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Betende Hände und ihre Wirkung

Oberammergau, 25.12.1956, an Ch. Rumold: „Die Süßigkeiten des schönen Paketes haben mir schon zum Teil gut geschmeckt und die Wurst kam mir gerufen. Im allgemeinen streiche ich mir Honig auf’s Brot, die Wurst ist so teuer, da war es mir aber jetzt doch recht. Die warmen Untersachen von Mutti kann ich ja auch sehr gut gebrauchen, sage ihr bitte meinen herzlichen Dank. Der Waltraud hättest Du vielleicht besser nicht die ‚Betenden Hände‚ geschickt, denn die fühlt sich jetzt scheinbar verpflichtet, also wenn ich denke, daß Du ihrem Mann einmal bei besonderen Anlässen etwas schenken wirst mit der Beischrift ‚dem lieben Günther‘, na danke, ich bekäme zumindest ein leicht zu definierendes Gefühl um die Herzgegend.“

Noch ein Herrgottschnitzer in Oberammergau

Oberammergau, 30.10.1956: „Meine liebe Christl! / Kurz ein paar Zeilen, daß ich gut angekommen bin und auch Arbeit gefunden habe. Meine neue Arbeitsstelle ist die Schnitzerei ‚Lang selig Erben‘ und beschäftigt ungefähr dreißig Schnitzer. Ich bin speziell den Herrgottschnitzern zugeteilt und fühle mich im Kreis von 7 Kollegen recht wohl. Die Arbeitszeit geht solange man will und wird nach Stücklohn bezahlt. Natürlich tue ich mir jetzt unter den Spezialisten noch schwer, aber es wird schon werden. Ein Zimmer habe ich auch schon, es kostet mit Frühstück und Wäschewaschen 30 Mark. Nun Lieb, ich schreibe Dir am Donnerstag mehr. Bleibe für heute vielmals gegrüßt und geküßt von Deinem Berthold! / Grüße u. küsse Lothar, grüße Mutti u. Siegfried.“

Alle Wege führen nach Oberammergau

Ende Oktober 1956 war mein damals siebenundzwanzigjähriger Vater mit seinem nur wenig älteren Bruder Günther mit dem Auto unterwegs im Voralpenland – wohl um die Landschaft in Augenschein zu nehmen, deren Teil mein Vater nun werden sollte. Denn wenig später arbeitete er schon für Lang selig Erben in Oberammergau als Holzschnitzer. Die Ansichtskarte stammt vom 22.10.1956, von meinem Vater irrtümlich mit 1957 datiert. Konnte er es damals schon kaum erwarten, wieder nach Karlsruhe zu seiner Familie zurück zu kehren? Obwohl die Jahre im Ammergau einmal die glücklichsten seines Lebens gewesen sein würden?

"Garmisch, 22.10.1956 - man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold

An Ch. Rumold: „Garmisch, 22.10.57 – Herz! Man kann sich drehen wie man will, es ist immer schön. Gruß und Kuß von deinem Berthold“

Heiligabend mit Joseph

"Oberammergau, 20.12.1956 - Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest Euer Papa!"

„Oberammergau, 20.12.1956 – Meine liebe Christl! Lieber Lothar! Die herzlichsten Grüße und Küsse sendet Euch zum diesjährigen Weihnachtsfest – Euer Papa!“

Oberammergau, 25.12.1956, an Ch. Rumold: „Du mußt mir noch genau schreiben, wann du kommst, damit ich dich abholen kann. Es kann sein, daß du von Murnau aus mit dem Bus fährst, denn nicht alle Züge fahren durch bis nach Oberammergau. […] Das Land ist jetzt ganz weich in Schnee getaucht, vielleicht können wir an Sylvester in Garmisch einem Schispringen zusehen. Es wäre ja schön, könnten wir in einem Hotel oder Gasthaus ein Zimmer nehmen, aber die sind ja so unverschämt teuer. Eine Nacht kommt da mindestens auf zehn bis fünfzehn Mark. Na, beim Joseph werden wir auch gut aufgehoben sein. […] Gestern am heiligen Abend war ich mit Joseph den Tag über in der Werkstatt und als er um sechs weg ging, mußte ich auch bald das Schnitzeisen aus der Hand legen. Es hat wirklich alles seine Grenzen. Nun, ich machte es mir auf zwei Stühlen bequem und lauschte auf die Weihnachtsmusik, auf mein Inneres, und überstand den Abend doch so leidlich gut bis es Zeit war zum Schlafengehen. Heute schnitzte ich den ganzen Tag an einem Christuskopf, aber gegen fünf Uhr war mir doch der Arbeitsgeist ausgegangen und ich ging seit langem wieder mal ins Kino. ‚Santa Lucia‘ mit dem dicken Torriani wurde gegeben. Am Anfang mußte ich mich fast überwinden, wenn das fette Gesicht in Großaufnahme kam aber dann hatte man sich an ihn gewöhnt und er sang auch recht gut.“

