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Solche und solche Mühen oder In der Wand und an der Wand

In den Ammergauer Bergen.

In den Ammergauer Bergen.

Was passierte, als die beglückenden Mühen der Berge hinter ihm und die Mühen des Erwerbs- und Familienlebens in der Rheinebene bei Karlsruhe vor ihm lagen und auf ihm lasteten? Es muss mehr als nur ernüchternd gewesen sein, als mein Vater erlebte, was das jahrelang herbeigesehnte ständige Zusammensein mit Frau und Kindern im Alltag bedeutete. Hat er vor sich selbst zugegeben, dass sein vermeintliches Oberammergauer Unglück sein Glück gewesen ist, und dass er, endlich wieder oder erstmals glücklich vereint mit den Seinen, unglücklicher nicht sein konnte? Hinzu kam, dass seine neue alte Werkstatt in Karlsruhe nach 1962 zunächst keineswegs gut lief. Dass in Oberammergau die Nachfrage nach Schnitz- und Bildhauereiwaren kaum befriedigt werden konnte, muss ihn zu dem vermeidbaren Trugschluss verleitet haben, dass dies in Karlsruhe ebenso oder doch so ähnlich auch der Fall sein würde. Die Karlsruher aber brauchten alles mögliche, nur keine geschnitzten Kruzifixe an der Wand.

Ein wahrer Brief, der nicht in der Schublade verschwand

Oberammergau, 21.9.1960: „Liebe Christl! / Heute Abend wartest Du wieder einmal vergeblich auf mich. Lag es nur am Geld, daß ich nicht gefahren bin? Ich hätte mir ja hundert Mark leihen können. Aber diese Geldsorgen reißen mich ja immer weiter von Dir weg. Schatz, Dein ehrlich ausgesprochener Wunschtraum auf der Wiese vom roten Jaguar zeigt doch so deutlich, wie grundverschieden wir beide sind. Ich bin so engstirnig, daß ich nur glücklich bin, wenn ich meiner Frau auch ihre geheimen Wünsche erfüllen kann. Immer zittere ich, wenn Du mir von Autos erzählst, und was noch schlimmer ist, ich stimme in diesen Gesang mit ein, obwohl er mir so widersteht. Ich weiß, daß ich sowas nicht erreiche; ich will es fast nicht erreichen, ich lebe mit dem alleinigen Gebrauch meiner Beine zufriedener. Christl, sicher mußt Du warten, bis Dein Sohn einmal erwachsen ist, obwohl ich Dir wünsche, daß vorher ein normaler Mann mit einem roten Jaguar Deinen Weg kreuzt. Aber hoffentlich noch in der Zeit, da ich hier bin. Christl, ich zittere wirklich vor der Zeit, in der wir wieder beieinander sind. Ich spüre diese krankhafte Eifersucht so schmerzlich, wenn ein Mann bei uns ist, der Dir diese Träume erfüllen könnte, und möchte dann immer nur eines: alleine sein. / Das Leben in dieser Einfachheit ist für mich so schön. Das Erreichen erfüllbarer kleiner Wünsche, der Gang durch Wiesen, Wälder und Berge und eine gemütliche Wohnung kann ich erreichen, und mit einer Frau, die von Natur aus das gleiche Wollen in sich hat, bin ich halt glücklich. / Christl, ich habe Dir schon zweimal ähnliche Briefe geschrieben, damals nach Deinem Buch von der kleinen Näherin mit dem großen Diplomat-Geliebten und in der Zwischenzeit noch zweimal. Ich habe die Briefe immer wieder in meiner Schublade liegen lassen. Sie liegen noch drin, ich konnte sie nicht wegwerfen, sie waren mir zu wahr. / Christl, ich habe Dich lieb, ich würde Dich gerne glücklich sehen, wenn es mich auch noch so schmerzt. / Ich sende Dir meine herzlichsten Grüße. / Berthold.“

Der Traum vom roten Jaguar erfüllte sich für meine Mutter nach dem Tod meines Vaters in Form eines roten VW Passat Variant mit Klimaanlage. Warum es dieses viel zu geräumige und unsinnig teure Auto sein musste, habe ich damals nicht verstanden. Natürlich wusste auch mein Vater die Annehmlichkeiten eines Autos zu schätzen – und das nicht erst in späteren Jahren. Doch ist in diesem Brief ein quasi naturgegebener Unterschied erkannt und benannt, der wohl wesentlich zu dem sich nach seiner Rückkehr aus Oberammergau über dreißig Jahre hinziehenden Scheitern der Ehe beigetragen hat. Mein Vater konnte mit sehr wenig sehr zufrieden sein. Ob die lebenslange Unzufriedenheit meiner Mutter bei einem Leben in Wohlstand und Luxus ihre Grundlage verloren und sich in nichts aufgelöst hätte? Es würde auf den Versuch ankommen. Aber man lebt eben nur im Kino zweimal.

