Der vaterlose Vater des vaterlosen Sohnes macht sich Gedanken über Vaterlosigkeit

Oberammergau, 10.11.1956: „Meine liebe Christl! Für deine beiden lieben Briefe und das süße Päckchen, sage ich dir von Herzen Dank. Christl, ich mache mir natürlich auch meine Gedanken über meinen Weg und bin zwar sehr unruhig, aber manchmal doch sehr zufriedenglücklich. Meine Arbeit macht gute Fortschritte. Neben mir sitzt ein Bildhauer von 40 Jahren. Er ist der Beste hier in der Werkstatt und einer der ersten Herrgottschnitzer im Ammergau. Dabei ist er ruhig und bescheiden. Ich halte mich gerne an ihn und er zeigt mir genauso gerne, wie er schnitzt. Lieb, das macht mich glücklich. Heute hatte ich mir vom Nachmittag auch einmal die Zeit genommen und einen Berg bestiegen. Es ist der ‚Kofel‚, der auf der letzten Ansichtskarte mit unserer Werkstatt im Hintergrund zu sehen ist. Er ist zwar nur ein Ausläufergipfel in der Hohen Bergkette der Alpen, aber man bekommt einen leichten Vorgeschmack von der Schönheit des Bergbezwingens. So ein Rundblick – ich wollte fast nicht mehr herunter.  Ja bei dieser Besteigung war ich auch glücklich. Es ist aber nicht das Gefühl vom Ferienglück, nein, es sitzt tiefer. Meine Lernbegierde ist unendlich und hier findet sie reichlich Nahrung. So geht es mir doch viel besser als auf dem Bau oder in der Fabrik. – Übrigens, wir sind in Oberammergau ungefähr 300 Schnitzer. Junge Männer wo du hin und naus schaust. Mit dem Arbeitseifer ist es bei ihnen nicht immer so gut bestellt wie in der ersten Woche, als ich herkam. Der Grund ihres Fleißes war damals, daß sie in der vorhergegangenen Kirchweihwoche dermaßen oft blau gemacht haben, daß sie es dann nachholen mußten und deshalb bis lange in die Nacht noch schnitzten. – Ich habe mich gefreut, daß du mir auch von Lothar etwas erzählt hast. Ich glaube, daß ich ihm fehle, jedenfalls denke ich selbst ja nur zu oft schmerzlich an eine vaterarme Kindheit.“