Der vaterlose Vater des vaterlosen Sohnes macht sich Gedanken über Vaterlosigkeit

Oberammergau, 10.11.1956: „Meine liebe Christl! Für deine beiden lieben Briefe und das süße Päckchen, sage ich dir von Herzen Dank. Christl, ich mache mir natürlich auch meine Gedanken über meinen Weg und bin zwar sehr unruhig, aber manchmal doch sehr zufriedenglücklich. Meine Arbeit macht gute Fortschritte. Neben mir sitzt ein Bildhauer von 40 Jahren. Er ist der Beste hier in der Werkstatt und einer der ersten Herrgottschnitzer im Ammergau. Dabei ist er ruhig und bescheiden. Ich halte mich gerne an ihn und er zeigt mir genauso gerne, wie er schnitzt. Lieb, das macht mich glücklich. Heute hatte ich mir vom Nachmittag auch einmal die Zeit genommen und einen Berg bestiegen. Es ist der ‚Kofel‚, der auf der letzten Ansichtskarte mit unserer Werkstatt im Hintergrund zu sehen ist. Er ist zwar nur ein Ausläufergipfel in der Hohen Bergkette der Alpen, aber man bekommt einen leichten Vorgeschmack von der Schönheit des Bergbezwingens. So ein Rundblick – ich wollte fast nicht mehr herunter.  Ja bei dieser Besteigung war ich auch glücklich. Es ist aber nicht das Gefühl vom Ferienglück, nein, es sitzt tiefer. Meine Lernbegierde ist unendlich und hier findet sie reichlich Nahrung. So geht es mir doch viel besser als auf dem Bau oder in der Fabrik. – Übrigens, wir sind in Oberammergau ungefähr 300 Schnitzer. Junge Männer wo du hin und naus schaust. Mit dem Arbeitseifer ist es bei ihnen nicht immer so gut bestellt wie in der ersten Woche, als ich herkam. Der Grund ihres Fleißes war damals, daß sie in der vorhergegangenen Kirchweihwoche dermaßen oft blau gemacht haben, daß sie es dann nachholen mußten und deshalb bis lange in die Nacht noch schnitzten. – Ich habe mich gefreut, daß du mir auch von Lothar etwas erzählt hast. Ich glaube, daß ich ihm fehle, jedenfalls denke ich selbst ja nur zu oft schmerzlich an eine vaterarme Kindheit.“

