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Die Bedingungen der Möglichkeit des Gedankens der Freiheit sind nicht immer gegeben

Oberammergau, 24.6.1959, an Ch. Rumold: „Heute Morgen habe ich in einer Zeitung etwas von Schiller gelesen, nur so ein Wort vom edel sein des Menschen, und mich dabei an eine Radiosendung vom Samstag erinnert, in der der Ansager das Schillerjahr erwähnte und meinte, wenn er sich heute ein Schauspiel von Schiller anhört, dann klingt ihm die Sprache darin wohl gedrechselt und fremd. Aber wir müssen im Gesamtblick auf das Schaffen des Mannes immer anerkennen, daß er in unbändigem Maße die Freiheit von den Diktatoren den Menschen als Ziel vorstellte. / Ich habe mir später gedacht, daß er beinahe ein Gesetz der Freiheit, der Moral in der Freiheit schuf. Im Gegensatz zur Freiheit Goethes. Wie Beethoven gegen Mozart. Und bei der Sprache halte ich ihm zugute, daß er eben seine Speise mit Messer und Gabel ißt. Ich habe mich in Aalen zu sehr von den Umständen beeinflussen lassen und war unmöglich frei für seine Gedanken. Aber Christl, mein Lieb, du hast sicher andere Sorgen im Kopfe als jetzt so etwas.“

Kino, Kino und aufdringliche und englische Mädels

Oberammergau, 2.8.1959, an Ch. Rumold: „Schatz, so ziehen halt die Tage dahin. Ich bin gesund, mal guten, mal schlechten Mutes. Gestern Abend sah ich den Film ‚Wild ist der Wind‚, mit Magnani und einem großartigen Partner, Quinn heißt der Mann. Der Film war so lebensecht, daß er trotz der Magnani Dir sicher auch gefallen hätte. Heute oder morgen sehe ich mir ‚Mit dem Kopf durch die Wand‘ an.“

Oberammergau, 14.8.1959, an Ch. Rumold: „Ja, Christl, die Filme! Das war schön damals in dem Flohkino im Weiherfeld, als wir alles um uns nicht mehr spürten nur noch uns. ‚Mit dem Kopf durch die Wand‚ war köstlich amüsant. Der Lerneifer gemischt mit der Liebe war mir so aus dem Herzen gespielt. Der Tanzabend, der wippende Fuß von ihm, dann das kurze Hoppsagedrehe und gleich übergehen zu einem zarten Liebkosen zur Musik. Christl, Schatz, Du müßtest unbedingt tanzen können. Ja, und die Charaktere der Erzieher oder besser Fürsorger. / Gefährlich ist es nur jetzt manchmal gewesen, weil so viele Engländer(innen) im Ort sind, die sich durchaus nicht in englischer Zurückgezogenheit benehmen, aber doch nicht das aufdringliche Benehmen unserer Mädels haben. Ich bin da manchmal versucht zu sehen, ob sie so lieb sein können wie die Kleine im Film. Sie sind übrigens alle so schlank gewachsen.“

Der Samstagsfilm

Oberammergau, 17.1.1959, an Ch. Rumold: „Heute Abend war ich mal wieder in meinem Samstagsfilm: ‚Mädchen in Uniform‚. Ich habe ihn skeptisch betrachtet und kam über ein Beobachten der einzelnen Rollen nicht hinaus. Am schönsten war eine Voranzeige ‚Feuerwerk‚. Ach, wie gerne würde ich ihn nochmals mit Dir sehen. Wie die beiden jungen Menschen im Treibhaus standen und der junge Gärtner das Lied sang: ‚Zum ersten Mal verliebt, ja daß es so was gibt, die Nacht ist wie ein Traum …‘ Da gefiel mir die Romy sehr gut. Aber die Lieder von Lilly Palmer standen ihr nicht nach. Ganz anders der Hauptfilm. Na, vielleicht unterhalten wir uns einmal darüber. Es ist ja nicht so wichtig.“

