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Und als Bub wird sie ein Peter

Er wurde dann doch eine Barbara, geboren am 4. Januar 1959

Er wurde dann doch eine Christa Barbara, geboren am 4. Januar 1959

Oberammergau, 16.11.1958: „Christl, wir werden einen Weg finden, miteinander in München eine Wohnung zu bekommen. Ich möchte wirklich nur in diese Stadt. In Karlsruhe ist zu viel Trübes und hier ist es zwar sehr schön, aber der Gedanke, immer hier zu sein, ist mir nicht angenehm. Wenn ich schon daran denke, was München für ein Kulturzentrum ist und eben doch eine Stadt ist. Meine Freude am Wandern in den Bergen erschöpft sich auch nicht mit dem bloßen Genießen der Natur, sondern ich will das, was ich dabei sehe, auch ein bissel in bescheidenem wissenschaftlichen Maße auswerten. Diese Möglichkeiten gibt es alle in München. Na, für mich scheint die Stadt eben ideal, und Schatz, ich glaube, daß sie Dir auch gefallen wird. / […] / In der vergangenen Woche hatten wir in der Firma auch ein freudiges Ereignis, denn unserem Meister, dem Herrn Lang, wurde nach fünf Mädchen endlich der Kronprinz geboren. Daß da an zwei Tagen gefeiert wurde, kannst Du Dir denken. Mitgesoffen habe ich nicht, denn ich kann das einfach nicht, so gerne ich auch bei meinen Kameraden auf dem Gebiet keinen Außenseiter machen möchte. Nach der zweiten Flasche Bier und etwas Schnaps werde ich so müde, daß ich unweigerlich ins Bett muß. Sie nehmen es mir zum Glück nicht übel, denn irgendwie spürt man doch die individuelle Natur eines jeden Menschen und der eine ist eben so und der andere so. Aber ansteckend war die allgemeine Faulheit dann doch auf mich. / Mit Karl verstehe ich mich recht gut. Wir mußten unsre Farbdias schon dreimal mit einem Projektor vorführen. Die Bilder nehmen sich an der Leinwand aber auch sehr gut aus. Er sitzt am Vorführungsgerät und ich muß reden. Zum Lachen war es, wenn die schönen Blumen kamen, aber mir die einzelnen Namen noch nicht ganz intus sind. Da hilft natürlich meiner ‚lateinische Sprachkenntnis‘ gut, daß keiner der Anwesenden Lateinisch kann. Es sind aber auch zu viele Gräser und versteckte Blumen auf den großprojektierten Bildern zu erkennen. Ich bin mal gespannt, ob ich mit Karl den Plan verwirklichen kann, daß wir im nächsten Jahr eine große Sammlung von Alpenpflanzen in Bildern zusammen bekommen. / Heute ist trübes Wetter, das allerdings schon die ganze Woche anhält. Christl, Lieb, bist Du es sehr leidig? Es drückt sicher auf Dein Gemüt. Ach, noch vierzehn Tage, dann kannst Du wenigstens vom Geschäft wegbleiben. Und wenn es erst mal Dezember ist, wird es auch Weihnachten. Ich komme an Weihnachten zu Dir und Lothar. Und wie wir es dann bis zur Geburt unseres Kindes machen, werden wir sehen. Ich habe schon zweimal geträumt, daß es ein Mädel wird. Wir taufen sie Christa Barbara. Und als Bub wird sie ein Peter. Schatz, was denkst Du, wie sich Lothar freut, wenn wir in München am Sabbat oder Sonntag die vielen interessanten Museen besuchen können und eine kleine Schwester mitführen können. Und der Starnberger See ist auch nicht weit. Wenn es nur schon an der Zeit wäre. Dann ist ja in München auch noch eine große Gemeinde von uns. Also München wäre mir schon recht. / […] / Christl, nun habe ich noch eine Bitte. Schreibe doch mit der Maschine eine Rechnung an Schnappinger und bringe sie am Wochenende zu ihm. Das Geld geht an Dich. / a) Kleiner Normalkruzifixus DM 25,- / b) Kleiner Grünewald DM 40,- / c) 30er Grünewald DM 65,- / d) 40er Grünewald DM 95,- / e) 25er Würzburger DM 40,- / f) 40er Normalmodell DM 75,- / Christl, mein Lieb, nun laß Dich innigst grüßen und wenigstens in Gedanken küssen von Deinem / Berthold. / Viele Grüße an unseren Lothar, an Mutti und Siegfried!“

Eine Anmerkung zur Ethik des Films

Oberammergau, 1.11.1958, an Ch. Rumold: „Ich hätte noch gerne erzählt von gesehenen Filmen, zum Beispiel ‚und nichts als die Wahrheit‘ und anderen. Der O. W. Fischer hat für mich so großartig ehrlich dargestellt. Es war sehr schön, weil so vieles nur angedeutet wurde und somit von dem Autoren das Grundrecht des Menschen, seine intimen individuellen Handlungen aus der Persönlichkeit vor der Masse (auch der Masse Kinobesucher) nicht breitzutreten, bewahrt wurde. Wie zart und schön wurde doch die Liebe der Frau zu ihrem Mann, des Vaters zu seiner Tochter (wie gentlemanmäßig half doch der Vater der Tochter aus der Antwortenmüssen-Verlegenheit vor dem Bräutigam nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt), des Freundes zum Freund und der Liebe der Schwester zum Angeklagten gezeigt.“