„Ich habe fest vor, mich hier zäh und fleißig hochzuarbeiten.“

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 24.11.1956: „Meine liebe Christl! Es ist Samstagabend und nur der Josef sitzt bei mir in der Werkstatt und schnitzt seine schönen Christuskörper. Heute habe ich um zwölf Uhr meine Eisen weggelegt und bin in mein Zimmer, um mal ein bissel zu schlafen. […] Ich hatte es nötig, denn es wird nahezu jeden Abend zwölf oder ein Uhr bis ich aus der Werkstatt komme. Ich fühle mich halt wirklich wohl und mein Hunger zu lernen ist unersättlich. Es macht mir viel Freude, an meinen Arbeiten zu sehen, wie sie von Stück zu Stück besser werden. Manchmal werde ich ja ungeduldig, wenn ich an einer bestimmten Körperstelle, z. B. gerade an den Rippen, einfach nicht unter einer Stunde fertig werde und die anderen schnitzen so schnell darüber hinweg. Allerdings kann man den Brustkasten dann auch ansehen, das entschädigt mich wieder. Um fünf Uhr werde ich müde und das Eisen legt keinen richtigen Schnitt mehr hin, dann gehe ich hinaus aus der Werkstatt und schnappe auf einem schönen Waldweg frische Luft und wenn ich etwas verzagt bin, weil es mir noch nicht schnell genug geht, so geben mir die Berge mit ihrem großen Anblick immer wieder neue Arbeitsfreude. Ich stehe noch immer auf 75 Mark in der Woche. Das ist aber brutto und ausbezahlt bekomme ich 66,66. In einer Woche komme ich bestimmt um einen Christus höher, daß ich dir sechzig Mark in der Woche schicken kann. […] Wir, d. h. gerade unser Geschäft braucht dringend neue Modelle. Wir waren noch vor einigen Jahren das führende Geschäft in Oberammergau, wurden aber von einem lebendigen Meisterbetrieb überholt. Der Andere bringt immer neue Gedanken ins Holz und wenn sie auch nicht besonders geistreich sind, so bieten sie doch der Kundschaft eine reiche Auswahl, für jede Gelegenheit das Passende zu schenken. Ich habe fest vor, mich hier zäh und fleißig hochzuarbeiten. Zum Glück verstehe ich mich bis jetzt mit allen Leuten sehr gut und will’s auch so weiter halten. […] Bei aller Vielzahl der Gedankengänge kommt immer wieder meine große Liebe zu dir und dem Buben und eine andere Liebe zu der Arbeit als Holzbildhauer durch. Ich weiß, daß beides unauslöschlich in mir lebt und hoffe, daß die Zeit auch Rat mit sich bringt.“

Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da – der Anfang in Oberammergau

Brief aus Oberammergau (Kleppergasse 10, bei Familie Strauß) vom 2.11.1956: „Meine liebe Christl! Sicherlich wartest du schon lange auf einen Brief von mir, aber es war diesmal ausnahmsweise keine Schreibfaulheit von mir, die mich nicht zum Schreiben kommen ließ. Ich muß vorerst noch schnitzen und nochmals schnitzen, um einigermaßen bei diesen routinierten Herrgottschnitzern mitzukommen. Aber ich komm jetzt schon auf 75 Mark in der Woche und hoffe in zwei bis drei Monaten wie die Andern meine hundert Mark verdienen zu können. Von der schönen Landschaft bekomme ich dabei vorerst noch nicht viel zu sehen, aber dafür um so mehr von seinen Bewohnern zu hören. Doch Liebe, vielleicht erzähle ich mal von Anfang an, wie es mir ging. Na, die Eisenbahnfahrt über München war regnerisch und trübe. In Murnau, der zweiten und letzten Umsteigestelle, fuhr ein Bus die Reisenden die letzten zwanzig Kilometer durch das tief verschneite Land bis Oberammergau. Ich hatte mal wieder Kopfschmerzen und steuerte mit meinen beiden Koffern gleich ins nächste Gasthaus. Übrigens hat mich ein leichtes dußliges Gefühl im Kopf bis heute noch nicht verlassen. – Ja ich nahm gleich ein Zimmer für eine Nacht, ging aber am Abend noch einige Meister besuchen. Arbeit war überall, nur kein Platz. Bis ich dann ins älteste und bekannteste Verlagshaus mit Werkstätten, dem ‚Lang selig Erben‘ kam, wo ich auch angenommen wurde. Ich glaube, es war der beste Griff den ich machen konnte, denn mittlerweile habe ich gesehen, daß jede anfallende Bildhauerarbeit in Holz bei uns ausgeführt wird. Das Geschäft hat fünf bis sechs große Werkstätten, in denen die einen Christusfiguren, die anderen Madonnen, wieder andere Altäre oder auch schöne Grabmäler oder profane Schnitzereien, also alles das, was ich lernen oder zumindest näher kennenlernen möchte, ausführen. Und schnitzen können die Leut das ist zum Staunen. Ja und dann kam der Dienstag, an dessen Abend mir der Meister sagte, daß ich bleiben könne. Er gab mir auch eine Adresse wo ich schlafen könne und so zog ich gleich um. Meine Wirtin sieht so aus wie Frau Bauer in Bulach. In meinem Zimmer schläft noch ein junger Mann mit dem ich mich schon gut verstehe. Er ist aus dem Rheinland und auch Schnitzer, aber das Beste an ihm ist, daß er hier eine Braut hat, bei der er schlafen kann, wenn du zu mir kommen kannst. Meine Kollegen sind Leute in meinem Alter außer einem vierzig und einem sechzig Jahre alten Arbeiter. Es gibt viel Gaudi während der Arbeit, das Radio spielt dazu und manchmal ist [es] ein bissel zu arg. Aber das ist nicht schlimm. Wir sitzen alle beim Schnitzen, also geht es nicht wie in Karlsruhe, daß das Holz in die Hobelbank eingespannt wird, sondern man hält den Herrgott in der Hand und bearbeitet ihn mit dem Schnitzmesser und nur sparsam mit den Eisen. Das war natürlich für mich ganz neu und ist noch eine große Umstellung, aber viel bequemer. Ja ich habe gemerkt, daß es auch schneller und sauberer geht. Die ‚Buam‘ kommen und gehen, wann sie wollen und es wird schon neun, halb zehn Uhr am Abend bis der Letzte sein ‚Pfürdi‘ sagt. Sonntags oder feiertags, wie gestern, wird nach der Kirche schön weiter geschnitzelt bis zum Nachmittag. Und wenn sie nicht schnitzen, sitzen sie so da und die Frauen manchmal auch dabei. Wenn da das Verhältnis untereinander nicht so freundschaftlich wäre und von jedem eine Gemütlichkeit ausstrahlen tät, nachher wär’s eine Plage. Aber so kann ich es gut aushalten. Ja mein Herz, so nimmt eine Sehnsucht nach dir und eine Freude an der Arbeit, halt, der Lothar ist auch noch da, meine Seele ein. Ich bin in Gedanken fast immer bei dir und dem Buben und bin glücklich, wenn ich dich wieder in den Arm nehmen darf und Lothar spazieren führen kann. Es ist jetzt Freitagabend, hoffentlich liegst du schon im Bett, es geht auf zwölf. Träum was schönes von uns und laß dich vielmals grüßen und küssen von deinem Berthold. Viele liebe Grüße und Küsse an Lothar. Viele Grüße an Mutti und Siegfried.“

