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Bonsoir tristesse – in den Anlagen von Schloss Linderhof

Oberammergau, 13.7.1957: „Christl, ja, schicke mir bitte das Fahrrad, ich wollte mich ja noch erkundigen, ob und wie es am besten zu senden ist. Gib es bitte vorher zur Reparatur, ich hoffe, Dir nächste Woche siebzig Mark schicken zu können. Es wäre doch schön, wenn ich als am Abend zum Schloß Linderhof fahren könnte. Ich war mit Josefs Rad schon zweimal dort und fand in den gepflegten Anlagen immer schöne Stunden der Erholung und die Fahrt durch die Täler ist für mich ein Genuß. Übrigens höre ich unter den Besuchern immer die pfälzische Landauer Mundart. Sicher sind es so Weinbäuerle. Dick und behäbig watscheln sie um das Lustschlößle und hören gelangweilt den Verslein der Reiseführer zu. Wie hätte wohl der König Ludwig den Kopf geschüttelt, wenn er den schwatzenden Lindwurm mit tausend Beinen und Dickköpfen in seinem für die Einsamkeit erbauten Lustschlößle gesehen hätte. Aber wenn abends sich alles verlaufen hat und man oben am Tempelchen sitzt und den ruhig grafiatätischen Schwänen um den vergoldeten Springbrunnen zuschaut und das Auge die kunstvoll angelegten Rasenanlagen auf und ab spazieren läßt, atmet das Ganze doch eine schöne Ruhe aus, und wenn das Wollen dieses letzten Bayernkönigs auch etwas weltfremd war, so wollte er doch dem Schönen im Leben ein Denkmal setzen und gerade weil er sich aus der Antike und dem vergangenen Barock die Anleitung stehlen mußte, breitet sich über das Ganze so eine eigene Melancholie. Da wirkt ein neues Dorfkirchlein unterwegs schon viel lebenssicherer. Beinahe hätte ich -naher geschrieben. Aber können wir urteilen, was lebensnaher ist, das Geldverdienen oder sich geben an das Schöne? Christus entschied sich ja einmal für Maria nicht für Marta. / Ach, Vorhang zu mit den Lebensbetrachtungen. Ich muß noch zwei Herrgöttlein schnitzen bis Montag früh.“

"Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Das Tempelchen ist mein Lieblingsplatz.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

"Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier." Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

„Von ihm [vom Tempelchen] aus sieht man das Bild hier.“ Aufnahme: Berthold Rumold (1957)

Unbedachter Sozialneid und Porträt des Schnitzers als Gärtner

Oberammergau, 24.2.1957, an Ch. Rumold: „Gell, wenn man im Radio von den Errungenschaften der Metallarbeiter hört, mit ihrer Fünftagewoche und dem Lohnausgleich im Krankheitsfalle, da schütteln wir nur den Kopf und der Seppl sagt dazu: „Hätt‘ ma doch nor was g’scheit’s g’lernt!“ Aber gerade weil ich sehe, wie unregelmäßig bei uns gearbeitet wird, wie ein Unwohlsein oder Krankheit den Verdienst einer Woche so enorm schmälern können, will ich unbedingt einmal auf Nummer sicher gehen. / Schatz, vor mir steht neben Deinem Bilde ein kleiner Blumenstock, ein ‚fleißiges Lieschen‘, und treibt und treibt seine Blätter. Hab ich Dir eigentlich schon von ihm geschrieben? Er war nur ein kleiner Ableger mit einem roten Blütchen. Der Hans, ein Arbeitskumpel, hatte zwei und schenkte mir eines davon. Das seine hatte drei Blüten und meine eine fiel zum Pech auch noch bald ab. Aber das Stöckle treibt dafür Blätter noch und noch und geht schön gerade in die Höhe, daß ich meine größte Freude daran habe. Wie einem so ein ständiges Wachstum unter einer eigenen Pflege doch erfreuen kann. Dem Hans seines will nicht recht wachsen, scheinbar weil es zu arg blüht. Er hat jetzt die Blüten abgepflückt, vielleicht wird’s dann besser. Ein bissel Kopfweh hab ich wieder, sicherlich ist das trübe Wetter daran schuld, ich werde besser eine Tablette nehmen.“