Krieg und Frieden und Chorgesang

Oberammergau, 19.10.1958, an Ch. Rumold: „Trotz all der Arbeit war ich vorgestern im Kino. ‚Krieg und Frieden‚. Der große Film ist ein ähnlicher Gedankengang wie unser Buch ‚Die Versöhnung‘. Die Männerrollen gefielen mir sehr gut, wenn auch der Hauptdarsteller [Henry Fonda], die Dichterperson in seiner ruhigen Sicherheit, die durch Aussprüche, er sei unsicher, nur noch untermauert wurden, fast an Überheblichkeit grenzte. Aber ich halte es für möglich, daß die Gestalt im Buche wesentlich von der Vorstellung des Filmregiseurs abweicht. Wenn allerdings amerikanische Filmsternchen [Audrey Hepburn!] an europäische Frauenrollen mit Schicksalen wie bei einer Königin Luise herangehen, geht es meistens schief. Aber im Augenblick, da man das Kino verläßt, ist man gut beeindruckt. Mir ging es mal so. Und gestern Abend war ich in einem Chorkonzert unseres Jugendchors. Sehr gut gefiel mir das Lied: ‚Ein neu Gebot‘, Motette von Bütger. Dann Lieder mit Vertonungen von Friedrich Zipp, Carl Orff, Bela Bartok und der ‚Feuerreiter‘ von Hugo Distler. Schatz, kennst Du einige Namen davon? Ach, ich wollte Dich heute nicht mit Namen beschweren.“

Ich liebe Dich sehr, aber komm‘ bloß nicht her! Ein Ammergauer Possenspiel in drei Akten

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Ansichtskarte aus Oberammergau. Ein Geschäft mit Schnitzwaren. Im Hintergrund ruft der Hausberg, der Kofel.