mitgiesskanne1957

„halt, der Lothar ist ja auch noch da“ (etwa ein halbes Jahr später, im Sommer 1957)

 

Weihnachten 1956

brief_aEr schreibt am 22. Dezember 1956 aus Oberammergau über die Weihnachtsfeier der Firma Lang (bei der er als Schnitzer Arbeit gefunden hatte) am Abend zuvor:

„Es kamen nahezu fünfzig Leute zusammen. In der Abrechnung lagen zwanzig Mark Weihnachtszulage bei, da war natürlich gleich eine gute Stimmung unter uns. Am Abend zogen wir uns gut an und zottelten los in das festlich geschmückte Gasthaus, wo an den festlich geschmückten Tischen schon alles auf die bekannt gemütlich langsamen Herrgottschnitzer wartete. Es wurde zuerst gut gegessen, darauf der Baum ins Kerzenlicht gebracht und ein paar Weihnachtslieder gesungen. Jeder bekam eine Flasche Wein, Zigaretten und einen Gutschein zum freien Biertrinken für den Abend.“

Aus demselben Brief geht hervor, dass seine Frau (und meine Mutter) am Jahresende für vier Tage zu Besuch nach Oberammergau kommen sollte. Etwa mit mir fünfzehneinhalb Monate „altem“ Wurm im Gepäck?

Bruder Maier will seine hundert Mark

Am 8. Dezember 1956, spät am Abend, schreibt er, dass es heute wieder spät sei, er aber wenigstens noch vielen Dank sagen wolle, für die beiden lieben Briefe und das schöne Paket. Er habe Arbeit für neunzig Mark angenommen, so dass er wenigstens fünfzig Mark für die Kasse schicken könne. Dann teilt er mit, dass er an Weihnachten nicht nach Hause kommen könne, weil er Schulden zurückzahlen müsse – „Bruder Maier will seine hundert Mark“ – und außerdem die Weihnachtsfeiertage brauche, um Modelle anzufertigen, deren Ausführung ihm eine Stange Geld bringen werde. Ich war damals fünfzehn Monate alt.

(„Bruder Maier“ gehörte zur christlichen Glaubensgemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, der mein evangelischer Vater sich vor seiner Zeit in Oberammergau informell angeschlossen hatte.)