Die Bezahlung auf Stücklohnbasis war zweifellos von Nachteil, etwa wenn einer der Schnitzer krank wurde. Andererseits bot das verkappte Verlagswesen, das von ‚Lang selig Erben‘ ins 20. Jahrhundert hinein gerettet worden war, geradezu erstaunliche Vorteile. Bei entsprechendem Arbeitseinsatz lagen die Verdienstmöglichkeiten deutlich über denen der meisten („anderen“) Fabrikarbeiter mit ihren vertraglich garantierten Festlöhnen samt bezahlten Urlaubstagen und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Aber vor allem: die Schnitzer benahmen sich in ihrer Werkstatt als wären sie dort zuhause (ein typisches Kennzeichen des Verlagswesen war ja auch die Heimarbeit). Kontrollen irgendwelcher Art gab es nicht. Jeder kam und ging zu jeder Tages- und Nachtzeit wie er wollte oder konnte, und dies auch an Sonn- und Feiertagen. In der Werkstatt konnte man sich etwas kochen, es wurde gegessen und getrunken, das Radio lief beinahe ohne Unterbrechung. Mein Vater schrieb dort die Mehrzahl der Briefe an meine Mutter (ich hätte dieses Buch auch „Briefe aus einer Oberammergauer Schnitzwerkstatt“ nennen könne), während am Tisch in der Ecke ein Kartenspiel im Gange war oder die Kumpels sich fürs Fastnachtstreiben umzogen. Und vielleicht am erstaunlichsten: es war sogar möglich, nebenbei in Schwarzarbeit Schnitzaufträge für fremde Abnehmer zu erledigen oder die fertigen Stücke nicht an die eigene Firma, sondern unmittelbar an winters wie sommers hereinschneiende Touristen zu verkaufen (dann vermutlich unter dem Ladenpreis der Firma, aber über dem Betrag, den man von ‚Lang selig Erben‘ dafür bezahlt bekommen hätte). Den Werkstattinhaber schien das nicht zu interessieren, solange er von seinen Schnitzern eine ausreichende Menge an verkaufbaren Schnitzerein erhielt.

Oberammergau war alternativlos

Oberammergau, 17.8.1957, an Ch. Rumold: „Gestern Abend hab ich im Bett mir alle Möglichkeiten mal wieder durch den Kopf gehen lassen. Wenn es doch nur in Karlsruhe noch einen Holzbildhauer außer dem Kinsler gäbe. Ich empfinde, daß wir zu starke Rivalen geworden sind, denn er hat doch durch den Brändli jetzt eine große Summe Geld verloren und in seinem Prestige vor den umliegenden Bildhauern nicht gerade gewonnen. Das ist doch ein starker Streitstachel gegen mich, wenn ich in seiner Werkstatt wäre und ich habe noch mehr eingebüßt und bliebe ihm gewiß keine Antwort schuldig. Wenn ich auch jetzt keinen solch häßlichen Haß mehr gegen ihn empfinde, so habe ich doch ein Distanzgefühl von Mann zu Mann, das vorerst keine Versöhnungsszenen erlaubt. Ja, und Heimarbeiten zu Hause bei Dir, das schluckt wieder so viel Geld beim verschicken der fertigen Christusse, denn mit angeleimten Armen und zarten Fingern muß jedes Stück gut verpackt werden. Und wenn ich mir jetzt schon Filialen suchen würde, an die ich schwarz liefere und nur von Zeit zu Zeit pro forma an meine Firma hier Arbeiten schicken würde, das möchte ich auch nicht mehr riskieren. Also sinkt man wieder mit einem Seufzer zurück in die Kissen und glaubt an die große Liebe, die ich spüre.“

Nachdem mein Vater aus dem Aalener und Lauchheimer „Exil“, in das er sich auf der Suche nach einer Einkommensquelle nach der Gesellenprüfung  (Mai 1952) geflüchtet hatte, wieder nach Karlsruhe zurückgekommen war, unternahm er einen ersten Versuch, sich mit einer eigenen Holzbildhauer-Werkstatt (im Haus des erwähnten Herrn Brändli) am Karlsruher Hauptfriedhof selbständig zu machen. Sein ehemaliger Lehrmeister Karl Kinsler vereitelte dies, vermutlich indem er die Handwerkskammer darüber informierte, dass da einer ohne die zu diesem Zeitpunkt wieder erforderliche Meisterprüfung selbständig tätig war.

