Ehrfurcht vor dem Augenblick

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 23.4.1960: „Meine liebe Christl, ich habe mich so gefreut, als ich heute deinen lieben Brief gelesen habe. Es geht mir im Geschäft gut. Es ginge mir aber noch besser, wenn ich nicht so gute Kameraden hätte, die sich im Laufe des Jahres so allerhand einfallen lassen. Heute z. B. hat unser Toni geheiratet in der Ettaler Kirche. Es war ja sehr schön, nur an meine liegengebliebene Arbeit darf ich nicht denken. Aber es hat mir wirklich gut gefallen mit meinen sieben Kumpels in der Kirchenbank zu stehen, sitzen, knien, grad wie es die meisten von uns machen, so tun die andern auch. An Gott denkt dabei kaum jemand, aber wenn der Pfarrer vorne ein paar mahnende Worte an das Brautpaar richtet und die Orgel so schön spielt, hat man eine bestimmte Ehrfurcht vor dem Augenblick. Es ist doch die Liebe sichtbar geworden. – Schatz, ich denke so gerne an unsere Ostertage zurück, an unseren Kaffeetisch am Samstag und Sonntagmorgen, wie Lothar und Barbara so quicklebendig auf dem Sesselstuhl herumturnten. Ach, wir sind doch eine glückliche Familie. Ich bin verliebt in meine Kinder und vor allem in dich, Christl.“

Dazu ergänzend aus einem zwei Tage zuvor geschriebenen Brief: „Es war sehr schön bei dir und unseren Kindern. Vor allem habe ich mich über Lothar gefreut, denn um sein Herz hatte ich immer ein bissel Bange.“ Hier geht es nicht um das Herz im physischen, sondern gewissermaßen im metaphysischen Sinn. Das Getrenntleben ab Ende 1956 (im April 1960 seit ca. dreieinhalb Jahren) war offenbar meinerseits cordial nicht ohne Folgen geblieben. Wenn man bedenkt, dass die Ehepartner nicht häufiger als ungefähr dreimal im Jahr zusammenkamen (und dann immer nur für ein paar Tage) grenzt es an ein Wunder, dass anscheinend nur die Vater-Sohn-Beziehung emotional besorgniserregend war.