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Keine Lust auf die Buddenbrooks

Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 27.2.1960: „Es ist schönes Wetter, ja schon ein Hauch von Frühling in der Luft. Wenn es morgen am Sonntag so ist, gehe ich am Nachmittag über den Berg. Sonst bin ich zufrieden im Geschäft mit der Arbeit und in der Schule. Den Film ‚Die Buddenbrooks‘ habe ich mir nicht angesehen. Es liefen beide Teile bei uns. Ich habe ein Vorurteil gegen das Milieu des gehobenen Bürgerstandes mit der Liselotte Pulver und Nadja Tiller. Es wäre vielleicht interessant gewesen, aber ich hatte halt keine Lust am letzten Sonntag. Christl, ich höre jetzt auf zu schreiben. Vielleicht arbeite ich noch ein bissel, es täte mir gut in der nächsten Woche.“

Ehrfurcht vor dem Augenblick

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 23.4.1960: „Meine liebe Christl, ich habe mich so gefreut, als ich heute deinen lieben Brief gelesen habe. Es geht mir im Geschäft gut. Es ginge mir aber noch besser, wenn ich nicht so gute Kameraden hätte, die sich im Laufe des Jahres so allerhand einfallen lassen. Heute z. B. hat unser Toni geheiratet in der Ettaler Kirche. Es war ja sehr schön, nur an meine liegengebliebene Arbeit darf ich nicht denken. Aber es hat mir wirklich gut gefallen mit meinen sieben Kumpels in der Kirchenbank zu stehen, sitzen, knien, grad wie es die meisten von uns machen, so tun die andern auch. An Gott denkt dabei kaum jemand, aber wenn der Pfarrer vorne ein paar mahnende Worte an das Brautpaar richtet und die Orgel so schön spielt, hat man eine bestimmte Ehrfurcht vor dem Augenblick. Es ist doch die Liebe sichtbar geworden. – Schatz, ich denke so gerne an unsere Ostertage zurück, an unseren Kaffeetisch am Samstag und Sonntagmorgen, wie Lothar und Barbara so quicklebendig auf dem Sesselstuhl herumturnten. Ach, wir sind doch eine glückliche Familie. Ich bin verliebt in meine Kinder und vor allem in dich, Christl.“

Dazu ergänzend aus einem zwei Tage zuvor geschriebenen Brief: „Es war sehr schön bei dir und unseren Kindern. Vor allem habe ich mich über Lothar gefreut, denn um sein Herz hatte ich immer ein bissel Bange.“ Hier geht es nicht um das Herz im physischen, sondern gewissermaßen im metaphysischen Sinn. Das Getrenntleben ab Ende 1956 (im April 1960 seit ca. dreieinhalb Jahren) war offenbar meinerseits cordial nicht ohne Folgen geblieben. Wenn man bedenkt, dass die Ehepartner nicht häufiger als ungefähr dreimal im Jahr zusammenkamen (und dann immer nur für ein paar Tage) grenzt es an ein Wunder, dass anscheinend nur die Vater-Sohn-Beziehung emotional besorgniserregend war.

Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen

Brief an Ch. Rumold, Oberammergau, 30.4.1960: „In der Arbeit geht es zur Zeit sehr gut. Meine modernen Entwürfe machen sich immer mehr bezahlt, denn die einfachen Formen sind schnell zu schnitzen und gehen jetzt so gut los, daß der Künstlerspleen in mir schon beinahe beleidigt ist, weil der sich vor dem Beifall der Masse fürchtet. Aber wenn ich, wie es mir am Freitag gelang, in acht Stunden neunzig Mark verdienen kann, ist mir doch wohler als das Hungerkünstlerleben. Die übliche Schwarzarbeit mit Grünewalds ist mir schon nicht mehr rentabel, weil ich dabei viel zu sorgfältig bin und viel Zeit verliere. Wenn nur die Steuern nicht so hoch wären, geht es nämlich über die Hundert-Grenze, dann zahle ich Abgaben, daß mir’s graust. Gestern bekam ich auch endlich mein modernes Relief fertig. Die Hochzeit am vergangenen Wochenende ließ mich doch nicht zur Arbeit kommen und unter der Woche hatte ich keine rechte Lust und genug andere Arbeit zu erledigen. Ich bin aber zufrieden wie es jetzt geworden ist. Es wurde eine schöne klare Darstellung des Gespräches auf Golgatha zwischen Jesus und seiner Mutter mit dem hilflosen Johannes, der still dabei steht und alles nicht begreifen kann. Für die Modellierstunden am Dienstag habe ich einen neuen Gedanken von einem Abendmahl. Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen mit Johannes in seinem Schoße. Im oberen Kreisbogen verteile ich die zehn Jünger hinter Christus und unten steht allein Judas, dem der Kelch gereicht wird. Es ist für mich das große Problem des Ausgestoßenwerdens. Judas muß gegen die zehn Jünger soviel Spannung ausstrahlen, daß er diese aufwiegt. – In München ist doch noch immer die Gauguin-Ausstellung. Zu gerne möchte ich mir diese anschauen, denn die Eindrücke, die so ein Genie auf mich macht, sind mir wichtig.“