Ich liebe Dich sehr, aber komm‘ bloß nicht her! Ein Ammergauer Possenspiel in drei Akten

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Ansichtskarte aus Oberammergau. Ein Geschäft mit Schnitzwaren. Im Hintergrund ruft der Hausberg, der Kofel.

Oberammergau, 8.8.1958:  „Meine liebe, gute Christl! / Bist Du sehr enttäuscht, daß Du so lange auf eine Antwort warten mußtest? Und dabei hatte ich mich so gefreut, nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte. / Christl, in erster Linie freue ich mich natürlich auf Dein Kommen mit Lothar. Sicher ist das Wochenende am 30.8. recht. Nur die Finanzen, da hab‘ ich mich mal wieder hinein gerannt. Als ich vor vierzehn Tagen am Samstag den Brief an Dich schrieb, sagte ich noch, wie gerne ich mal wieder in die Berge ginge, aber leider keine Zeit hätte. Ja und als am folgenden Sonntag am Vormittag der blaue Himmel lachte, schwang ich mich halt doch auf’s Rad und fuhr in Richtung Garmisch um eine Bergkette zu begehen, die mir schon lange verlockend zuwinkte. Aber, aber ich hatte mich ein bissel stark mit meinen Kräften übernommen. Vier Zweitausender an einem knappen Tag war zu viel, aber auf der Tour fühlte ich mich so stark und gesund und nahm mich scheinbar vor einer Regenwolke auf einem Gipfel nicht sonderlich in Acht. Jedenfalls lag ich die folgende Woche jede Nacht im Fieber und nur viele Tabletten gaben mir am Tage die Möglichkeit, so mit Ach und Weh ein bissel was zu schnitzen. Unserer Ilse mußte ich abschreiben, denn mit dem Verdienst konnte ich ihren Besuch unmöglich gebrauchen. Na, sie schrieb zu gleichen Zeit, daß meine Mutter krank sei und deshalb auch nicht kommen könne. Doch der berüchtigte Sonntag klang für mich so wunderschön aus, denn ich war mit noch zwei Arbeitskumpels von einer amerikanischen Familie eingeladen worden, am Abend um neun Uhr eine Fernsehsendung anzusehen, die einige wunderschöne Aufführungen des russischen Balletts zeigten. Aber das war eine Augenweide und der objektive Ansager übertrieb nicht, als er sagte, daß die Russen mit ihren Solotänzern atemberaubend einmalig sind. Ich würde jetzt überfließen, wenn ich die Schwerelosigkeit der Primaballerina aoder die großartigen Sprünge der männlichen Tänzer im „Schwanensee“ oder dem „Sterbenden Schwan“ beschreiben würde. Also ich lag ganz selig erschlagen am Abend im Bette. Acht Tage später, am vergangenen Sonntag, kam im Kino in Farben und Bühenbildern die ganze Oper aus dem Fernsehen als Film. Das war fast noch schöner. Aber Christl, vielleicht läuft der Film über das russische Ballett auch bei Euch. Da mußt Du hinein. Das „Schwanensee“ mußt Du sehen. Wie da die Liebe ihren vollendeten Ausdruck im Tanz findet, ist sehr, sehr schön. Ja und noch eine Freude hatte ich diese Woche mit meinen beiden Kumpels. In der Wieskirche war am Mittwoch ein Kirchenkonzert am Abend. Es sang ein Chor der internationalen ökonomischen1 Kirchenwoche, ein Bläserchor und ein kleines Orchester. Lauter gute Meister. Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ und „Jesu meine Freude“. Ach, es war wieder sehr schön. Diese großartige Kirche wollte ich schon lange einmal in aller Ruhe betrachten und geführt von der Musik konnte sich da das Auge so recht erfreuen an den Barock- und Rokokoformen. Anschließend trat ein junger Pfarrer auf die Kanzel und erklärte die Geschichte und Bauweise der Kirche ganz noch im Feuer der Musik und, als lächelte sogar der Himmel auf den schönen Abend, kam die Sonne im letzten Gold durch die großen Fenster und das viele Gold und zarte Rot und reine Weiß bildeten mit der schönen Bauweise eine vollendete Harmonie. Ja, das war ein gelebter Abend und die Heimfahrt duch die Wälder und Berge war halt auch herrlich. / Christl, Lieb, ich bekomme manchmal oder öfters ein schlechtes Gewissen, denn ich hab‘ es doch oft sehr schön und Du mußt Dich plagen. Und besonders jetzt. Ja und da hab‘ ich auch noch was gemacht. Nämlich, ich brauchte dringend Schuhe und was hab‘ ich gekauft? Gleich drei Paar auf einen Schlag. Ein Paar Sonntagsschuhe, beige, im italienischen Schnitt, ein Paar feste Halbschuhe für den Werktag und ein Paar Bergschuhe, die mir schon lange in der Nase stecken. Zusammen hat’s 120,- Mark gemacht. Ach, das liebe Geld. Ich jage hinter ihm her und krieg’s so spärlich herein. Einige Entwürfe von Kruzifixen hab‘ ich wieder gemacht, aber ob es deshalb besser wird mit dem Geldverdienen, glaub ich nicht, denn die Firma will doch ihre alten Modelle auf dem Markt behalten, an denen aber nicht viel zu verdienen ist und ein anderer Verleger will wohl meine Modelle und würde mich auch gut bezahlen, aber ich mag mich nicht von meiner Firma lösen, denn ich bin schon so oft gewandert. So arbeite ich halt so viel als möglich schwarz, aber allzuviel kommt auch nicht dabei heraus. Wenn Du hier bist in drei Wochen, wirst Du das aber noch oft genug von mir zu hören bekommen. / Christl, Herz, ich bin doch froh, daß bei Euch zu Hause wenigstens die Waltraud wieder weg ist. Das Mädel hat doch ein Glück gehabt. / Christl, Lieb, was ist es bloß in unserem Leben, wie ist es doch so schwer. Aber in die Haut von einem Menschen wie Waltraud möchte ich doch nicht schlüpfen, denn wenn ich gerade so was sehen und erleben darf wie das Kirchenkonzert und die Ballettaufführung, bin ich froh, daß ich ich bin. Ja, das Leben ist schwer für uns und im Augenblick scheinbar ohne schöne Aussicht. Aber Christl, ich hab‘ Dich lieb, so unendlich lieb und weil ich weiß, daß Dir diese schönene Stunden auch gefallen würden, bin ich so froh, daß ich mit Dir verheiratet bin. Wenn es mir auch sehr weh tut, daß ich so wenig Geld habe. / In unsere Werkstatt kommt immer wieder ein kleines Mädel und schmeichelt so lieb weiblich, daß ich mich wirklich freuen würde, wenn unser Baby ein Mädel werden würde. / Christl, Lieb, ich sage Dir jetzt gute Nacht und sende Dir und Lothar die herzlichsten, liebsten Grüße. / Euer Berthold! / Viele Grüße an Mutti und Siegfried!“