Oberammergau, 8.8.1958:  „Meine liebe, gute Christl! / Bist Du sehr enttäuscht, daß Du so lange auf eine Antwort warten mußtest? Und dabei hatte ich mich so gefreut, nachdem ich Deinen Brief gelesen hatte. / Christl, in erster Linie freue ich mich natürlich auf Dein Kommen mit Lothar. Sicher ist das Wochenende am 30.8. recht. Nur die Finanzen, da hab‘ ich mich mal wieder hinein gerannt. Als ich vor vierzehn Tagen am Samstag den Brief an Dich schrieb, sagte ich noch, wie gerne ich mal wieder in die Berge ginge, aber leider keine Zeit hätte. Ja und als am folgenden Sonntag am Vormittag der blaue Himmel lachte, schwang ich mich halt doch auf’s Rad und fuhr in Richtung Garmisch um eine Bergkette zu begehen, die mir schon lange verlockend zuwinkte. Aber, aber ich hatte mich ein bissel stark mit meinen Kräften übernommen. Vier Zweitausender an einem knappen Tag war zu viel, aber auf der Tour fühlte ich mich so stark und gesund und nahm mich scheinbar vor einer Regenwolke auf einem Gipfel nicht sonderlich in Acht. Jedenfalls lag ich die folgende Woche jede Nacht im Fieber und nur viele Tabletten gaben mir am Tage die Möglichkeit, so mit Ach und Weh ein bissel was zu schnitzen. Unserer Ilse mußte ich abschreiben, denn mit dem Verdienst konnte ich ihren Besuch unmöglich gebrauchen. Na, sie schrieb zu gleichen Zeit, daß meine Mutter krank sei und deshalb auch nicht kommen könne. Doch der berüchtigte Sonntag klang für mich so wunderschön aus, denn ich war mit noch zwei Arbeitskumpels von einer amerikanischen Familie eingeladen worden, am Abend um neun Uhr eine Fernsehsendung anzusehen, die einige wunderschöne Aufführungen des russischen Balletts zeigten. Aber das war eine Augenweide und der objektive Ansager übertrieb nicht, als er sagte, daß die Russen mit ihren Solotänzern atemberaubend einmalig sind. Ich würde jetzt überfließen, wenn ich die Schwerelosigkeit der Primaballerina aoder die großartigen Sprünge der männlichen Tänzer im „Schwanensee“ oder dem „Sterbenden Schwan“ beschreiben würde. Also ich lag ganz selig erschlagen am Abend im Bette. Acht Tage später, am vergangenen Sonntag, kam im Kino in Farben und Bühenbildern die ganze Oper aus dem Fernsehen als Film. Das war fast noch schöner. Aber Christl, vielleicht läuft der Film über das russische Ballett auch bei Euch. Da mußt Du hinein. Das „Schwanensee“ mußt Du sehen. Wie da die Liebe ihren vollendeten Ausdruck im Tanz findet, ist sehr, sehr schön. Ja und noch eine Freude hatte ich diese Woche mit meinen beiden Kumpels. In der Wieskirche war am Mittwoch ein Kirchenkonzert am Abend. Es sang ein Chor der internationalen ökonomischen1 Kirchenwoche, ein Bläserchor und ein kleines Orchester. Lauter gute Meister. Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ und „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ und „Jesu meine Freude“. Ach, es war wieder sehr schön. Diese großartige Kirche wollte ich schon lange einmal in aller Ruhe betrachten und geführt von der Musik konnte sich da das Auge so recht erfreuen an den Barock- und Rokokoformen. Anschließend trat ein junger Pfarrer auf die Kanzel und erklärte die Geschichte und Bauweise der Kirche ganz noch im Feuer der Musik und, als lächelte sogar der Himmel auf den schönen Abend, kam die Sonne im letzten Gold durch die großen Fenster und das viele Gold und zarte Rot und reine Weiß bildeten mit der schönen Bauweise eine vollendete Harmonie. Ja, das war ein gelebter Abend und die Heimfahrt duch die Wälder und Berge war halt auch herrlich. / Christl, Lieb, ich bekomme manchmal oder öfters ein schlechtes Gewissen, denn ich hab‘ es doch oft sehr schön und Du mußt Dich plagen. Und besonders jetzt. Ja und da hab‘ ich auch noch was gemacht. Nämlich, ich brauchte dringend Schuhe und was hab‘ ich gekauft? Gleich drei Paar auf einen Schlag. Ein Paar Sonntagsschuhe, beige, im italienischen Schnitt, ein Paar feste Halbschuhe für den Werktag und ein Paar Bergschuhe, die mir schon lange in der Nase stecken. Zusammen hat’s 120,- Mark gemacht. Ach, das liebe Geld. Ich jage hinter ihm her und krieg’s so spärlich herein. Einige Entwürfe von Kruzifixen hab‘ ich wieder gemacht, aber ob es deshalb besser wird mit dem Geldverdienen, glaub ich nicht, denn die Firma will doch ihre alten Modelle auf dem Markt behalten, an denen aber nicht viel zu verdienen ist und ein anderer Verleger will wohl meine Modelle und würde mich auch gut bezahlen, aber ich mag mich nicht von meiner Firma lösen, denn ich bin schon so oft gewandert. So arbeite ich halt so viel als möglich schwarz, aber allzuviel kommt auch nicht dabei heraus. Wenn Du hier bist in drei Wochen, wirst Du das aber noch oft genug von mir zu hören bekommen. / Christl, Herz, ich bin doch froh, daß bei Euch zu Hause wenigstens die Waltraud wieder weg ist. Das Mädel hat doch ein Glück gehabt. / Christl, Lieb, was ist es bloß in unserem Leben, wie ist es doch so schwer. Aber in die Haut von einem Menschen wie Waltraud möchte ich doch nicht schlüpfen, denn wenn ich gerade so was sehen und erleben darf wie das Kirchenkonzert und die Ballettaufführung, bin ich froh, daß ich ich bin. Ja, das Leben ist schwer für uns und im Augenblick scheinbar ohne schöne Aussicht. Aber Christl, ich hab‘ Dich lieb, so unendlich lieb und weil ich weiß, daß Dir diese schönene Stunden auch gefallen würden, bin ich so froh, daß ich mit Dir verheiratet bin. Wenn es mir auch sehr weh tut, daß ich so wenig Geld habe. / In unsere Werkstatt kommt immer wieder ein kleines Mädel und schmeichelt so lieb weiblich, daß ich mich wirklich freuen würde, wenn unser Baby ein Mädel werden würde. / Christl, Lieb, ich sage Dir jetzt gute Nacht und sende Dir und Lothar die herzlichsten, liebsten Grüße. / Euer Berthold! / Viele Grüße an Mutti und Siegfried!“

Oberammergau, 21.8.1958: „Liebe, liebe Christl! / Vielen herzlichen Dank für Deinen lieben Brief und für die Grüße, die Du Deiner Geschäftskollegin aufgetragen hast. (Ich hatte die Frau gar nicht mehr erkannt.) / Ja, Christl, je näher der erste September kommt, desto mehr sehe ich, daß es mir mit dem Geld bei bestem Willen nicht reicht. / So schlecht wie in diesem Monat ging es mir finanziell schon lange nicht. / Und vorm Schuldenmachen graut es mir. Christl, bitte, bevor ich mir für den nächsten Monat wieder eine Geldlast auflade oder ein paar supersparsame Tage mit Dir hier verbringe, bleibe ich wirklich lieber alleine. Christl, sei so gut und verstehe das. Ich grüße Dich und Lothar auf das Herzlichste. / Euer Berthold. / Viele Grüße an Mutti u. Siegfried!“