Kleider machen Leute und kosten Geld, das man womöglich nicht hat

Oberammergau, 26.8.1957, an Ch. Rumold: „Lieb, und jetzt habe ich Dir noch etwas zu beichten. Bei dem Schwarzhandel mit den Schnitzeisen hatte ich etwas Geld hereinbekommen und nichts Schlaueres zu tun gewußt, als mir beim Schneider den Wunsch meiner materiellen Wünsche zu erfüllen, nämlich einen schwarzen Anzug zu bestellen. Leider wird er erst in drei Wochen fertig. Ausgerechnet jetzt. Ja, das Geld hatte ich hereinbekommen, aber vom diesmaligen Zahltag mußte zum Pech noch das meiste herhalten. Christl, Lieb, bitte halte auch das noch aus, nächste Woche zum 1. schicke ich fünfzig Mark.“

Wilde Burschen hindern am Schreiben

Oberammergau, 24.6.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Wenigstens einen Kartengruß aus meinem schreibmiseriablen Zustand. Und das Geld, das mir mit verschiedenen Ausgaben diesen Monat grad so unter den Fingern zerrann. Lieb, ich bin froh, daß Du gesund bist und Lothar. Ich wünsche Mutti gute Besserung. Hoffentlich wird der nächste Monat besser. Oft könnte ich verzweifeln, daß ich nicht fähig bin, ein ordentliches Familienleben zustande zu bringen. Da schreibe ich Briefe, die ich später gleich zerreiße. Tausend Grüße, Dein Berthold!“

Zwei Wochen zuvor, am 11.6.1957, war von seiner Schreibmiseriabilität noch nichts zu merken gewesen: „Meine liebe Christl! Wenn es doch ein ruhiges Zimmer gäbe … Kaum hab ich das jetzt in der Frühe um halb sechs Uhr geschrieben, da stolpert schon wieder unser Edmund herein und redet, wie’s die Bäuerlein eben gerne tun. Schatz, ich hab so heftig geschrieben, daß Du nicht kommen solltest, und dann sitzt man doch da und wartet und hofft. – Na, es gab wenigstens tatsächlich keine Geldausgaben. Im Augenblick ist es wirklich schlimm. Dauernd wechseln die Christusmodelle, mal ein Riemenschneider, dann ein normaler Oberammergauer, dann ein Würzburger. Das ist zwar interessant, aber als Stücklohnarbeit läßt es kein Geld zusammenbringen. Es ist bei uns jetzt auch so langsam über den Frühling hinausgegangen und die Wiesen duften und die Berge locken. Ich kaufte mir eine Wanderkarte, die mir am Sonntag schon guten Dienst geleistet hat. Ich möchte nicht in hochschnellenden Zügen so eine Bergtour beschreiben. Dazu müsstest Du hier sein und eine solche mitmachen. Da ist der Kofel doch ein kleines Felsle gegen das Wettersteingebirge. Ich fühle mich auch recht sicher am Berg und bei einiger Vorsicht wird auch nichts Unfallähnliches geschehen. Mein Lieb, für Dein schönes Päckchen und Euer beider lieben Gruß vielen, vielen Dank. Wenn nur die Bude nicht so voll von wilden Burschen gewesen wäre, ich hätte so gerne gleich geschrieben. Christl, mein Herz, bleib mir gut und gesund mit unserem Lothar. Gott behütet und vielmals gegrüßt und geküßt von
Deinem Berthold. Viele Grüße an Mutti und Siegfried!