Glücklich im begrenzten Raum

Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 30.1.1960: „Die Arbeit war gut und beinahe wäre ich stolz gewesen auf hundert Mark, wenn ich mich nicht ab und zu an die Gehälter anderer Leute erinnerte. Doch ich bin während der Arbeit ganz zufrieden, sogar glücklich im begrenzten Raum.“

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In den Ammergauer Bergen, ca. 1960, Originalabzug 83 x 56 mm

 

An der Schwelle zum richtigen Bildhauer

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 1.8.1960: „Ich zapple verbissen an der Schwelle zum richtigen Bildhauer und schnitze nun schon vierzehn Tage an einem Riemenschneider-Georg, der mir im Augenblick fast nur Ehre einbringt. Aber diese Achtung brauche ich und ich werde auch einmal schneller an den guten Figuren werden, doch jetzt geht es mir um schöne saubere Arbeit. Vor drei Wochen habe ich eine Maria hingestellt, die zu meinem Glück so gut gelungen war, daß sie von meinem Chef mit seinem Namenszug signiert wurde und einen halben Tag lang im Laden stand und schon verkauft war. Schatz, ich schreibe diese Protzerei, weil ich dir und den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen habe. Wenn wir dein Geld nicht hätten, sähe es arg böse mit unserer Wirtschaft aus. Und doch bin ich in der Arbeit jetzt etwas zufriedener. In den letzten Wochen habe ich immer wieder gedacht, daß ich mit der eigenen Christusschnitzerei niemals ein Meisterniveau erreichen kann. Jetzt geht es ein bissel besser. Es warten zwei gute Aufträge zum Aushauen auf mich, und wenn die wieder hinhauen, hoffe ich, daß ich weiter komme.“

Die hier geäußerten Selbstzweifel meines Vaters und seine Bedenken im Hinblick auf seine Qualifikation als Meister-Schnitzer (nach vier Jahren Oberammergau) waren alles andere als gerechtfertigt. Man sehe sich nur einmal an, wie relativ wenig technisches Können für die Ausführung des (mit der Note „gut“ bewerteten) Meisterstücks dann zwei Jahre später tatsächlich erforderlich war.

Die Spatzen flattern auf dem Dorfe oder: in Karlsruhe verwirrt mich die ganze Stadt

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Die Spatzen (Barbara und Lothar R.) auf dem Dorf (Wälde bei Freudenstadt), Sommer 1960.

Brief aus Oberammergau am 25.8.1960: „Liebe Christl! Vielen Dank für deinen Brief vom Freitag und Montag. Schatz, ich freue mich für dich, wenn du einmal ein paar Tage für dich selbst hast und unsere Spatzen auf dem Dorf herumflattern.“ Das Dorf war damals eines wie es heute nur noch im Buche steht oder zum Beispiel in Rumänien besichtigt werden kann: mit einer notdürftig asphaltierten, so gut wie nicht befahrenen Hauptstraße, mit Hühnern und Hasen hinterm Haus, Gänsen am Bach und einem Plumpsklo ohne Wasserspülung eine halbe Treppe tiefer bzw. höher.

