Eine Wanderung auf die Geierköpfe

Oberammergau, 27.10.1957, an Ch. Rumold: „Gestern machte ich eine wunderschöne Wanderung auf die Geierköpfe, das sind drei Zweitausender, die in Richtung Linderhof liegen und nicht so einfach zu besteigen sind. Um halb fünf fuhr ich mit dem Rad los. Ein schwarzer Himmel, bespickt mit Millionen Sternen lag fast bedrückend über dem Tal. Wenn kein Mond da ist, geht von den vielen Sternen keine Helligkeit aus und die Berge standen links und rechts und waren auch nicht gerade anheimelnd. Licht hatte ich keines am Rad und so fuhr ich im Dunkeln. Ich wollte mal wieder am Sabbat [dem Sonntag der Adventisten, L. R.] alleine sein – nun war ich alleine und die zuckenden Lichtstreifen der Sternschnuppen erschreckten einen immer wieder. An einem Bauernhaus fuhr ich vorbei, es stand einsam im Walde. Nein, dachte ich, wenn der Besitzer nicht zwei gute Hunde hat, ist es doch ein bissel gefährlich, hier zu wohnen. Um sechs Uhr war ich an der Landesgrenze und da begann es auch endlich zu dämmern und um halb sieben war ich am Fuße der Geierköpfe. Das Tal war hier hinten noch enger geworden und so düster es war, oben die Gipfel bekamen schon einen leichten Schein. Mein Rad stellte ich ins Unterholz und dann suchte ich den Pfad, aber nach zehn Meter brachte mir eine glatte Holzscheide schon den Erdboden fünf Zentimeter unter meine Nase. Na, das geht ja gut an, dachte ich, dachte aber auch gleich weiter, daß mir ein ganz reibungsloser Anfang auch nicht erwünscht ist. Ja, jetzt stieg ich und stieg und es wurde hell und ich bekam Hunger und ich setzte mich und aß und siehe unterm Essen sah ich wie schön hoch ich schon war und wie golden die Sonne die Gipfel umwarb. Ja, jetzt wurde der Tag schön. Immer höher ging der Weg und der Schnee auch. Ich stieg nämlich an der Nordseite, wenn’s da mal geschneit hat, bleibt der Schnee ein dreiviertel Jahr liegen, denn keine Sonne kann ihn auflecken, aber ich sah, daß ich bald hoch genug war, daß der Weg um den Berg herum führen konnte und ich somit in die schöne Sonne kam. Und es kam auch bald soweit. Am letzten Baumbestand standen noch zwei Hütten, in denen man übernachten konnte. Eine war offen. Es war die kleinere, ältere. Ganz roh gezimmert steht sie wuchtig da. Im Innern ist eine Seite zum Schlafen aufgebaut. Es sind in einem Meter Höhe waagrechte Balken so lang wie die Wand und ein Brett an der äußeren Seite, damit das dürre Tannenreißig, das als Matraze dient, und der Schläfer nicht herunterkollern. Ja, und dann lagen da noch Steine von einer offenen Kaminstelle. Alles ist geräuchert in der Holzhöhle. Die Schindeln auf dem Dachgebälk lassen die Sonne lustig durchblinzeln und bei schlechtem Wetter sicher auch den Regen. Nein, hier schlafen zu können, ist ein Kunststück. Also lassen wir diese Kunst den Hirten, die im Hochsommer hier ihr einsames Leben führen. Ich stieg weiter, immer den Pfad mit dem Instinkt suchend und lobte mich jedesmal, wenn ich an einer Stelle sah, daß ich ihn noch hatte und dann kam ich endlich in die Sonne. Es war mir ja nicht kalt, nein, im Gegenteil, ich schwitzte und hatte schon in der Hütte meine Wollweste mit Handschuhen liegen lassen, aber die Sonne zu spüren, tat so gut. Und nun wurde auch der Blick frei auf das Wettersteingebirge, die Zugspitze, die Alpspitze, den Waxenstein, den Eibsen, den Plausen, ja das ganze Tirol und Österreich lag im schönsten starken Sabbatmorgen vor mir ausgebreitet. Ach, wenn’s hier schon so herrlich mit der Aussicht war, wie schön würde da erst der Blick vom Gipfel sein. Also los, weiter auf den ersten Gipfel zu. Nun sind die Berge ja so gebildet, daß sie eine senkrechte Nordseite haben und eine weniger schwere Südseite und die Geierköpfe sind ein Massiv mit drei Gipfeln. Geht man auf dem Grat, so erreicht man die drei und kann gemütlich auf der Südseite zurückwandern. Ich hab’s so gemacht und es war wunderschön. Die Gemsen sind mir schon so vertraut, daß ich ihren Ruf nachahmen kann, da bleiben sie stehen und es kam tatsächlich eine bis auf fünf Meter heran. Aber dann machen sie plötzlich einen Sprung und wie die Wilde Jagd fliegen sie davon, daß der Boden donnert von dem sich lösenden Gestein unter den Füßen der ängstlichen Tiere. Aber sie sind so flink wie der Wind. Ja, ich war bis fünf Uhr wieder wohlbehalten und froh aber auch mit zittrigen Knien und brennendem Gesicht unten bei meinem Rad. Aber es war schön, der Spätnachmittag war so milde und ruhig, wenn ich mich umdrehte, lagen die Gipfel auf denen ich noch vor drei Stunden stand, so majestätisch und erhaben da und zeigten ihre faltige Nordseite als wollten sie sagen: Auf uns zu steigen bringt keiner fertig. Das Fahrrad rollte fast von alleine das Tal zurück, nur ab und zu mußte ich in die Padale treten. Die alten bekannten Berge zogen an mir vorbei. Ich hatte sie alle schon bestiegen. Die Sonne vollbrachte noch das Wunder des Alpenglühens und dann mußte ich bald wieder feste die Beinmuskulatur spielen lassen, um noch vor Dunkelheit nach Hause zu kommen. Auf meinem Zimmer angekommen, watschelte mir gleich Frau Strauß hinterher und sagte, daß ich eine Einladung von der Englischlehrerin bkommen hätte zu einem Tanzabend des Schulkurses. Aber ich war erstens zu müde, zweitens zu zufrieden und drittens hatte ich noch drei Mark in der Tasche, die für eine Woche reichen sollten. Und so legte ich mich gleich ins Bett und schlief auch bald ein.“