Eine Wanderung auf die Geierköpfe

Oberammergau, 27.10.1957, an Ch. Rumold: „Gestern machte ich eine wunderschöne Wanderung auf die Geierköpfe, das sind drei Zweitausender, die in Richtung Linderhof liegen und nicht so einfach zu besteigen sind. Um halb fünf fuhr ich mit dem Rad los. Ein schwarzer Himmel, bespickt mit Millionen Sternen lag fast bedrückend über dem Tal. Wenn kein Mond da ist, geht von den vielen Sternen keine Helligkeit aus und die Berge standen links und rechts und waren auch nicht gerade anheimelnd. Licht hatte ich keines am Rad und so fuhr ich im Dunkeln. Ich wollte mal wieder am Sabbat [dem Sonntag der Adventisten, L. R.] alleine sein – nun war ich alleine und die zuckenden Lichtstreifen der Sternschnuppen erschreckten einen immer wieder. An einem Bauernhaus fuhr ich vorbei, es stand einsam im Walde. Nein, dachte ich, wenn der Besitzer nicht zwei gute Hunde hat, ist es doch ein bissel gefährlich, hier zu wohnen. Um sechs Uhr war ich an der Landesgrenze und da begann es auch endlich zu dämmern und um halb sieben war ich am Fuße der Geierköpfe. Das Tal war hier hinten noch enger geworden und so düster es war, oben die Gipfel bekamen schon einen leichten Schein. Mein Rad stellte ich ins Unterholz und dann suchte ich den Pfad, aber nach zehn Meter brachte mir eine glatte Holzscheide schon den Erdboden fünf Zentimeter unter meine Nase. Na, das geht ja gut an, dachte ich, dachte aber auch gleich weiter, daß mir ein ganz reibungsloser Anfang auch nicht erwünscht ist. Ja, jetzt stieg ich und stieg und es wurde hell und ich bekam Hunger und ich setzte mich und aß und siehe unterm Essen sah ich wie schön hoch ich schon war und wie golden die Sonne die Gipfel umwarb. Ja, jetzt wurde der Tag schön. Immer höher ging der Weg und der Schnee auch. Ich stieg nämlich an der Nordseite, wenn’s da mal geschneit hat, bleibt der Schnee ein dreiviertel Jahr liegen, denn keine Sonne kann ihn auflecken, aber ich sah, daß ich bald hoch genug war, daß der Weg um den Berg herum führen konnte und ich somit in die schöne Sonne kam. Und es kam auch bald soweit. Am letzten Baumbestand standen noch zwei Hütten, in denen man übernachten konnte. Eine war offen. Es war die kleinere, ältere. Ganz roh gezimmert steht sie wuchtig da. Im Innern ist eine Seite zum Schlafen aufgebaut. Es sind in einem Meter Höhe waagrechte Balken so lang wie die Wand und ein Brett an der äußeren Seite, damit das dürre Tannenreißig, das als Matraze dient, und der Schläfer nicht herunterkollern. Ja, und dann lagen da noch Steine von einer offenen Kaminstelle. Alles ist geräuchert in der Holzhöhle. Die Schindeln auf dem Dachgebälk lassen die Sonne lustig durchblinzeln und bei schlechtem Wetter sicher auch den Regen. Nein, hier schlafen zu können, ist ein Kunststück. Also lassen wir diese Kunst den Hirten, die im Hochsommer hier ihr einsames Leben führen. Ich stieg weiter, immer den Pfad mit dem Instinkt suchend und lobte mich jedesmal, wenn ich an einer Stelle sah, daß ich ihn noch hatte und dann kam ich endlich in die Sonne. Es war mir ja nicht kalt, nein, im Gegenteil, ich schwitzte und hatte schon in der Hütte meine Wollweste mit Handschuhen liegen lassen, aber die Sonne zu spüren, tat so gut. Und nun wurde auch der Blick frei auf das Wettersteingebirge, die Zugspitze, die Alpspitze, den Waxenstein, den Eibsen, den Plausen, ja das ganze Tirol und Österreich lag im schönsten starken Sabbatmorgen vor mir ausgebreitet. Ach, wenn’s hier schon so herrlich mit der Aussicht war, wie schön würde da erst der Blick vom Gipfel sein. Also los, weiter auf den ersten Gipfel zu. Nun sind die Berge ja so gebildet, daß sie eine senkrechte Nordseite haben und eine weniger schwere Südseite und die Geierköpfe sind ein Massiv mit drei Gipfeln. Geht man auf dem Grat, so erreicht man die drei und kann gemütlich auf der Südseite zurückwandern. Ich hab’s so gemacht und es war wunderschön. Die Gemsen sind mir schon so vertraut, daß ich ihren Ruf nachahmen kann, da bleiben sie stehen und es kam tatsächlich eine bis auf fünf Meter heran. Aber dann machen sie plötzlich einen Sprung und wie die Wilde Jagd fliegen sie davon, daß der Boden donnert von dem sich lösenden Gestein unter den Füßen der ängstlichen Tiere. Aber sie sind so flink wie der Wind. Ja, ich war bis fünf Uhr wieder wohlbehalten und froh aber auch mit zittrigen Knien und brennendem Gesicht unten bei meinem Rad. Aber es war schön, der Spätnachmittag war so milde und ruhig, wenn ich mich umdrehte, lagen die Gipfel auf denen ich noch vor drei Stunden stand, so majestätisch und erhaben da und zeigten ihre faltige Nordseite als wollten sie sagen: Auf uns zu steigen bringt keiner fertig. Das Fahrrad rollte fast von alleine das Tal zurück, nur ab und zu mußte ich in die Padale treten. Die alten bekannten Berge zogen an mir vorbei. Ich hatte sie alle schon bestiegen. Die Sonne vollbrachte noch das Wunder des Alpenglühens und dann mußte ich bald wieder feste die Beinmuskulatur spielen lassen, um noch vor Dunkelheit nach Hause zu kommen. Auf meinem Zimmer angekommen, watschelte mir gleich Frau Strauß hinterher und sagte, daß ich eine Einladung von der Englischlehrerin bkommen hätte zu einem Tanzabend des Schulkurses. Aber ich war erstens zu müde, zweitens zu zufrieden und drittens hatte ich noch drei Mark in der Tasche, die für eine Woche reichen sollten. Und so legte ich mich gleich ins Bett und schlief auch bald ein.“