Oberammergau, 25.8.1958: „Meine liebe, liebe Christl! / Das hab‘ ich natürlich nicht gewollt, daß Du mir Geld schickst. Schatz, tausend Dank dafür. / Christl, ich überleg natürlich hin und her und wie schön es wäre, wenn Du für ein paar Tage hier sein könntest, aber zum Schluß komm‘ ich doch auf den Wunsch, im kommenden Monat wieder auf meine normale Höhe zu kommen und die laufenden Zahlungen gut durchführen zu können. Ach und bei dem Gedanken ans Geld werfe ich alle meine Wünsche über Bord und will nur noch sehen, daß ich vorwärts komme, um die Geldlast weg zu kriegen. Wir brauchen doch ab Winter wieder mehr Geld. Christl, sei so gut und mach Dir ein paar schöne Tage in Deinem Urlaub. Nimm doch einen Teil des vorgesehenen Urlaubsgeldes dafür. Kauf Dir ein Paar Schuhe, gehe ein bissel aus und versuche, Dich zu erholen. Ich finde hier mit meinen Arbeitskameraden immer wieder schöne Stunden beim Bergsteigen und Konzertbesuch. Christl, Lieb, viele herzliche Grüße / Dein Berthold!“

Rückdatierter (erfundener) Brief meiner Mutter an meinen Vater oder High Noon in Oberammergau

Karlsruhe, 22. Mai 1958

Lieber Berthold!

Ich werde Dich am kommenden Wochenende in Oberammergau besuchen, um mit Dir über uns und unsere Zukunft zu sprechen. Mach‘ Dir wegen des dafür benötigten Geldes keine Sorgen, die hundert Mark, die ich während der letzten Monate beiseite gelegt habe, werden genügen. Auch wegen der Unterkunft brauchst Du Dir keine Gedanken zu machen, ich werde mir ein Zimmer in einer Pension nehmen. Falls Du am Wochenende arbeiten musst oder in die Berge willst, ist das kein Problem. Ich denke, wir werden in zwei Gesprächen von jeweils zwei bis drei Stunden Länge, eines am Samstag und eines am Sonntagvormittag (am Nachmittag fahre ich nach Karlsruhe zurück), zu einer vorläufigen oder endgültigen Entscheidung kommen.

In Deinem Brief an Frau Goebel hast Du geschrieben, dass Du eine Familie hast, mit der Du „mittlerweile leben“ willst. Du gibst also in verblüffender Offenheit zu, dass Du bisher nicht mit uns leben wolltest. Doch nun willst Du es. Willst Du es aber tatsächlich? (Dass Du dieses Schreiben an Frau Goebel nun doch nicht absenden wirst, spielt dabei nur insofern eine Rolle, als es einmal mehr zeigt, wie Du von einem Moment auf den anderen Deine Meinung änderst.)

In Deinem am Tage davor geschriebenen Brief an mich machst Du wirre Pläne für ein gemeinsames Leben in Garmisch-Partenkirchen, wobei gemeinsam heißt: Du und ich. Deinen „Buben“, wie Du unseren Sohn Lothar gerne nennst, wolltest Du in Deinem Gedankenexperiment anscheinend seiner Oma zur Pflege überlassen. Du schreibst das zwar nicht ausdrücklich hin, doch lassen die von Dir selbst gegen Dein Vorhaben vorgebrachten Einwände keinen anderen Schluss zu. Das hat mich eigentlich nicht gewundert, aber es so Blau auf Weiß zu lesen, war doch ein merkwürdiges Erlebnis.

Ich habe mich, nachdem ich Deinen Garmisch-Brief zu Ende gelesen hatte, gefragt, warum Du mich an Deiner konfusen Plänemacherei teilhaben lässt, wenn zu schlechter Letzt doch alles beim Alten bleiben soll. Etwa, um mir zu „beweisen“, dass es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt als die, für die Du Dich entschieden hast? Die Beweiskraft Deiner gordisch verknoteten Beweisketten stelle ich gar nicht in Abrede, doch gibt es eine andere, viel naheliegendere Alternative, die Du notorisch übersiehst, da Dein Blick stets über die in der Ferne liegenden Gebirgsketten einer fürs erste und zweite unerreichbaren Zukunft irrt.

Bisher war ich in unserer Ehe diejenige, die zusehen musste, wie sie mit Deinen einsam gefassten Beschlüssen klarkommen konnte. Damit muss jetzt Schluss sein. Wir werden nun eine gemeinsame Entscheidung über unsere gemeinsame Zukunft treffen oder es wird keine gemeinsame Zukunft nicht geben, wie ihr in Bayern sagt. Dann würde ich nämlich meinerseits eine einsame Entscheidung für mich und unseren Sohn treffen, und Du würdest derjenige sein, der damit klarzukommen hätte.