Oberammergau, 21.8.1958: „Liebe, liebe Christl! / Vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Grüße, die Du Deiner Geschäftskollegin aufgetragen hast. (Ich hatte die Frau gar nicht mehr erkannt.) / Ja, Christl, je näher der erste September kommt, desto mehr sehe ich, daß es mir mit dem Geld bei bestem Willen nicht reicht. / So schlecht wie in diesem Monat ging es mir finanziell schon lange nicht. / Und vorm Schuldenmachen graut es mir. Christl, bitte, bevor ich mir für den nächsten Monat wieder eine Geldlast auflade oder ein paar supersparsame Tage mit Dir hier verbringe, bleibe ich wirklich lieber alleine. Christl, sei so gut und verstehe das. Ich grüße Dich und Lothar auf das Herzlichste. / Euer Berthold. / Viele Grüße an Mutti u. Siegfried!“

Oberammergau, 25.8.1958: „Meine liebe, liebe Christl! / Das hab‘ ich natürlich nicht gewollt, daß Du mir Geld schickst. Schatz, tausend Dank dafür. / Christl, ich überleg natürlich hin und her und wie schön es wäre, wenn Du für ein paar Tage hier sein könntest, aber zum Schluß komm‘ ich doch auf den Wunsch, im kommenden Monat wieder auf meine normale Höhe zu kommen und die laufenden Zahlungen gut durchführen zu können. Ach und bei dem Gedanken ans Geld werfe ich alle meine Wünsche über Bord und will nur noch sehen, daß ich vorwärts komme, um die Geldlast weg zu kriegen. Wir brauchen doch ab Winter wieder mehr Geld. Christl, sei so gut und mach Dir ein paar schöne Tage in Deinem Urlaub. Nimm doch einen Teil des vorgesehenen Urlaubsgeldes dafür. Kauf Dir ein Paar Schuhe, gehe ein bissel aus und versuche, Dich zu erholen. Ich finde hier mit meinen Arbeitskameraden immer wieder schöne Stunden beim Bergsteigen und Konzertbesuch. Christl, Lieb, viele herzliche Grüße / Dein Berthold!“

Wilde Burschen hindern am Schreiben

Oberammergau, 24.6.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Wenigstens einen Kartengruß aus meinem schreibmiseriablen Zustand. Und das Geld, das mir mit verschiedenen Ausgaben diesen Monat grad so unter den Fingern zerrann. Lieb, ich bin froh, daß Du gesund bist und Lothar. Ich wünsche Mutti gute Besserung. Hoffentlich wird der nächste Monat besser. Oft könnte ich verzweifeln, daß ich nicht fähig bin, ein ordentliches Familienleben zustande zu bringen. Da schreibe ich Briefe, die ich später gleich zerreiße. Tausend Grüße, Dein Berthold!“

Zwei Wochen zuvor, am 11.6.1957, war von seiner Schreibmiseriabilität noch nichts zu merken gewesen: „Meine liebe Christl! Wenn es doch ein ruhiges Zimmer gäbe … Kaum hab ich das jetzt in der Frühe um halb sechs Uhr geschrieben, da stolpert schon wieder unser Edmund herein und redet, wie’s die Bäuerlein eben gerne tun. Schatz, ich hab so heftig geschrieben, daß Du nicht kommen solltest, und dann sitzt man doch da und wartet und hofft. – Na, es gab wenigstens tatsächlich keine Geldausgaben. Im Augenblick ist es wirklich schlimm. Dauernd wechseln die Christusmodelle, mal ein Riemenschneider, dann ein normaler Oberammergauer, dann ein Würzburger. Das ist zwar interessant, aber als Stücklohnarbeit läßt es kein Geld zusammenbringen. Es ist bei uns jetzt auch so langsam über den Frühling hinausgegangen und die Wiesen duften und die Berge locken. Ich kaufte mir eine Wanderkarte, die mir am Sonntag schon guten Dienst geleistet hat. Ich möchte nicht in hochschnellenden Zügen so eine Bergtour beschreiben. Dazu müsstest Du hier sein und eine solche mitmachen. Da ist der Kofel doch ein kleines Felsle gegen das Wettersteingebirge. Ich fühle mich auch recht sicher am Berg und bei einiger Vorsicht wird auch nichts Unfallähnliches geschehen. Mein Lieb, für Dein schönes Päckchen und Euer beider lieben Gruß vielen, vielen Dank. Wenn nur die Bude nicht so voll von wilden Burschen gewesen wäre, ich hätte so gerne gleich geschrieben. Christl, mein Herz, bleib mir gut und gesund mit unserem Lothar. Gott behütet und vielmals gegrüßt und geküßt von
Deinem Berthold. Viele Grüße an Mutti und Siegfried!

