Archiv der Kategorie: Reflexives

Das allmähliches Verstummen des Berthold Rumold

Was brachte meinen Vater zum Verstummen? In seinen Briefen aus Oberammergau zeigte er sich vielseitig interessiert. Er äußerte seine Meinung über die neuesten Kino-Filme, über alte und neue Kunst, über die Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermode. Sogar zu klassischen Musikstücken fiel ihm etwas ein. Er fuhr Ski und unternahm ausgedehnte, teilweise waghalsige Bergtouren, kannte sich aus mit den Pflanzen der Region. Er studierte Kunstgeschichte, lernte Englisch und (ich glaubte es kaum) Latein. Mit seiner Rückkehr nach Karlsruhe muss eine Wandlung begonnen haben, die ihn immer tiefer in eine Zone des Schweigens hineinführte, aus der es zuletzt kein Zurück ins Leben, in die sprachliche Auseinandersetzung mit der näheren und weiteren Umgebung mehr gab. Einer meiner Freunde aus Kindertagen fand das im Rückblick geradezu löblich, gut sei das gewesen, dass mein Vater notorisch zu allem den Mund gehalten habe. Ich konnte und kann dem nicht zustimmen. Beinahe kommt es mir so vor, als wäre mein Vater mit zweiundsechzig Jahren daran gestorben, dass die nicht geäußerten Wünsche, die nicht vertretenen Standpunkte und die nicht mitgeteilten Beobachtungen, Meinungen, Ansichten und Einsichten ihm schließlich die Luft zum Atmen nahmen. Eine Lungenembolie wurde als Todesursache festgestellt. Der Hausarzt, dem der Befund der Klinik zugesandt worden war, sprach dagegen von einem Rätsel.

Ein ästhetischer Schürzenjäger im Reigen der Klischees

Berthold Rumold am 30.11.1979

Berthold Rumold am 30.11.1979 (Aufnahme: Horst Schlesiger, Bildrechte: Stadtarchiv Karlsruhe)

Warum kopierte mein Vater die „Gefesselte Hexe“ (1926) von Ernst Barlach? Warum liebte er es, in klischeehaften Sujets zu schwelgen? Warum schreckte er bildnerisch beinahe vor nichts zurück und hatte selbst im Fall des besoffenen Nachtwächters keinerlei Berührungsängste? Das Hemd des Applauses war ihm näher als der Rock des künstlerischen Renommees. Er wollte gefallen und (aner)kannte dabei keine Rang- und Klassenunterschiede irgendwelcher Art. So stand er künstlerisch den Gauklern und Artisten näher als den Predigern der Guten Form und den strengen Wächtern der ästhetischen Sitten. Seine ästhetische Moral erlaubte ihm jeden Seitensprung, was ihm die unter dem Pantoffel ihrer Doktrin werkbündelnden Kunst-Moralisten nicht verziehen haben.

Skizze zu einer Körper-Biografie

oldshatterhand

Berthold Rumold mit ca. 30 Jahren in den Ammergauer Bergen

Mein Vater war ein gutaussehnder Mann. Als Junge erkannte ich in ihm Old Shatterhand alias Lex Barker wieder. Was war dagegen schon der Alain-Delon-Vater meines besten Freundes, zumal jener diesen regelmäßig schlug. Ein gutaussehnder Mann mit einem leichten Buckel, den ich schon als Siebenjähriger wahrnahm, da mir auffiel, dass mein Vater bei Tisch keineswegs so vorbildlich gerade saß, wie man es von mir verlangte. Kein Hühne, aber groß, blond und blauäugig genug – von Frauen durchaus umschwärmt bis in seine Fünfziger hinein. Bildhauer wird man nicht zuletzt aus körperlichen Gründen: aus erotischer Liebe zum Plastischen und weil man sich gerne muskulär verausgabt. Noch die angeborene Rückgratverkrümmung schien zu seiner Holzbildhauerei zu passen, da beim Schnitzen nicht selten eine leicht gekrümmte Haltung einzunehmen ist. Ludwig Marcuse sieht im Körper „den großen Vergessenen, der uns herumschleppt“ (Philosophie des Un-Glücks). Nun, bis in seine dreißiger Jahre hinein war mein Vater durchaus nicht somavergessen: er kletterte in den Bergen rund um Oberammergau, fuhr Ski und liebte es, an einem Bach in der Sonne zu liegen; hatte er die Möglichkeit dazu, schwamm er im Rhein. Und das, was er in einem Brief einmal „das gewisse Etwas“ genannt hat, kam zwar (mindestens) bis 1962 mehr als nur etwas zu kurz, dies aber nur aus Mangel an Gelegenheit und nicht aus Mangel an Interesse.