Mal schön, mal stolprig

Oberammergau, 2.8.1957, an Ch. Rumold: „Meine liebe Christl! Ich bekam beim Lesen Deines lieben Briefes ein ganz schlechtes Gewissen, denn während Du voll Sehnsucht an mich schriebst, spazierte ich ganz ruhig mit drei Frauen auf den Pürschling. Es waren Feriengäste, die bei uns in der Werkstatt schön eingekauft hatten, und weil meine Kumpels dabei die besten Verdiener waren, konnte ich für sie zum Dank den Frauen die Gegend zeigen. Es war aber trotzdem ein schöner Nachmittag. […] Ja, der Hans kommt am Sonntag für acht oder 14 Tage her und ich hoffe nur, daß das schöne Wetter weiter so anhält, damit ihm nicht die Zeit lange wird. Ich lasse ihn mal ziemlich alleine die schöne Natur hier erleben. er soll mal empfinden wie die Ruhe im Alleinesein ist. Vielleicht tut es ihm gut, vielleicht ist es ihm aber auch nicht recht. Mal sehen. Ich freue mich wenn er da ist. Es ist halt manchmal doch einsam und bei aller Freude, die ich mit den Kumpels habe, konnte ich doch noch nicht so was wie eine Kameradschaft schließen, denn die Wirtschaft mit ihrem Gestank ist nicht mein Milieu, in dem ich mich am Abend wohlfühle. Und am Sonntag Kundinnen spazierenführen ist doch zu gefährlich. Christl, Lieb, eben hab‘ ich das Geschriebene durchgelesen und es ist mir nicht ganz recht, daß ich das Schaffen mit den Leuten in den Worten so übertrieben habe. Vorgestern hatten wir die ganze Bude voll mit Leuten, die einen echten Ludwigshafener Dialekt sprachen und als ich sagte, daß ich auch von dort her bin, war das Hallo natürlich groß und ich mußte ihnen alles genau erklären, was wir hier machen und das ganze Drum und Dran. Dann wollten viele eine Schnitzarbeit mitnehmen, was mich zu der Arbeit brachte, mit so nahezu zehn Leuten und Kumpels zu verhandeln, aber mehr als ein Trinkgeld kam dabei nicht heraus. Im Gegenteil, meine Kumpels schimpfen jetzt mit mir, weil meine Landsleute so Geizkragen sind. Da läßt sich mit den Amerikanern eher ein Geschäft machen. So vergehen die Tage, mal ein bissel schöner und mal stolprig.“