Schifahren

Oberammergau, 11.1.1959, an Ch. Rumold: „Am Samstagmittag gab Karl keine Ruhe und nahm mich mit auf das Schigelände. Ach, es ist mir übel ergangen und ich schimpfte im Stillen über mich, weil ich nicht alleine irgendwohin an einen ruhigen Platz gezogen bin und alleine in Ruhe übte. Auf der Schiabfahrt war trotz des stürmischen Windes und Schneetreibens alles voll Menschen, die normal fahren konnten und ich Anfänger purzelte von einem Sturz in den andern. Ich wurde zwei Stunden lang belacht und bin doch so empfindlich vor dem Verlachtwerden. Karl zeigte mir als: so mußt du’s machen und so und schwingen und stemmen. Aber es gelang halt nicht. / Nun, heute am Sonntag bin ich in der Frühe aufgestiegen, habe meine Bretter geschnappt und mir einen schönen Hügel gesucht. Nicht zu hoch und nicht zu nieder. Die Bahn habe ich mir selbst getreten und siehe, schon bei der ersten Abfahrt gelang mir das links und rechts Kurven recht gut. Es machte mir bald so Spaß, daß ich mir immer wieder sagen mußte, es wäre jetzt schön, wenn Du und Lothar auch dabei wärst und wir gemeinsam die Freude hätten. Zwei Stunden übte ich so eifrig, dann kamen aber immer mehr „Kanonen“ in die Gegend und ich räumte still und zufrieden das Feld. Morgen will ich es wieder so machen und vielleicht jeden Morgen, solang der Schnee liegt. / Nachher konnte ich noch gemütlich schnitzen und Radio hören, bis ich um halb sechs Uhr ins Kino ging. Ja und nachher werde ich noch an einem Kruzifix die Arme leimen und ins Bett gehen.“

Hitlerjunge Berthold R.

Foto aus dem Nachlass von B. R., vermutlich ist er einer der

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold – vermutlich ist er einer der abgebildeten Blonden und Blauäugigen.

Wie achtundneunzig Pronzent der deutschen Jugendlichen war auch mein Vater bei der sogenannten Hitlerjugend. Wahrscheinlich gehörte er zu den ersten Zehnjährigen, die nach Einführung der gesetzlichen Dienstregelung 1939 zweimal pro Woche zu Sport, Spiel und ideologischer Indoktrination antreten mussten – in vielen Fällen womöglich auch: durften. Denn mit zehn Jahren sind wir Jungs in der Regel noch ziemlich gesellig und sehen das mit dem Leute-Totschießen eher von der sportlich-spielerischen Seite. In der Endphase des Krieges war mein Vater 15 Jahre alt und hatte damit eine kritische Grenze überschritten, da nach der Notdienstverordung vom Oktober 1938 „jeder Bewohner des Reichsgebietes nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen, vom Staat bestimmten Diensten herangezogen werden“ konnte. (Wikipedia) Mir ist allerdings nicht bekannt, dass er zu irgendwelchen kriegsdienstartigen Diensten herangezogen worden wäre; ebensowenig weiß ich, ob es ihn damals zu solchen Diensten hingezogen hat oder doch eher nicht. Viele Jahre später, am 31. Oktober 1959, schreibt er jedenfalls in einem Brief aus Oberammergau an seine Frau: „Übrigens habe ich gestern eine Vorladung ‚zur Erfassung des wehrdienstpflichtigen Jahrgangs‘ bekommen. Ich will mal sehen, was die wollen. Ich bin so lange geduldig, bis ich untersucht bin, ob ich überhaupt gesundheitlich tauglich bin. Eine Kriegsdienstausbildung mache ich nicht mit.“

Foto aus dem Nachlass von B. R.