opa_bertl_mama_aenne_a

Von links nach rechts: Berthold Rumold, Georg Rumold (der eine Großvater) oder Friedrich Ott (der andere Großvater), Klara Rumold (die Mutter), Änne Rumold (eine Schwester); 1934 im Gartenhaus, Sieglindenstr. 9, Ludwigshafen

Was macht einer, der gerne klettert und im Schnee herumrutscht, wenn ihn das selbst gewählte Schicksal nach Karlsruhe zurück verschlägt? Aus den Bergtouren alleine oder mit einem Kumpel wurden Spaziergänge mit der Familie, Rad- und Wandertouren mit der Tochter. Ansonsten war der Körper Bestandteil des Arbeitsprozesses und ging, als deren unabdingbare Voraussetzung, ein in die Holz- und Steinbildwerke, die er schuf. Den Werken tat das gut, den Knochen, Muskeln, Sehnen und Venen nicht nur. Der krumme Rücken wurde immer krummer. War es auch ein körperliches Sich-am-Ende-Fühlen, das meinen Vater schließlich veranlasste, einem Bekannten gegenüber zu äußern, er habe mit dem Leben abgeschlossen? Oder war es am Ende noch einmal jenes von weither kommende, existenzielle Es-geht-nicht-Mehr, das er mir vererbt zu haben glaubte, wie er im Brief vom 8.2.1958 schrieb: „Ist unser [damals zweieinhalb Jahre alter] Lothar wieder gesund? Es ist mir sehr nachgegangen, daß er sagte, es ginge nicht mehr. Das ist ein Stück Wesen von seinem Papa.“

Das Nicken der Götter

kapfenburg_a

Lauchheim, 21.7.1953: „Meine liebe Mutti! Meine liebe Christl! Aus dem Gewühl der Arbeit möchte ich euch schnell ein paar liebe Worte senden, die euch sagen sollen, daß selbst ein Brief von zehn Seiten nicht ausreichen würde, um die Freude über eure Liebe, mit der ihr mich umgebt, dankbar auszudrücken. Mit den herzlichsten Grüßen und Küssen bleibe ich euer Berthold.“

Die Gegend östlich von Stuttgart bis Schwäbisch Gmünd, und darüber hinaus bis zur bayerischen Grenze „links“ von Nördlingen, war mir bis vor fünfzehn Jahren gänzlich unbekannt. Dann stieß ich, Zufall oder nicht, auf die Rumold-Realschule in Rumolds-, heute Rommelshausen, Gemeinde Kernen, und inszenierte dort eine kleine Kunstschau. Damit hatte ich, ohne es zu wissen, den ersten Schritt Richtung Lauchheim getan, wo mein Vater 1953 eine Zeitlang gelebt hat, kurz nachdem er 1952 meine Mutter kennengelernt hatte. Ein paar Jahre später brachte mich ein Holzgrabmal-Auftrag nach Plüdershausen. Da war ich Lauchheim wieder ein gutes Stück näher gekommen. 2007 fuhr ich mit meiner Frau zu einem Konzert ihres Ensembles Con Sprezzatura auf der Lauchheimer Kapfenburg (siehe Ansichtskarte). Noch immer hatte ich keine Ahnung, dass mein Vater hier einmal ansässig gewesen war. Das erfuhr ich erst, als ich nach dem Tod meiner Mutter die Briefe las, die er ihr aus Lauchheim und aus dem nahe gelegenen Aalen geschrieben hatte. In Schechingen, westlich von Aalen, hatte ich ein halbes Jahr zuvor ein bei mir in Auftrag gegebenes Grabmal aufgestellt. Was irritiert: nie zuvor war ich in diese Gegend gekommen und jedesmal führte mich dann der Weg nach oder in Richtung Aalen und Lauchheim, wo der Vater unwahrscheinlicher Weise vor fünfzig Jahren eine Zeitlang gelebt hatte. Die Götter nicken numinos. Aber was wollen sie uns mit ihren Winken bedeuten? Oder winken sie einfach nur so, wie um zu sagen: wir sehen euch, seht ihr uns auch?