Der Herrgott ist eine Ammergauer Spezialität

Oberammergau, 14.12.1957, an Ch. Rumold: „Zum Schreiben kam ich vor lauter Arbeit nicht, es ging wirklich ‚rund‘ in dieser Woche. Ich kam auf 159,- Mark zum Verrechnen. Aber bei Dir scheint ja im Geschäft auch allerhand Arbeit anzukommen. Christl, ich habe fest mit dem Kopfe genickt bei Deinen Worten, es sei Dir heute unerklärlich, weshalb Du einen Handarbeitsberuf gelernt hast. Nun, daß Du nähen kannst, ist schon gut, aber gell, wenn man die Buchhalter und sonstigen Kopfarbeiter betrachtet, da schüttelt man über sich selbst den Kopf, denn wie hart tun wir uns, um hundert Mark in der Woche zu verdienen, und die brauchen sich nicht sonderlich anzustrengen und kriegen’s auch. Daß man doch mit dreizehn Jahren das nicht begriffen hatte. Nun, ich arbeite darauf hin, daß es einmal besser wird, und Du packst es ganz bestimmt. Jetzt packt mich aber der Schlaf. Ich sollte schon seit acht Uhr im Bette liegen. So lautet wenigstens mein Arbeitsprogramm, das ich seit vierzehn Tagen gut einhalten konnte und mich wirklich vorwärts brachte. Am Abend um acht im Bette und in der Frühe halb vier raus (das Aufstehen fällt mir nach acht Stunden Schlaf bestimmt nicht schwer), bis zum Nachmittag habe ich dann einen Herrgott fertig, schleife eine Stunde meine Eisen und kann von vier bis halb acht Uhr lernen. Es ist mir sehr wohl dabei.“

Zu einer Poetik des Briefes und vom Bruddeln und Ausländergucken

Oberammergau, 7.7.1957, an Ch. Rumold: „Schatz, bis Du den Brief erhältst, ist es Dienstag und deshalb sollte ich ihn vielleicht im Dienstagmorgen-Geiste schreiben, aber es ist halt jetzt Sonntag – lies ihn bitte in einer ruhigen Nachmittagsstunde nochmal. Die Sonne scheint so friedlich in unsere Werkstatt. Ich habe heute länger geschlafen, wollte Dir dann gleich schreiben, habe aber gesehen, daß Dich der Brief morgen doch nicht mehr erreicht und dann halt ein bissel geschnitzt oder geputzt an der Lampe, meiner Sonntagsschnitzlerei. Das Radioprogramm war recht schön. Das Kaffeetrinken hab ich dann auf elf Uhr verlegt, das ist so günstig, weil, wenn ich bis halb zwölf gemütlich kaue und trinke, eben gleich das Mittagessen einbezogen werden kann. Als ich wieder alles verstaut hatte, kam einer meiner Kumpels, der Anderl, um ein bissel zum bruddeln. Er ist einer der wenigen Menschen, mit denen ich gerne so ein bissel bruddle. Es gefällt ihm dann die Radiosendung nicht, die ich geholt habe, und wenn ich auch noch die Uhr aufgezogen habe, so daß er’s nicht mürrisch machen kann, stellt er sich hinter mich und wackelt von einem Bein auf das andere. Bis ich ganz urbayrisch schimpfe, so ‚am Oa…‘ – nein, ich schreib’s besser nicht. Ich ging danach ein wenig mit ihm auf die Straße, da stehen vor unserem Haus unter einer Linde zwei Bänke und wenn ich da eine Weile bei ihm sitze, mit seiner Sonnenbrille auf der Nase, sind wir eigentlich beide zufrieden. Und der Verkehr fließt an einem vorbei, also ich kann Dir sagen, man weiß nicht wohin zuerst mit den Augen. Die Omnibusse voll winkender Menschen, die älteren Ausländerinnen in farbenschreiendster Aufmachung. Energisch aussehende Männer mit schönen Frauen. Alles lacht, schwitzt und so weiter.“