Ein Leben in Oberammergau, so hast Du Dich einmal in einem Brief geäußert, könnest Du mir nicht zumuten. Ich glaube, Du wolltest damit sagen, es wäre für Dich selbst eine unzumutbare Zumutung, unter den Dörflern nicht mehr als der einsame Fremdling zu wandeln (und womöglich auch zu lustwandeln), als der arme Mann, der unter dem Getrenntsein von Frau und Kind leidet. Stattdessen müsstest Du umdenken, umfühlen und umlernen, und fortan die Rolle des ganz normalen Familienvaters spielen. Und die Oberammergauer, nicht zuletzt Deine „Kumpels“ oder „Kameraden“, müssten sich daran gewöhnen, in Dir nicht mehr den Leidens-Mann, sondern den alltäglich verheirateten Ehemann und Vater eines real exisitierenden Sohnes zu sehen. Dass der Besetzungsplan des Passionsspielortes oder richtiger: Deines privaten Passionsspiels einen solchen Rollenwechsel eigentlich nicht zulässt, sehe ich voraus. Aber „wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“ (wie eine deutsche Bundeskanzlerin am 18. Juni 2015 in einer Regierungserklärung sagen wird).

Darüber und über anderes möchte ich mit Dir am Wochenende reden. Ich werde am Samstagmittag mit dem Zug um 12:00 Uhr in Oberammergau ankommen. Stelle Dich bitte auf möglichst emotionslose, möglichst sachliche Gespräche, um nicht zu sagen: auf ergebnisorientierte Verhandlungen mit mir ein. Ich bin gerne Dein Schatz, Dein Lieb, Dein Herz, Deine Christl – das aber erst dann wieder, wenn wir zu einer für mich akzeptablen Lösung gekommen sind.

Deine Christel!

Die Drolshagener Option

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Drolshagen im Sauerland, Foto: Bubo (Wikimedia)

Oberammergau, 21.5.1958: „Liebe Christl! / Die Handwerkskammer München hat geantwortet, daß sie für eine Werkstätte wie Firma Goebel nur ein Jahr genehmigen kann, dagegen wird eine Schnitzschulzeit immer voll angerechnet. Jetzt schreibe ich doch einmal an Goebels, ob sie überhaupt zusagen, wenn ja, dann wird sich sicher nach den anderthalb Jahren ein Weg finden lassen. Außerdem ist nach 1½ Jahren das Passionsjahr, da kann ich sicher sofort für Oberammergau arbeiten, falls sich nichts machen läßt. / Zu dumm, daß die Schreibmaschine noch nicht da ist. Ich warte noch bis Sonntag, dann schreibe ich halt so. Oder ich lege den „Aufsatz“ bei. Schatz, könntest Du versuchen, in Eurem Geschäft den Brief abzutippen? Wenn Du ein paar bessere Satzstellungen finden würdest oder mehr oder weniger sagen wolltest, kannst Du ruhig korrigieren. / Christl, Lieb, sei tausendmal gegrüßt von / Deinem Berthold. / Hier ist es mir zu gefährlich, den Brief von irgend jemandem schreiben zu lassen.“