Genealogisches Aha-Erlebnis

Unter meinen Vorfahren der letzten drei bis vier Generationen war, wenn man den amtlichen Angaben Glauben schenkt, nicht einmal ein Pfarrer. Auch kein Haus- oder sonstiger Lehrer, erst recht kein Professor oder ähnliches. Aber nicht nur der allgemein geistlich-geistige, nein, auch der ganze musisch-künstlerische Bereich ist vollkommen unter-, ja weniger noch: überhaupt nicht repräsentiert. Ärzte gab es auch keine, noch nicht einmal dental dilletierende Barbiere, mit deren modernen, technisch aufgerüsteten Kollegen mein Vater schon in jungen Jahren mehr zu tun hatte, als ihm lieb gewesen sein dürfte – dies nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Er war noch keine 28 Jahre alt, da musste die zuvor nur überkronte obere vordere Reihe von neun Zähnen komplett ersetzt werden, wie er in einem Brief vom 9. Februar 1957 detailliert erläutert.

Stattdessen gab es mütterlicherseites mindestens einen Schreiner- und einen Glasermeister, einen Landwirt, einen Holzhauer und einen Bahnarbeiter, als dessen Pendant väterlicherseits man vielleicht den 1881 im Schwäbischen geborenen Postillion Georg Adam Jakob Rumold ansehen kann, der dann vor 1905 die aus dem bayerischen Uffing (nicht weit von Oberammergau) gebürtige Köchin Kreszenzia Mayr geheiratet hat. War sie ihm etwa bei einer dienstlichen Fernpostkutschfahrt in Uffing vor die Pferde gelaufen?

Was noch? Ein Postbeamter, ein Gutspächter, ein Söldner, ein Fabrikarbeiter und ein Schneider. Also vielleicht kein Wunder, dass ich mich im Studium immer ein wenig wie im falschen Film fühlte, ohne dass ich hätte sagen können, welches denn der richtige Film für mich gewesen wäre?

Zur Moral der Briefpublikation

Sollte das einmal privat Gewesene für immer privat bleiben? Wird die intime Sphäre im Nachhinein verletzt, wenn Mitteilungen between you and me and the bedpost Jahrzehnte später publik werden? Wer darf in solchen Fragen in welchem Umfang entscheiden, wer darf es sich unter welchen Umständen herausnehmen, über indviduelle Entscheidungen zu urteilen? Eine Ethikkommission würde vielleicht sagen, dies sei ein delikates moralisches Problemgeflecht. Und nach längerer Beratung zu dem Schluss kommen, dass manches dafür und manches dagegen spreche. Und womöglich würde sie von übergeordneten gesellschaftlichen Interessen faseln, die feststellbar sein müssen, damit gegen das Gebot des grundsätzlich ewigen Schutzes der Privatsphäre verstoßen werden darf. Oder so ähnlich oder auch ganz anders.

Abgesehen davon, dass ich es für moralisch fragwürdig halte, die Moral einer Geschichte zu einer Angelegenheit für Experten zu erklären und sich ihrer mit Hilfe von Ethikkommissionen zu entledigen, wüsste ich derzeit nicht, von wem ich mir sagen lassen könnte, sollte oder wollte, ob ich die Briefe meines Vaters in voller Länge oder vielleicht wenigstens in Auszügen gewissermaßen ungefragt veröffentlichen darf oder nicht. Von Friedrich Nietzsche würde ich eine andere Auskunft bekommen als von Hans Küng, mit der Entscheidung für den Entscheider ist in der Sache also schon vorentschieden worden. Das heißt, ich komme so oder so, implizit oder explizit, um eine eigene Meinung nicht herum.