Foto aus dem Nachlass von Berthold Rumold

Stille im Wechsel mit Poltern und Gaudimachen

Oberammergau, 17.11.1956, an Ch. Rumold: „Es macht mir die Arbeit viel Freude. Ich komme jetzt auch so nach und nach in die Schnitzweise der anderen Schnitzer hinein. Nur geht es mir noch viel zu langsam. Mit unserem Vorarbeiter, dem schon genannten jungen Mann, verstehe ich mich auch gut. Gestern saßen wir noch bis spät in die Nacht über einer Arbeit, wobei ich mit Freuden sehr viel lerne. Die anderen Kumpels bleiben alle mehr oder weniger derb wie es halt so ihre Art ist. Sie gehen gerne ins Wirtshaus. Sonntags bestimmt und unter der Woche mindestens einmal. Am nächsten Tag sitze ich dann mit Herrn Pankratz und unserem siebzigjährigen Opa in wohltuender Stille alleine in der Werkstatt. Dann holen wir auch im Radio die Musik oder Sendung, welche uns gefällt. Aber am folgenden Tag, wenn alle wieder da sind ist das Poltern und Gaudimachen dann um so größer. Es ist halt was arges wenn man so empfindlich ist. Das Wetter war bei uns in der letzten Zeit auch nicht gerade schön. Im Dorf ist der Schnee geschmolzen und der Nebel hängt oft den ganzen Tag zwischen den Bergen und kann nicht abziehen. Werden aber die Berge frei, dann sieht man wie in einer bestimmten Höhe der Wald weiß wird, wo also die Kältegrenze liegt. Ich hab einmal in einem Ganghoferbuch davon gelesen, daß das Frühjahr genau am Berg gezeichnet war. Das heißt, oben auf den Gipfeln lag Schnee. Etwas tiefer wurde der Wald schwarz bis unten am Bauernhof die Blumen blühten. Ach ja, du hast nach dem Hof von meiner Großmutter gefragt. Nein, ich war noch nicht dort. Uffing heißt das Dorf. Na, mal sehen, vielleicht wenn der Winter vorbei ist, schau ich mal hin.“

Weltaufgang Januar 1959 – und alles Land liegt in tiefstem Schnee

Die paplose Familie 1959, die große und die neue kleine Christl und Lothar, der liebe Bub.

Die papalose Familie 1959: die große und die neue kleine Christl (spätere Barbara) und Lothar, der „liebe Bub“.

Oberammergau, 9.1.1959, an Ch. Rumold:
„Über meine Tochter wurde natürlich [unter den Kumpels] gelacht und geredet, aber alle haben sich gefreut, ganz nebenbei muß ich natürlich für ein Faß Bier herhalten, aber das geht jedem so von uns, der in diese glückliche Lage kommt. Gell, meine Schrift ist schlecht, aber ich bin jetzt ein bissel müde in der Hand. Vielleicht ist auch die klimatische Umstellung daran schuld. Es schneite den ganzen Tag was der Himmel hergab und alles Land liegt in tiefstem Schnee. Christl, Lieb, ich möchte dich ja schon die ganze Zeit danach fragen, aber ein Satz nach dem anderen sprudelte mir aus der Feder: Herz, wie geht es dir? Hoffentlich bist du gesund und unsere kleine Christl auch.“

Das Café im Haus der Kunst!

Oberammergau, 23.8.1959: „Meine liebe Christl! Nach deinen letzten Briefworten kam es mir vor, als hätte mein letzter Brief den Eindruck erweckt, daß ich hier nur so umher flirte. Ich bin ja kein Vorbild an sittlicher Reinheit, aber beim Tanzen war ich diesen Sommer nur einmal und da hatte ich von der verzierten Frohtuerei der Rheinländer bald genug, und die sechs Mark für den Sauerampfer von Wein liegen mir heute noch im Magen. Nein, wie ich mir das Tanzen vorstelle, so sehe ich es nur ab und zu im Kino und dann denkt oder träumt man sich manchmal hinein: So müßte es schön sein. […] Gestern war ich in München und habe eine Ausstellung von einem Bildhauer besucht, der mir schon lange in seiner Art gefällt. Es ist der Barlach. Ja und weil ich mal wieder in der Stadt war und so schönes Wetter war und alles war so gut gekleidet, habe ich natürlich auch viel Geld ausgegeben im Gartencafé vom ‚Haus der Kunst‘. So ein schönes Café ähnlich wie das in Karlsruhe im Stadtgarten und die tadellos angezogenen Leute, also ich schwärme heute noch von der Atmosphäre die dort herrschte.“