Brief an Frau Goebel: „Sehr geehrte Frau Goebel! / Für Ihren Besuch bei mir sage ich Ihnen zuerst einmal vielen Dank. Hoffentlich sind Sie trotz des lebhaften Straßenverkehrs wieder gut zu Hause angekommen. / Für mich kam ja die Begegnung mit Ihnen etwas überraschend, nahezu verwirrend, denn so belanglos wie sich unser Geschäftsverhältnis auch anhört wissen Sie doch selbst, ist es nicht. Nämlich das Modellschnitzen für die Druckformen Ihrer Firma. / Werte Frau Goebel, geben Sie mir eine Chance. Lassen Sie mich in Ihre Firma eintreten, weil diese Halbheit: in einer Holzbildhauerwerkstatt angestellt sein und für die Konkurrenz zu schnitzen, nicht meiner Wesensart entspricht. / Wie weit meine Fähigkeiten sind, das Niveau Ihrer Werkstätte zu erhalten, mögen Sie selbst beurteilen, wenn ich Ihnen zwei Arbeiten schicke. Ich möchte Ihnen allerdings gleich sagen, daß ich mit meinen bisher erreichten Fähigkeiten noch lange nicht zufrieden bin und ständig an mir arbeite, diese zu verbessern. Leider fehlt uns Schnitzern hier in Oberammergau ein Grundfaktor, nämlich die Zeit. Deshalb brauche ich eine Voraussetzung, wenn Sie mich einstellen sollten. Ich möchte mindestens ein halbes Jahr nach Garmisch-Partenkirchen in die Schnitzerschule zu unseren besten Lehrern. Dort laufen alle entscheidenden Fäden der Holzbildhauerkultur zusammen. Es wird dort im Gegensatz zur hiesigen Schule konservativ, sauber und künstlerisch wertvoll gelehrt und dabei böte sich für mich die Möglichkeit, ruhig unter sicherer Anleitung alles noch Fehlende für meinen Beruf in mich aufzunehmen. / Die Schulgebühren fallen weg, weil alles Dortgeschnitzte Eigentum der Schule wird. Aber es bietet sich doch in der Freizeit die Gelegenheit zum Schnitzen für den eigenen Bedarf. Dieser „Eigenbedarf“ ginge dann an Ihre Firma weiter. Selbstverständlich würde ich Ihnen laufend Entwürfe der besten Arbeiten in Form von Zeichnungen senden und Sie könnten das jeweils Gewünschte in Auftrag geben. Da ich allerdings in den ersten zwei Monaten mich in der Schule ruhig verhalten möchte, um nicht gleich als Schwarzarbeiter verschrieen zu werden und außerdem erst einmal die Augen offenhalten will, wird meine Verbindung mit Ihnen während der Anfangszeit sicherlich nur in Form von Berichten über meine Tätigkeit und Beobachtung guter Anregungen bestehen. / Jetzt möchte ich nicht zuletzt erwähnen, daß ich eine Familie habe, mit der ich mittlerweile leben will. Sie wissen sicher selbst, daß ein Betrag von dreihundert Mark im Monat für einen Haushalt nicht zu viel ist. Ich denke bei diesem Betrag vor allem an die Zeit während des Schulbesuches. Später müßten, wenn ich mich ganz auf Sie konzentrieren kann, schon fünfhundert DM als Monatseinkommen herausgearbeitet werden. / Aber bis dahin ließen wir erst einmal die Probezeit innerhalb der ersten vier Monate verstreichen, dann können Sie ja selbst urteilen, ob meine Arbeitskraft rentabel ist. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sage Ihnen offen: ich arbeite gerne für Sie und ließe meine eigenen Pläne, deren Ausführung mir auch einen guten Lebensstandard erlauben, fallen. Ich denke doch, daß Ihre Firma einflußreich genug ist, eine gute Bildhauerkunst in den Geschäften zu verbreiten. Und somit einem Modellschnitzer zumindest zwei Jahre Beschäftigung zu bringen. / Bitte schreiben Sie mir Ihren Entscheid. Es gibt für mich nur eine der beiden Möglichkeiten. Entweder ganz für Sie oder ohne Sie, und sie bekommen gleich Ihre Vorausbezahlung zurück. / Sagt Ihnen mein Vorschlag zu, dann schicke ich zunächst einmal die beiden Probearbeiten, fallen auch diese zu Ihrer Zufriedenheit aus, würde ich gerne persönlich nach Drolshagen kommen, mich mit Ihnen nochmals aussprechen und dann meine Probezeit beginnen. / Sehr geehrte Frau Goebel, ich sehe voll Hoffnung Ihrer Antwort entgegen und grüße Sie / mit vorzüglicher Hochachtung / B. R.“

Die Verhandlungen zwischen meinem Vater und der offenbar recht resoluten Frau Goebel (s. u.) führten zu keinem Ergebnis. In einem Brief vom 15.6.1958 (also etwa vier Wochen später) ist von einer grotesken Bedingung die Rede. In der Tat wollte Frau Goebel meinen Vater nur unter der Voraussetzung, dass er ihre Tochter heiratete, bei sich beschäftigen.

Im Internet erhält man unter www.krippenkabinett.de/lexikon.html über die offenbar bis 1965 dort ansässige Firma Goebel diese Auskunft: „Emil Goebel in Drolshagen war Betreiber einer Devotionalienfabrik, die dafür bekannt ist, dass ein hoher Anteil der Figurenproduktion aus Ton und nicht aus Gips erfolgte. Das Material Ton erschien unter diesem Namen, ähnlich wie auch der Gips, nie in den Anzeigen der Fabrikanten, sondern firmierte unter der Bezeichnung ‚Terracotta‘. Emil Goebel war für verschiedene Hersteller von Krippenfiguren tätig gewesen, bevor er Mitte der 1930er Jahre seinen eigenen Betrieb in Düsseldorf gründete. Nachdem es seine Angehörigen in den Kriegswirren nach Drolshagen im Sauerland verschlagen hatte, verlegte er den Betrieb nach dem Krieg ebenfalls dort hin. Nach Emil Goebels Tod führte seine Witwe die Geschäfte noch bis 1965 weiter. Als der Inhaber einer Figurengießerei in Kevelaer Anfang der 1970er Jahre die Witwe Emil Goebels bezüglich der Übernahme von Modellen kontaktierte, drohte diese ihm, die Modelle lieber zu zerschlagen, bevor sie ihm diese über- und damit zuließe, dass ‚ein anderer unsere Modelle herstellt‘.“ Man bemerke die hübsche Ellipse: „über- und damit zuließe“!

Es ist eine Princessin!