Weiter heißt es im selben Brief: „Christl, es wäre natürlich möglich, daß ich komme und wir mit Siegfried nach Wälde fahren. Aber ich sträube mich bei dem Gedanken, daß wir nur wenig Geld in der Tasche haben. Das peinliche Gefühl dabei habe ich nur zu oft erlebt. Christl, Schatz, bitte mache einmal für dich in Karlsruhe Urlaub, gönne dir am Abend einen Spaziergang ins Café und schlafe am Morgen ein bissel länger. Ich bin ja auch hier von Herzen zufrieden, wenn ich an einem Nachmittag bei schönem Wetter an einem Bache liegen kann. Ein bissel lesen und dann die Berge anschauen und mal ins Wasser – so bin ich glücklich. Jetzt haben wir ja endlich das ersehnte Sommerwetter und alles ist gleich viel besser gelaunt. Am Nachmittag sitzen wir [i. e. die Holzschnitzer der Fa. Lang] da gerne für eine Stunde vor einem der Hotels unter dem Sonnenschirm und lassen uns bedienen als ob wir in Urlaub wären. Ich habe aber auch jetzt so einen netten Kameraden. Er ist unser ‚Aushauer‘ und macht nur die großen Sachen. Er war jetzt vierzehn Tage krank, so daß ich seine Aufträge ausführen konnte. Aber ich kann halt doch nicht das, was er kann, und so muß ich wieder zu meinen Herrgöttlen zurück. Bis ich diese Wahrheit einmal verdaut habe, wird es mich noch manchmal würgen. Es ist halt eine Talentsache, das Bildhauern. Der Toni (das ist der Aushauer) sitzt die meiste Zeit herum und liest einen Roman um den andern. Um die Kunst schert er sich einen Dreck, aber wenn man ihm eine Zeichnung gibt und einen Brocken Holz, dann haut er drauflos und stellt einem die besten Figuren danach hin. Er hat’s halt in sich. Christl, ich möchte hier bleiben und meiner Arbeit nachgehen und zwischendurch mal ein bissel bummeln. In Karlsruhe verwirrt mich die ganze Stadt mit ihren Leuten und ihrem Luxus, den wir uns ja doch nicht leisten können, aber immer vor die Nase gehalten kriegen. Wenn ich alleine bin denke ich gar nicht an das Zeugs und bin so zufrieden.“

Die Berge strahlten in glitzerndem Schnee

Kunstkarte aus Oberammergau am 10.11.1960: „Mein lieber Lothar! Ich möchte dir einen lieben Gruß beilegen. Auf der Bildseite ist Maria mit dem Jesuskind zu sehen. Warum der Josef den Stock hoch hält, weiß ich nicht. Sicher gibt er acht, daß niemand dem Kindlein und seiner Mama etwas tut. Lothar, wie geht es dir und Barbara? Schade, daß du bei dem schönen Wetter nicht hier sein kannst. Unsere Berge strahlen in glitzerndem Schnee bei dem schönen Wetter. Leider geht’s halt nicht immer wie man will. Jetzt sende ich dir, Barbara, Mama, Oma und O. Siegfried viele liebe Grüße – dein Papa.“

Gerard David (1460-1523): Die Heilige Familie bei der Rast auf der Flucht nach Ägypten

Gerard David (1460-1523): Die Heilige Familie bei der Rast auf der Flucht nach Ägypten

Wenn es nicht die Grenze zum Blasphemischen berühren würde, könnte einem in den Sinn kommen, dass die von Gerard David so schön ins Bild gesetzte Szene auf gewisse Grundzüge der damaligen Situation der Familie Rumold verweist: Mutter und Kind(er) in sphärisch geschlossener Zwei- bzw. Dreisamkeit, während der nominelle Vater durch Abwesenheit glänzt und in einiger Entfernung unverständliche Dinge treibt.

Was am schwersten fällt oder: An die Bande gebunden

Aus einem Brief an Ch. Rumold, Oberammergau, 12.11.1960: „Ich würde am liebsten nächstes Wochenende wieder zu dir und den Kindern fahren, aber das geht mit dem Geld natürlich nicht. Ich weiß selbst nicht, wie mir das immer passiert, daß ich jedesmal zwei Wochen brauche, bis ich wieder ins Gleichgewicht mit der Arbeit komme. Doch es wird auch wieder Weihnachten werden. […]  Diese elende Meisterprüfung liegt mir im Magen, aber noch wichtiger ist mir, daß ich mich einmal aufraffe und das Leben hier mit dem Land abschütteln kann, das fällt mir noch schwerer als alles andere. Schatz, du solltest sehen was wir in der Werkstatt für eine gemütliche Ecke gebaut haben mit Hirschgeweih und rohen Stühlen und Tisch. Natürlich haben wir alles schon eingeweiht vorige Woche an einem nebeligen, verschneiten Tag, wo es zum arbeiten zu dunkel und zum Licht anzünden zu hell war. Ich werde von der Bande nur loskommen, wenn ich mich selbständig mit eigenem Geschäft machen kann. Nächste Woche kommt nocheinmal so ein Abend. Unser Toni hat einen Buben bekommen. Heute morgen um halb sieben. Als ich in die Werkstatt kam, saß er ganz zerschlagen da.“

Eine Karte aus Oberammergau

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Max Sommet: Oberammergau mit Passionstheater (Deutsche Heimkunst-Karte)

Man sieht auf dieser Gemälde-Karte nicht nur das Passionstheater, sondern vor allem auch die markante Form des Kofels, des Oberammergauer Hausbergs. Er schreibt: „Liebe Christl! Einen herzlichen Gruß an dich und die Kinder von deinem Berthold, Oag. 29.8.60“