Nachdenken über die Passionsspiele

Opel_Olympia_De_Luxe_1,5-Liter_4-Door_Sedan_1939

Ein alter, hochrädriger Opel (Olympia 1939)?

Oberammergau, 22.5.1960: „Christl, mein Schatz! / Ich kann erst am nächsten Freitag etwas Geld schicken. Ich habe mir ein Paar Shorts, ein zitronengelbes Sporthemd und Sportstrümpfe gekauft und es bleiben mir noch vierzig Mark. / Ach, Christl, ich muß Dir gleich sagen, daß ich so gemischt gelaunt bin. In der vergangenen Woche wurde nicht viel gearbeitet vor lauter Schauen. Wie die Halbstarken gaffen wir den Ausländern und vor allem den erotischen Weiblichkeiten nach. In ihren Kimonos und indischen Umhängen sahen sie auch ganz neu für unsere Augen aus. Aber es ist weit über die Hälfte ein grausiges Globetrotter-Publikum mit Baskenmützen, Windblusen, vergerbten Gesichtern und sehnigen dünnen Beinen. Die Engländer und Franzosen kommen mit alten, hochrädrigen Opeln. Ich habe mir das jetzt eine Weile angesehen und vorerst ein bissel genug davon. / Über das Passionsspiel habe ich gestern im Radio einen Bericht gehört, in welchem die alte Frau Lang (85 Jahre) erzählte, wie das früher war. Da kamen die Besucher in Fußmärschen so als Wallfahrer bis von der Donau und sahen sich als Abschluß ihres Bußganges den Leidensweg Christi an. Ich glaube, in diese Zeiten gehörte das Spiel. 1950 war der Reisebetrieb für unsere Geldbeute auch noch beschränkt auf das Inland und selbst die Intelligenz schaute sich das Schauspiel an. Also heute bietet das Theater im Barock-Rokoko-Gewand dem Intellekt nicht mehr den richtigen Anreiz und die Prominenz läßt sich ja irgendwie von der geistig gebildeten Schicht führen. Ich vermute halt, daß diese Leute ihren Urlaub in anderen Gefilden verbringt. Übrigens hat der junge Wagner in Bayreuth seinen ererbten Opern auch ein neues Gewand geben müssen. Und das bei einer Wagnermusik, die doch wirklich genial ist. / So wundere ich mich halt nicht, wenn das Publikum hier zwar noch in Massen kommt, aber weder aus dem Wunsche, in Gläubigkeit zu schauen, noch dem scharfen Geiste neue Auseinandersetzungen zu bieten. Dieses Mitteldrin ist mir sowieso unsympathisch. Aber vielleicht ist das verregnete Wetter heute der Grund, daß ich mit der Umwelt so unzufrieden bin. Übrigens werden die Spieler in ihren leichten Tüchern heute batschnaß und die Stimmorgane bald erkältet.“