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Die Reiseschreibmaschine ‚Prinzess 200‘ der Firma Keller und Knappich

Oberammergau, 22.5.1958, an Ch. Rumold: „Liebe Christl! Mit dieser Karte geht die eben eingetroffene Schreibmaschine weiter. Bitte kontrolliere, ob es die Pr. 200 / Lederkoffer / Perlschrift ist. Ich möchte das Paket nicht aufmachen, weil es so gut mit Stahlfedern verpackt ist. Herz, ich freue mich selbst darüber, daß wir sie nun haben. Sei herzlich gegrüßt von Deinem Berthold.“

Die Princess 200 erblickte das Licht meiner Welt also Ende Mai 1958. Schon einen Monat später (mit knapp drei Jahren) übte ich mich in ihrem Gebrauch: „Christl, hab vielen Dank auch an Lothar für eure beiden Briefe. Unser Lothar schreibt ja schon sehr schön. Soll er sich nur mit der Schreibmaschine vertraut machen, das ist das beste Handwerkszeug.“  (Brief vom 15.6.1958)

Im Konzert: Schubert, Bartok, Beethoven

Oberammergau, 16.3.1958, an Ch. Rumold: „Und denk nur, was ich mir am Freitagabend erlaubt habe. In Garmisch war ich im Konzert der Münchner Philharmoniker. Nun, das wäre an und für sich nicht so schlimm, aber ich hatte mir den besten Platz genommen für acht Mark. – Es war wunderschön. Mit Franz Schuberts Unvollendeter, es waren zwei Sätze, wurde der Abend eingeleitet und der Meister verstand es mit der reifen Romantik einem die Alltagsgedanken auszuziehen und gab ein kostbares Gefühl der Freude dafür. Es war aber auch eine Augen- und Ohrenweide, vom Balkon Mitte in der zweiten Reihe hatte ich einen Blick über den ganzen Saal und das Orchester. Die vielen Geigen und Kontrabaßgeigen und Flöten und Fagotte, die Hörner und Posaunen, die Harfe und ganz hinten vier Pauken um einen kleinen Mann gestellt. Den zweiten Teil füllte ein modernes Tonstück, eine Komposition von Bartok, aus. Das Stück wurde von einem Solisten mit Violine beherrscht und war von überraschend guten Gedanken modern auf klassischer Grundlage aufgebaut. Nun verstehe ich ja nicht viel von Musik, aber ich war doch ein bissel verzaubert. Ja und dann kam Beethovens Achte. Ich war nahe daran, enttäuscht zu sein. Ja es war Beethoven, meisterlich. Aber zu leicht, fast mozartartig. Er konnte das Moderne für mein Empfinden nicht übertrumpfen. Ich hatte auf das Packende des Bartoks nun ein Finale von Beethoven erwartet – aber es kam ein starker Mozart, ja, Mozart hat mich in ‚Don Giovanni‘ viel mächtiger gepackt. Doch ich erlaube mir da nicht zu viel Kritik. Es war doch ein sehr schöner Abend. Christl, mein Lieb, wärst du doch bei mir gesessen. Ich hatte den schwarzen Anzug an und das gute Hemd. Alles war sehr gut gekleidet. Aber die Musik hat mir doch eine Tür aufgetan und mich in eine wirklich schöne Welt sehen und hören lassen, von der ich nur zu gerne noch mehr hören möchte. Ich wurde von meinem Zahnarzt hingebracht und wir fuhren dann auch wieder gemeinsam zurück. In einem neuen Opel Olympia, wirklich prima fuhr der Wagen. Wir sausten nur so durch das tief verschneite Land. Ja, Schnee haben wir jetzt in Massen und alles hat ihn satt. Doch sicher ist bis Ostern der Frühling da.“

Skizze zu einer Körper-Biografie

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Berthold Rumold mit ca. 30 Jahren in den Ammergauer Bergen

Mein Vater war ein gutaussehnder Mann. Als Junge erkannte ich in ihm Old Shatterhand alias Lex Barker wieder. Was war dagegen schon der Alain-Delon-Vater meines besten Freundes, zumal jener diesen regelmäßig schlug. Ein gutaussehnder Mann mit einem leichten Buckel, den ich schon als Siebenjähriger wahrnahm, da mir auffiel, dass mein Vater bei Tisch keineswegs so vorbildlich gerade saß, wie man es von mir verlangte. Kein Hühne, aber groß, blond und blauäugig genug – von Frauen durchaus umschwärmt bis in seine Fünfziger hinein. Bildhauer wird man nicht zuletzt aus körperlichen Gründen: aus erotischer Liebe zum Plastischen und weil man sich gerne muskulär verausgabt. Noch die angeborene Rückgratverkrümmung schien zu seiner Holzbildhauerei zu passen, da beim Schnitzen nicht selten eine leicht gekrümmte Haltung einzunehmen ist. Ludwig Marcuse sieht im Körper „den großen Vergessenen, der uns herumschleppt“ (Philosophie des Un-Glücks). Nun, bis in seine dreißiger Jahre hinein war mein Vater durchaus nicht somavergessen: er kletterte in den Bergen rund um Oberammergau, fuhr Ski und liebte es, an einem Bach in der Sonne zu liegen; hatte er die Möglichkeit dazu, schwamm er im Rhein. Und das, was er in einem Brief einmal „das gewisse Etwas“ genannt hat, kam zwar (mindestens) bis 1962 mehr als nur etwas zu kurz, dies aber nur aus Mangel an Gelegenheit und nicht aus Mangel an Interesse.