"Oberammergau - Dorfplatz mit Kofel": rechts im Bild vermutlich die beiden (in Rot gestrichenen) Bänke, von denen im Brief die Rede ist.

„Oberammergau – Dorfplatz mit Kofel“ (Mitte der 1950er Jahre): rechts im Bild vermutlich die beiden (in Rot gestrichenen) Bänke unter einer Linde, von denen im Brief die Rede ist.

Filialleiter bei Dettlinger?

Im Laufe der sechs Jahre (1956-1962) in Oberammergau überlegte mein Vater immer wieder (mehr oder weniger ernsthaft), ob es nicht eine Karlsruher Alternative gäbe, das heißt: ob er nicht auch in einer Werkstatt in Karlsruhe als Geselle arbeiten könnte, um die für die Ablegung der Meisterprüfung nachzuweisenden Gesellenjahre zusammen zu bekommen. Die Möglichkeit einer derartigen Möglichkeit zeichnete sich im November 1957, also am Ende seines ersten Jahres im Ammergau, ab. Bei „Herrn Dettlinger […] (dem Alten)“ handelt es sich vermutlich um den Sohn des Freiburger Holzschnitzers Joseph Dettlinger (1865-1937) und damit um den Vater des 2008 in Freiburg verstorbenen Josef Dettlinger. Bei Wikipedia wird dieser Josef (1930-2008) als Sohn von Joseph (1865-1937) bezeichnet, dabei war der jüngere Josef wahrscheinlich der Enkel des älteren Joseph und der Sohn des „Herrn Dettlinger“, mit dem mein Vater sich getroffen hat.

Oberammergau, 2.11.1957, an Ch. Rumold: „Eben habe ich mich von Herrn Dettlinger verabschiedet (dem Alten). Er hatte mit Kinsler durch die Gewerbepolizei Schwierigkeiten bekommen, aber wie er sagte, ginge der Schuß des H. Kinslers auf diesen zurück. Es kam mir das Geringkämpfel der beiden etwas abgeschmackt vor, aber ich mache mir Gedanken über einen Vorschlag von ihm. Er will bei der Brauerei Höpfner ein Stück Land pachten und einen Geschäftszweig errichten und ich soll bei ihm die Filiale übernehmen, wenn alles soweit kommt. Ich könne ja dann bei ihm meine Meisterprüfung machen. Ich habe mir nun bis jetzt gedacht: Absagen tu ich mal nicht. – Wir können ja miteinander an Weihnachten in Ruhe darüber reden zu Hause, Du und ich. – Ja einen kleinen Auftrag soll ich ihm noch machen, einen Christus, den er gesehen hat und dann hat er mir noch ein gutes Mittagessen bezahlt. Ich wäre halt doch glücklich, wenn ich bei Dir und unserem Buben sein könnte. In Karlsruhe ist ja auch eine Lehrerakademie. Das Lernen und Arbeiten macht mir im Augenblick viel Freude.“

Doch schon eine Woche später, am 11.11.1957, sieht er keinen innerehelichen Gesprächsbedarf mehr (jähe Entschlüsse waren bei ihm eher die Regel als die Ausnahme), denn er schreibt: „Mit Herrn Dettlinger werde ich kaum ein Geschäft eingehen, denn ich habe mich nach einigem Überlegen doch dazu entschieden, meinen Weg so weiterzugehen, wie ich es mir vorgenommen habe.“