Der Letzte Wille eines Menschen ist ein noch zu Lebzeiten be(ur)kundeter. Glaubt man nicht an die Authentizität oder Verbindlichkeit der Resultate von spiritistischen Befragungen, dann gibt es jenseits davon keinen weiteren oder allerletzten, posthum geäußerten Willen. Bleibt die irreal-spekulative Frage, ob er es gewollt hätte, beziehungsweise (und das macht die Sache noch komplizierter) ob sie, die Eltern, es gewollt hätten. Denn meine Mutter hätte dann wohl auch ein Wörtchen mitzureden, um nicht zu reden von nicht wenigen anderen, längst verstorbenen Personen, über die in den Briefen dies und das mitgeteilt wird. Einmal mehr zeigt sich: das Nachdenken über ein Problem führt, je gründlicher es geschieht, nicht zu einer Lösung, sondern zur Vervielfachung der offenen Fragen.

Ich weiß nicht, ob er es gewollt, ob sie es gewollt hätte. Eher nicht, würde ich sagen. Oder vielleicht doch? Wer weiß. Hätte, könnte, wollte, würde: hätte ich mich durch solches Nach-Fragen im Konjunktiv irritieren lassen, wäre dieser Patrolog nicht begonnen worden. Und das fände ich schade, dessen bin ich mir ohne Zweifel sicher. Mehr noch: aus diesem Schade-Finden ergibt sich für mich die moralische Pflicht, mit der Veröffentlichung der Briefe und der Bilddokumente fortzufahren. Wäre ich pathetisch veranlagt (und tatsächlich ist mir eine gewisse Neigung zum skeptisch gebrochenen Pathos nicht fremd), würde ich sagen: ich bin es meinen Eltern, aber insbesondere meinem Vater schuldig, seine Briefe hier (und später vielleicht noch an anderem Ort und in anderer Form) zu publizieren. Denn es zeigt sich in ihnen, wer er war. Und das ist sehenswert. Und schließlich und vielleicht vor allem: wie es sich zeigt, ist in hohem Maße lesenswert. Diese Briefe sind komisch, sie sind traurig, mitunter ärgerlich und oft unterhaltsam, auch informativ, auch poetisch; sie regen zum Nachdenken und zum Sich-Aufregen, zum Mit-Leiden und zum Abstandnehmen an. Sie sind ein Beitrag zur Sozialgeschichte, zur Geschichte der Kunst und des Kunsthandwerks und nicht zuletzt zur Geschichte der Filmrezeption. Kurz: diese Briefe sind Literatur ohne Wenn und Aber. Es wäre ein Fehler, sie unter Verschluss zu halten und es wäre ein absurdes moralistisches Missverstehen von Moral, sie aus „ethischen Gründen“ nicht zu veröffentlichen.

Schleiche ich in der Vergangenheit herum?

Am 21. März 1996 notiert der Künstler Hetum Gruber: „Das dringende Bedürfnis nach Geschichtslosigkeit.“ Und am 23. März 1996: „Es ist ziemlich ekelhaft, in der Vergangenheit herumzuschleichen.“ Diese Empfindung kann ich nachvollziehen. Natürlich kam mir, als ich das heute las, die Frage in den Sinn, ob ich hier in der Vergangenheit (meines Vaters und in meiner eigenen) „herumschleiche“. Zu Beginn meiner Vater-Brief-Lektüre vor gut einem Jahr war tatsächlich eine Empfindung im Spiel, die man als eine Art Ekel bezeichnen könnte. Mittlerweile ist dieser Ekel nicht nur der Neugierde gewichen, sondern auch der Freude am Rekonstruieren des Gewesenen. Rekonstruieren heißt in erster Linie neu erschaffen, und die in der Vorsilbe „Re“ enthaltene Behauptung, dass da etwas wiedererstellt werde, ist Illusion und bloße Metapher.