dir und Lothar. Lieb, in der Bahnhofshalle war ich mit meinem Empfinden schon in Karlsruhe, als da alles im Normaldeutsch sprach und sich ständig bewegte. Als ich dann wieder die Dorfstraße hinauf ging, mußte ich direkt umschalten. Na, ich werde glücklich sein, wenn du mit dem Buben auf mich wartest. […] Christl, gell, das letzte Mal war’s ein kurzer Brief. Ich hatte am Samstag gerade einen Brief an Waltraud fertig, da kamen meine Kumpels und ich zog mit ihnen los auf einen ‚Sportlerball‘. Es war auch ganz nett. Wir waren alle im Normalanzug vom Meister bis zum Stift und bildeten unter den Maskierten eine fröhliche Insel. Es war mir wirklich zum Vorteil während der ganzen Woche, denn jeder war froh, daß ich auch mal mitgemacht hatte und nicht stur wie sonst arbeitete. Es wurde schon vier Uhr am Sonntagmorgen bis ich ins Bett kam. Viel getrunken hatte ich nicht, aber es war trotzdem recht schön. Ja, der Waltraud habe ich geschrieben, denn ich wollte die Seemannsschule, die Günther besucht hat, wissen für unseren Hans. Der Bub rennt sich fast krankhaft den Kopf ein und will ab auf die See. Na, ich brauch diese übereilten Unmöglichkeiten ja nicht weiter auszuführen. Wenn ich ihn nur soweit bekomme, daß er zuerst seine Prüfung als Postler macht und dann diese Fachschule besucht und absolviert, damit er doch nicht als Hilfsarbeiter einmal umanander irren muß. An die Schule habe ich schon geschrieben und hoffe, daß sie baldigst antwortet.“