Eine Einladung nach Brüssel

Oberammergau, 17.3.1959, an Ch. Rumold: „Also ich wurde vorige Woche eingeladen, nach Brüssel zu kommen über Ostern. Nicht von einem Mädchen, nein, von zwei Mädchen und einem Mann. Es war ein Ehepaar (50 Jahre) mit der Mutter von fünfundsiebzig bei uns in der Werkstatt. Ich habe sie herumgeführt und ihnen noch ein bissel Oberammergau gezeigt, und als sie am Ende sagten, ich solle doch auch mal zu ihnen nach Belgien kommen, wußte ich natürlich nichts Schlaueres zu sagen als, es wäre schön, aber dazu habe ich gar kein Geld. Nun die Leute fuhren wieder weg und am Samstag kam ein Brief mit fünfzig Mark und ich solle doch kommen, sie haben ja ein Haus, in dem ich wohnen kann, und ein Auto, mit dem sie mir gerne mal Belgien und Brüssel zeigen wollten. Ja, Lieb, und so sehr ich mich auch vor dir schäme, ich würde trotzdem mal gerne hinfahren. […] So ein hagerer englischer Typ sind sie und sprechen auch Englisch. Also sehr freundlich und sorglos, wie es halt Leute sein können, denen es an Geld nicht fehlt.“

Meine Mutter lebte mit meinem knapp dreijährigen Ich und meiner zweieinhalb Monate alten Schester damals noch mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen in einer viel zu kleinen Wohnung in Karlsruhe-Rintheim im Haus ihrer Großeltern väterlicherseites. Erst ein halbes Jahr später zog sie mit uns Kindern in eine eigene Dachgeschoss-Wohnung am Rande der Karlsruher Oststadt. Offenbar reagierte sie auf die ex- bzw. egozentrischen Urlaubspläne meines Vaters weder gekränkt noch sonstwie irritiert, sondern nur (scheinbar oder tatsächlich) besorgt, wie aus dem gut gelaunten Brief meines Vater vom 21.3.1959 hervorgeht.