Eine Wanderung auf die Geierköpfe

Oberammergau, 27.10.1957, an Ch. Rumold: „Gestern machte ich eine wunderschöne Wanderung auf die Geierköpfe, das sind drei Zweitausender, die in Richtung Linderhof liegen und nicht so einfach zu besteigen sind. Um halb fünf fuhr ich mit dem Rad los. Ein schwarzer Himmel, bespickt mit Millionen Sternen lag fast bedrückend über dem Tal. Wenn kein Mond da ist, geht von den vielen Sternen keine Helligkeit aus und die Berge standen links und rechts und waren auch nicht gerade anheimelnd. Licht hatte ich keines am Rad und so fuhr ich im Dunkeln. Ich wollte mal wieder am Sabbat [dem Sonntag der Adventisten, L. R.] alleine sein – nun war ich alleine und die zuckenden Lichtstreifen der Sternschnuppen erschreckten einen immer wieder. An einem Bauernhaus fuhr ich vorbei, es stand einsam im Walde. Nein, dachte ich, wenn der Besitzer nicht zwei gute Hunde hat, ist es doch ein bissel gefährlich, hier zu wohnen. Um sechs Uhr war ich an der Landesgrenze und da begann es auch endlich zu dämmern und um halb sieben war ich am Fuße der Geierköpfe. Das Tal war hier hinten noch enger geworden und so düster es war, oben die Gipfel bekamen schon einen leichten Schein. Mein Rad stellte ich ins Unterholz und dann suchte ich den Pfad, aber nach zehn Meter brachte mir eine glatte Holzscheide schon den Erdboden fünf Zentimeter unter meine Nase. Na, das geht ja gut an, dachte ich, dachte aber auch gleich weiter, daß mir ein ganz reibungsloser Anfang auch nicht erwünscht ist. Ja, jetzt stieg ich und stieg und es wurde hell und ich bekam Hunger und ich setzte mich und aß und siehe unterm Essen sah ich wie schön hoch ich schon war und wie golden die Sonne die Gipfel umwarb. Ja, jetzt wurde der Tag schön. Immer höher ging der Weg und der Schnee auch. Ich stieg nämlich an der Nordseite, wenn’s da mal geschneit hat, bleibt der Schnee ein dreiviertel Jahr liegen, denn keine Sonne kann ihn auflecken, aber ich sah, daß ich bald hoch genug war, daß der Weg um den Berg herum führen konnte und ich somit in die schöne Sonne kam. Und es kam auch bald soweit. Am letzten Baumbestand standen noch zwei Hütten, in denen man übernachten konnte. Eine war offen. Es war die kleinere, ältere. Ganz roh gezimmert steht sie wuchtig da. Im Innern ist eine Seite zum Schlafen aufgebaut. Es sind in einem Meter Höhe waagrechte Balken so lang wie die Wand und ein Brett an der äußeren Seite, damit das dürre Tannenreißig, das als Matraze dient, und der Schläfer nicht herunterkollern. Ja, und dann lagen da noch Steine von einer offenen Kaminstelle. Alles ist geräuchert in der Holzhöhle. Die Schindeln auf dem Dachgebälk lassen die Sonne lustig durchblinzeln und bei schlechtem Wetter sicher auch den Regen. Nein, hier schlafen zu können, ist ein Kunststück. Also lassen wir diese Kunst den Hirten, die im Hochsommer hier ihr einsames Leben führen. Ich stieg weiter, immer den Pfad mit dem Instinkt suchend und lobte mich jedesmal, wenn ich an einer Stelle sah, daß ich ihn noch hatte und dann kam ich endlich in die Sonne. Es war mir ja nicht kalt, nein, im Gegenteil, ich schwitzte und hatte schon in der Hütte meine Wollweste mit Handschuhen liegen lassen, aber die Sonne zu spüren, tat so gut. Und nun wurde auch der Blick frei auf das Wettersteingebirge, die Zugspitze, die Alpspitze, den Waxenstein, den Eibsen, den Plausen, ja das ganze Tirol und Österreich lag im schönsten starken Sabbatmorgen vor mir ausgebreitet. Ach, wenn’s hier schon so herrlich mit der Aussicht war, wie schön würde da erst der Blick vom Gipfel sein. Also los, weiter auf den ersten Gipfel zu. Nun sind die Berge ja so gebildet, daß sie eine senkrechte Nordseite haben und eine weniger schwere Südseite und die Geierköpfe sind ein Massiv mit drei Gipfeln. Geht man auf dem Grat, so erreicht man die drei und kann gemütlich auf der Südseite zurückwandern. Ich hab’s so gemacht und es war wunderschön. Die Gemsen sind mir schon so vertraut, daß ich ihren Ruf nachahmen kann, da bleiben sie stehen und es kam tatsächlich eine bis auf fünf Meter heran. Aber dann machen sie plötzlich einen Sprung und wie die Wilde Jagd fliegen sie davon, daß der Boden donnert von dem sich lösenden Gestein unter den Füßen der ängstlichen Tiere. Aber sie sind so flink wie der Wind. Ja, ich war bis fünf Uhr wieder wohlbehalten und froh aber auch mit zittrigen Knien und brennendem Gesicht unten bei meinem Rad. Aber es war schön, der Spätnachmittag war so milde und ruhig, wenn ich mich umdrehte, lagen die Gipfel auf denen ich noch vor drei Stunden stand, so majestätisch und erhaben da und zeigten ihre faltige Nordseite als wollten sie sagen: Auf uns zu steigen bringt keiner fertig. Das Fahrrad rollte fast von alleine das Tal zurück, nur ab und zu mußte ich in die Padale treten. Die alten bekannten Berge zogen an mir vorbei. Ich hatte sie alle schon bestiegen. Die Sonne vollbrachte noch das Wunder des Alpenglühens und dann mußte ich bald wieder feste die Beinmuskulatur spielen lassen, um noch vor Dunkelheit nach Hause zu kommen. Auf meinem Zimmer angekommen, watschelte mir gleich Frau Strauß hinterher und sagte, daß ich eine Einladung von der Englischlehrerin bkommen hätte zu einem Tanzabend des Schulkurses. Aber ich war erstens zu müde, zweitens zu zufrieden und drittens hatte ich noch drei Mark in der Tasche, die für eine Woche reichen sollten. Und so legte ich mich gleich ins Bett und schlief auch bald ein.“