Eine Einladung nach Brüssel

Oberammergau, 17.3.1959, an Ch. Rumold: „Also ich wurde vorige Woche eingeladen, nach Brüssel zu kommen über Ostern. Nicht von einem Mädchen, nein, von zwei Mädchen und einem Mann. Es war ein Ehepaar (50 Jahre) mit der Mutter von fünfundsiebzig bei uns in der Werkstatt. Ich habe sie herumgeführt und ihnen noch ein bissel Oberammergau gezeigt, und als sie am Ende sagten, ich solle doch auch mal zu ihnen nach Belgien kommen, wußte ich natürlich nichts Schlaueres zu sagen als, es wäre schön, aber dazu habe ich gar kein Geld. Nun die Leute fuhren wieder weg und am Samstag kam ein Brief mit fünfzig Mark und ich solle doch kommen, sie haben ja ein Haus, in dem ich wohnen kann, und ein Auto, mit dem sie mir gerne mal Belgien und Brüssel zeigen wollten. Ja, Lieb, und so sehr ich mich auch vor dir schäme, ich würde trotzdem mal gerne hinfahren. […] So ein hagerer englischer Typ sind sie und sprechen auch Englisch. Also sehr freundlich und sorglos, wie es halt Leute sein können, denen es an Geld nicht fehlt.“

Meine Mutter lebte mit meinem knapp dreijährigen Ich und meiner zweieinhalb Monate alten Schester damals noch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen in einer viel zu kleinen Wohnung in Karlsruhe-Rintheim im Haus ihrer Großeltern väterlicherseites. Erst ein halbes Jahr später zog sie mit uns Kindern in eine eigene Dachgeschoss-Wohnung am Rande der Karlsruher Oststadt. Offenbar reagierte sie auf die ex- bzw. egozentrischen Urlaubspläne meines Vaters weder gekränkt noch sonstwie irritiert, sondern nur (scheinbar oder tatsächlich) besorgt, wie aus dem gut gelaunten Brief meines Vater vom 21.3.1959 hervorgeht.

Das Belgien, das Meer und Brüssel

Oberammergau, 21.3.1959, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Es ist heute ein wunderschöner Frühlingstag und er macht mich ganz und gar optimistisch. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen, denn was soll mir bei den Leuten schon Übles geschehen, ich bin doch kein Kind mehr. Natürlich hatte ich vor allem die Herzen der beiden Frauen im Flug eingenommen, aber Schatz, ich bin viel zu abgöttisch in dich verliebt, als daß so zwei ältere Damen einen größeren Einfluß auf mich ausüben könnten. Aber Christl, Lieb, laß mich doch bitte mal das Belgien und das Meer und Brüssel sehen. Ich bin ja so neugierig darauf. Wohl ist mir nur nicht, daß du mit den beiden Kindern alleine zu Hause sitzen mußt. Ich schreibe dir wenigstens jeden Tag, was ich erlebt habe. Sonst ist diese Woche mit Arbeit ausgefüllt. Letzten Sonntag habe ich eine Schitour unternommen auf einen idealen Schneeberg. Wahrscheinlich war es heuer die letzte Möglichkeit, die Bretter zu benutzen, denn seit einigen Tagen knallt die Sonne so fest auf das Land, daß der restliche Schnee nur so dahin schmilzt. Hoffentlich bleibt das Wetter über Ostern.“