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Von links nach rechts: Berthold Rumold, Georg Rumold (der eine Großvater) oder Friedrich Ott (der andere Großvater), Klara Rumold (die Mutter), Änne Rumold (eine Schwester); 1934 im Gartenhaus, Sieglindenstr. 9, Ludwigshafen

Was macht einer, der gerne klettert und im Schnee herumrutscht, wenn ihn das selbst gewählte Schicksal nach Karlsruhe zurück verschlägt? Aus den Bergtouren alleine oder mit einem Kumpel wurden Spaziergänge mit der Familie, Rad- und Wandertouren mit der Tochter. Ansonsten war der Körper Bestandteil des Arbeitsprozesses und ging, als deren unabdingbare Voraussetzung, ein in die Holz- und Steinbildwerke, die er schuf. Den Werken tat das gut, den Knochen, Muskeln, Sehnen und Venen nicht nur. Der krumme Rücken wurde immer krummer. War es auch ein körperliches Sich-am-Ende-Fühlen, das meinen Vater schließlich veranlasste, einem Bekannten gegenüber zu äußern, er habe mit dem Leben abgeschlossen? Oder war es am Ende noch einmal jenes von weither kommende, existenzielle Es-geht-nicht-Mehr, das er mir vererbt zu haben glaubte, wie er im Brief vom 8.2.1958 schrieb: „Ist unser [damals zweieinhalb Jahre alter] Lothar wieder gesund? Es ist mir sehr nachgegangen, daß er sagte, es ginge nicht mehr. Das ist ein Stück Wesen von seinem Papa.“

Lieber keine Karriere und kein zweites Kind oder: Das Schlimmste wäre, wenn es besser würde

Oberammergau, 21.6.1958: „Meine liebe Christl! Es ist Samstagabend und eigentlich wollte ich ins Kino, denn das Regenwetter nimmt mir die Lust zum Arbeiten, obwohl ich dringend zwei Kruzifixe fertig schnitzen sollte. Na, vielleicht habe ich morgen mehr Arbeitsgeist. Es ging in dieser Woche etwas turbulent zu hier in meinem Verhältnis zum Geschäft und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre ich nächste Woche vorn im Laden Schnitzler und Verkäufer. Aber ich warte doch noch etwas ab, denn diese Stellung ist bei uns nichts so Normales wie sonst in einem Geschäft, es ist hier schon eine Schlüsselstellung. Mein Grünewaldrelief hat mich einen fühlbaren Sprung aufwärts gebracht im Betrieb. Zuerst wollte ich es ja nicht nach hier verkaufen, aber mein Chef bekam es zu sehen und war ganz begeistert davon. […] Sicher warst du bei meinem letzten Brief enttäuscht. Es ist schon eine Misere der augenblickliche Zustand unserer Ehe und wenn ich sehe, daß ich mich so langsam aber sicher im Geschäft hocharbeite, kann ich dir noch nicht einmal Hoffnung machen, so schnell von hier weg zu gehen. An Frau Goebel habe ich die hundert Mark wieder geschickt. Mit der hab ich mir’s verdorben, schrieb sie mir doch in einem Brief, daß eine Meisterstellung in ihrem Betrieb nur in Verbindung mit der Heirat einer ihrer Töchter frei würde. Na, ich hab dann etwas zu zynisch geantwortet, aber ich hatte mir halt wieder mal zu viel Hoffnungen gemacht.“

Zehn Tage später hatte meinen Vater die Nachricht erreicht, dass ein zweites Kind, meine Schwester Barbara, unterwegs war. Wie er in einem Brief vom 1.7.1958 schreibt, habe er zuerst an Abtreibung gedacht, daran, „etwas mit einem Arzt zu unternehmen“. Sein Bruder Günter (er schreibt konsequent „Günther“) verfüge gewiss über entsprechende Kontakte. Hatte es im oben auszugsweise wiedergegebene Brief vom 21.6. noch geheißen, er könne sich nun „langsam aber sicher im Geschäft hocharbeiten“, sieht er sich keine zwei Wochen später nicht dazu in der Lage „ein Kind und eine Frau zu ernähren […] und da soll nun gar noch ein Kind dazu kommen.“ Und weiter: „Wenn ich wenigstens einen anderen Beruf hätte. Von hier kann und will ich vor den nächsten zwei Jahren nicht weg. Ich beginne gerade, mich einzuarbeiten und will nicht wieder davonlaufen. Aber Christl, ich möchte auch nicht, daß du nach hier kommst. Ich kenne deine Abneigung gegen das Dorfleben nur zu gut und nichts wäre mir schrecklicher, als deine Unzufriedenheit neben mir.“ Mit anderen Worten: obwohl er im Begriff war, die ersten Stufen der Karriereleiter in einer (auch durch sein Zutun) prosperierenden Firma zu erklimmen, wäre es ihm lieber, das zweite Kind käme nicht zur Welt und auf keinen Fall will er, dass seine Frau und sein(e) Kind(er) zu ihm ins dörfliche Oberammergau (das damals durchaus etwas Weltläufiges gehabt haben muss) ziehen.