Mal schön, mal stolprig

Oberammergau, 2.8.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Ich bekam beim Lesen Deines lieben Briefes ein ganz schlechtes Gewissen, denn während Du voll Sehnsucht an mich schriebst, spazierte ich ganz ruhig mit drei Frauen auf den Pürschling. Es waren Feriengäste, die bei uns in der Werkstatt schön eingekauft hatten, und weil meine Kumpels dabei die besten Verdiener waren, konnte ich für sie zum Dank den Frauen die Gegend zeigen. Es war aber trotzdem ein schöner Nachmittag. […] Ja, der Hans kommt am Sonntag für acht oder 14 Tage her und ich hoffe nur, daß das schöne Wetter weiter so anhält, damit ihm nicht die Zeit lange wird. Ich lasse ihn mal ziemlich alleine die schöne Natur hier erleben. er soll mal empfinden wie die Ruhe im Alleinesein ist. Vielleicht tut es ihm gut, vielleicht ist es ihm aber auch nicht recht. Mal sehen. Ich freue mich wenn er da ist. Es ist halt manchmal doch einsam und bei aller Freude, die ich mit den Kumpels habe, konnte ich doch noch nicht so was wie eine Kameradschaft schließen, denn die Wirtschaft mit ihrem Gestank ist nicht mein Milieu, in dem ich mich am Abend wohlfühle. Und am Sonntag Kundinnen spazierenführen ist doch zu gefährlich. Christl, Lieb, eben hab‘ ich das Geschriebene durchgelesen und es ist mir nicht ganz recht, daß ich das Schaffen mit den Leuten in den Worten so übertrieben habe. Vorgestern hatten wir die ganze Bude voll mit Leuten, die einen echten Ludwigshafener Dialekt sprachen und als ich sagte, daß ich auch von dort her bin, war das Hallo natürlich groß und ich mußte ihnen alles genau erklären, was wir hier machen und das ganze Drum und Dran. Dann wollten viele eine Schnitzarbeit mitnehmen, was mich zu der Arbeit brachte, mit so nahezu zehn Leuten und Kumpels zu verhandeln, aber mehr als ein Trinkgeld kam dabei nicht heraus. Im Gegenteil, meine Kumpels schimpfen jetzt mit mir, weil meine Landsleute so Geizkragen sind. Da läßt sich mit den Amerikanern eher ein Geschäft machen. So vergehen die Tage, mal ein bissel schöner und mal stolprig.“

Skizze zu einer Körper-Biografie

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Berthold Rumold mit ca. 30 Jahren in den Ammergauer Bergen

Mein Vater war ein gutaussehnder Mann. Als Junge erkannte ich in ihm Old Shatterhand alias Lex Barker wieder. Was war dagegen schon der Alain-Delon-Vater meines besten Freundes, zumal jener diesen regelmäßig schlug. Ein gutaussehnder Mann mit einem leichten Buckel, den ich schon als Siebenjähriger wahrnahm, da mir auffiel, dass mein Vater bei Tisch keineswegs so vorbildlich gerade saß, wie man es von mir verlangte. Kein Hühne, aber groß, blond und blauäugig genug – von Frauen durchaus umschwärmt bis in seine Fünfziger hinein. Bildhauer wird man nicht zuletzt aus körperlichen Gründen: aus erotischer Liebe zum Plastischen und weil man sich gerne muskulär verausgabt. Noch die angeborene Rückgratverkrümmung schien zu seiner Holzbildhauerei zu passen, da beim Schnitzen nicht selten eine leicht gekrümmte Haltung einzunehmen ist. Ludwig Marcuse sieht im Körper „den großen Vergessenen, der uns herumschleppt“ (Philosophie des Un-Glücks). Nun, bis in seine dreißiger Jahre hinein war mein Vater durchaus nicht somavergessen: er kletterte in den Bergen rund um Oberammergau, fuhr Ski und liebte es, an einem Bach in der Sonne zu liegen; hatte er die Möglichkeit dazu, schwamm er im Rhein. Und das, was er in einem Brief einmal „das gewisse Etwas“ genannt hat, kam zwar (mindestens) bis 1962 mehr als nur etwas zu kurz, dies aber nur aus Mangel an Gelegenheit und nicht aus Mangel an Interesse.

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Von links nach rechts: Berthold Rumold, Georg Rumold (der eine Großvater) oder Friedrich Ott (der andere Großvater), Klara Rumold (die Mutter), Änne Rumold (eine Schwester); 1934 im Gartenhaus, Sieglindenstr. 9, Ludwigshafen

Was macht einer, der gerne klettert und im Schnee herumrutscht, wenn ihn das selbst gewählte Schicksal nach Karlsruhe zurück verschlägt? Aus den Bergtouren alleine oder mit einem Kumpel wurden Spaziergänge mit der Familie, Rad- und Wandertouren mit der Tochter. Ansonsten war der Körper Bestandteil des Arbeitsprozesses und ging, als deren unabdingbare Voraussetzung, ein in die Holz- und Steinbildwerke, die er schuf. Den Werken tat das gut, den Knochen, Muskeln, Sehnen und Venen nicht nur. Der krumme Rücken wurde immer krummer. War es auch ein körperliches Sich-am-Ende-Fühlen, das meinen Vater schließlich veranlasste, einem Bekannten gegenüber zu äußern, er habe mit dem Leben abgeschlossen? Oder war es am Ende noch einmal jenes von weither kommende, existenzielle Es-geht-nicht-Mehr, das er mir vererbt zu haben glaubte, wie er im Brief vom 8.2.1958 schrieb: „Ist unser [damals zweieinhalb Jahre alter] Lothar wieder gesund? Es ist mir sehr nachgegangen, daß er sagte, es ginge nicht mehr. Das ist ein Stück Wesen von seinem Papa.“

Föhn und Fastnacht und ein später Spaziergang

Oberammergau, 9.2.1957: „Meine liebe Christl! Ich hatte in den kalten Wintertagen oft sehnlichst nach dem Frühling Ausschau gehalten, aber was die vergangene Woche bot an Sonnenschein und nahezu berauschend warmem Föhn, macht mir fast bange vor dem Frühjahr. Ich hatte eine unendliche Sehnsucht nach dir und unserem Lothar. Am Sonntag konnte ich mittags ganz einfach nicht mehr arbeiten. Aber, wenn man draußen sitzt an der Romanshöhe, ist einem auch nicht wohl, denn alles ist voll von jungen Leuten oder besser gesagt, Pärchen und wenn einem schon ein Einzelner begegnet, schaut er oder sie so hungrig drein, daß man Angst bekommt, auch einen solchen Eindruck zu machen und deshalb bald wieder ins Dorf in die Werkstatt geht. […] Lieb, eben mußte ich für eine Weile den Brief unterbrechen, denn meine Kumpels kamen, um sich für einen Maskenabend einzukleiden. Also, wenn sich die jungen Kerle in alte Frauenkleider stecken und sich eine Holzmaske vors Gesicht binden, bekomme ich wie beim Nikolaus ein enges Gefühl ums Herz. Hüpfen sie dann eine Weile umeinander, so gewöhnt man sich ja dran, aber schön ist das wirklich nicht, nur grotestk, wenn unter einer grinsenden Fratze ein ernstes Gesicht hervor kommt und flucht, weil das Ding nicht recht passt. Heute hatten wir ein recht stürmisches Wetter und erst gegen Abend beruhigte sich der Himmel und geradezu tröstend umspielte der Sonnenschein noch einmal die Berggipfel, als ich zur Lichtzeit einen Spaziergang machte. Ich ging zur Bergbahn hoch und ein Stück zu Fuß den Berg hinauf, bis ich eine ganz ansehnliche Höhe erreichte und einen Blick auf die umliegenden Gipfel bekam. Es war ein ganz klarer ruhiger Abend. Es roch nach frisch geschlagenen Bäumen und nach der Anstrengung eines schnellen Aufstiegs keuchte der Körper wohlig, langsam sich beruhigend. Es ist dann unglaublich schön. Daß im Lande Menschen wohnen, die sich jetzt streiten oder gar Krieg führen, es will einem nicht in den Kopf. Mit einem stillen Seufzer schaut man nach der Ebene zu und ich wünschte mir, daß du bei mir wärst. Dann merkte ich plötzlich, dass der Mond schon meinen Schatten auf den Boden zeichnete und stieg langsam wieder ins Tal.“

Alle Wege führen nach Oberammergau

Ende Oktober 1956 war mein damals siebenundzwanzigjähriger Vater mit seinem nur wenig älteren Bruder Günther mit dem Auto unterwegs im Voralpenland – wohl um die Landschaft in Augenschein zu nehmen, deren Teil mein Vater nun werden sollte. Denn wenig später arbeitete er schon für Lang selig Erben in Oberammergau als Holzschnitzer. Die Ansichtskarte stammt vom 22.10.1956, von meinem Vater irrtümlich mit 1957 datiert. Konnte er es damals schon kaum erwarten, wieder nach Karlsruhe zu seiner Familie zurück zu kehren? Obwohl die Jahre im Ammergau einmal die glücklichsten seines Lebens gewesen sein würden?

"Garmisch, 22.10.1956 - man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold

An Ch. Rumold: „Garmisch, 22.10.57 – Herz! Man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold“

Was wird aus Hans und: einmal Gesichtnachschnitzen für zehn Mark bitte!

Oberammergau, 12.1.1957, an Ch. Rumold: „Meine Elternhausfamilie macht mir augenblicklich leider etwas Sorge, sogar ein bissel viel. Unser Hans [damals sechzehneinhalb] wird scheinbar nahezu unerträglich für meine Mutter und sich selber. Nun habe ich mir überlegt, ihn zu mir zu nehmen und bin deshalb schon hier auf dem Postamt gewesen. Der Postvorsteher sagte mir auch eine Verwendungsmöglichkeit für Hans im hießigen Postdienst zu. Es ist ja bei Hans so, daß er nicht gegen den Postberuf als solchen erbost ist, sondern gegen den Hitlerjugenddrill seiner Vorgesetzten. Letzteren schreibt man im gemütlichen Ammergau ja ganz klein. Ich hoffe auch, daß er hier ein ganz neues Lebensgefühl bekommen wird. Zuerst die Umwelt, die Berge, dann eine Verantwortung im selbständigen Berufsleben, und dann hoffe ich, daß sein Sinn keine Schulden zu machen, sondern zu sparen und somit langsam etwas zu erreichen, ihm auch seinen Beruf wieder schmackhaft macht. Ich werde alles daran setzen, ihm seinen Beruf zu erhalten, und nur wenn es gar nicht anders geht, soll er in München im Tierpark Hellabrunn die Möglichkeit, als Tierpfleger zu arbeiten, einmal in Augenschein nehmen. Das liegt ihm vielleicht am besten, wenn es nicht eine augenblickliche Jugendneigung ist. Ich halte ihn nämlich trotz allem für den geborenen Postler. Wenn wir ihn nur gut über die nächsten zwei Jahre bringen, dann bleibt er schon in seinem Beruf.“

Oberammergau, 2.2.1957, an Ch. Rumold: „Die Sache mit Siegfried [es ging wohl um den Verkauf einer geschnitzten Figur] kommt mir sehr gelegen. Sie hat nur den Nachteil, daß ich mit der Schnitzausführung nicht zufrieden bin. Es wäre mir recht, wenn Siegfried vorher zum Bildhauer Hartmann hinter der Marienkirche in der [Karlsruher] Südstadt ginge und bei ihm, mit einem Gruß von mir, das Gesicht etwas nachschnitzen ließe, aber höchstens zehn Mark dafür ausgeben soll.“