Archiv für den Monat: April 2015

Ein typischer Samstag

Oberammergau, 20.2.1960: „Meine liebe Christl! Es ist mal wieder Wochenende. Im Radio spielt heute ein Wunschkonzert vom österreichischen Rundfunk. Unser Anderl schnitzt hinter mir herum, ein bissel mißgelaunt, weil auch er die stillen Tage fürchtet. Mit seinen 34 Jahren springen ihm die Mädels doch nicht mehr so nach wie er es will, aber ich glaube, er selbst will auch nicht mehr die Flirterei und zum Heiraten kommen ihm immer mehr Bedenken je älter er wird. Außerdem ist er magenkrank. – Ja so ist es wieder ein typischer Samstag. Mein Heimweh fehlt auch nicht.“

Später Kreuzweg als visueller Schlussakkord

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Tonmodell (1990/91) eines geplanten Kreuzwegs für die katholische Kirche St. Martin in Karlsruhe-Rintheim.

Die Arbeit wurde nicht mehr ausgeführt. Ein Kreuzweg besteht in der Regel aus 14 räumlich linear angeordneten Einzeldarstellungen, die von den Gläubigen bzw. den Betrachtern nacheinander meditativ-rezeptiv abgegangen werden können. Das Zugleich des Bildes widerspricht bei der von meinem Vater Berthold Rumold gewählten Darstellungsvariante dem zeitlichen Nacheinander des unterstellten historischen Ablaufs. Die drehbuchartig narrativ unterscheidbaren Einzelszenen von der Festnahme bis zur Grablegung Christi werden als ein einziges Gesamtgeschehen in situativer Synopse zu einem einzigen Gesamtbild arrangiert. Dadurch fehlt aber der pseudo-fotografische Charakter der konventionellen Stationen-Bilder. An seine Stelle tritt das „Abbild“ eines komplexen Ereignisses höherer, symbolischer Ordnung, bei der die räumliche Gliederung einer zeitlichen Gliederung korrespondiert. Musikalisch gesprochen, hat man es nicht mit einer Tonfolge, sondern mit einem Akkord, nicht mit einer Melodie, sondern mit einem Cluster zu tun, wobei das wandernde Augen durchaus in der Lage ist, den inhärenten melodisch-linearen Charakter der bildkünstlerischen Komposition zu rekonstruieren.

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Detail, Jesu Festnahme und Verurteilung

 

Hü oder hott? München oder …?

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Ohne Marke sieht man den Stempel besser.

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 6.2.1961: „Liebe Christl! Ich möchte dir wenigstens eine Kleinigkeit an Geld schicken. Wenn mir meine Kameraden am Donnerstag (der heißt hier der ‚Unsinnige‘ und es geht dementsprechend zu) keinen Strich durch die Rechnung machen, werde ich endlich meine lokalen Schulden los. Sind die Kinder wieder gesund? Ich hoffe sehr darum. – Sonst habe ich noch gute Arbeit und gehe gerne zum Schifahren. Heute ist allerdings das Wetter so mild, fast wie ein Fastnachtswetter. Ja, wenn ich mal vom Wetter anfange, ist es mit dem Erzählen nicht mehr weit her. Christl, ich sende dir und den Kindern meine herzlichsten Grüße. Dein Berthold.“

Anfang 1961, nach mehr als vier Jahren Oberammergau, hatte mein Vater vor, sich in München auf die Meisterprüfung vorzubereiten, um dann noch im selben Jahr die Prüfung abzulegen. Am 31.1.1961 schreibt er: „Christl, in München war ich nicht, ich habe telefoniert, weil ich halt doch die Zeit und das Geld scheute. Ich konnte die Meisterschule erreichen. Sie hat Sommer und Wintersemester. Ein Sommersemester kostet 70,- ein Wintersemester 130,- Mark. Die Ausbildung ist weitgehend individuell. Nun, ich will im diesjährigen Sommersemester am 15. April beginnen.“ Doch schon vier Wochen später diese Nachricht: „Liebe Christl! Ich war vergangene Woche in München. Die Meisterschule war wirklich, wie du schon vorausgesehen hast, eine Ent-Täuschung. Ich wüßte nicht wie ich sowas bewältigen sollte.“ Daraufhin kam es zwischen den Eheleuten offenbar zum Eklat, denn eine knappe Woche später schreibt er kurz und (scheinbar) entschlossen: „Liebe Christl! Ich bitte dich um Verzeihung! Nimm sofort die Laufmaschen wieder an. Ich gehe am 1. April nach München auf die Meisterschule und versuche, ob ich im Herbst die Prüfung bestehe. Berthold!“

Warum es mit München dann doch nichts wurde, ist den Briefen nicht zu entnehmen. Tatsächlich war die Situation äußerst schwierig. In München die Meisterschule besuchen und in Oberammergau Geld verdienen – wie sollte das vonstatten gehen?! Doch der Juni brachte die Lösung in Form eines Kurses vor Ort. Am 5.6. schreibt er: „Es stellte sich auch heraus, daß auf unserer [Oberammergauer] Schule in Zukunft direkte Meistervorbereitungskurse abgehalten werden. Der erste beginnt am 15. September und geht bis vor die Prüfung im Frühjahr. Ich beginne also im September mit der Schule und bleibe noch so lange in der Werkstatt.“

Der „Klepper“ wird in den Gemeinderat gewählt

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau, 28.3.1960: „Es war so ein schöner Tag, daß ich jetzt am späten Abend, wo alles aus der Bude ist, doch noch gerne ein bissel an dich schreiben möchte. Viel gearbeitet wurde ja heute am Montag nicht. Es war viel zu viel Aufregung im Dorf und ein fantastisch schöner blauer Himmel. Schon als ich aufwachte und laut Radiosendung mit schlechtem Wetter rechnete, aber einen blauen Himmel sah, war ich froh. Im Geschäft war dann wenig Betrieb, weil gestern Wahltag war für den Bürgermeister und den Gemeinderat. Unser Josef (Pankratz) und der Chef, Herr Lang, hatten kandidiert. Aber weil noch keine Ergebnisse heraus waren, stand alles diskutierend beieinander auf der Straße und genoß teilweise das schöne Wetter und teilweise die steigenden Chancen von Herrn Lang. Die Spannung lag darin, daß unser schärfster Geschäftskonkurrent bei der Gegenpartei aufgestellt war. Und endlich war es soweit. Unser Gegner, der bisher im Gemeinderat saß, mußte heraus und unser ‚Klepper‘ [Spitzname für Herrn Lang] hatte genug Stimmen, um hinein zu kommen. Da unternahmen wir natürlich gleich einen Firmenausflug ins Grüne. […] Josef kam bei der Wahl nicht durch. Er hatte nicht allzuviel Stimmen bekommen. Ein bissel bin ich schadenfroh, weil er so gerne den Feldwebel spielt.“

Keine Lust auf die Buddenbrooks

Aus einem Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 27.2.1960: „Es ist schönes Wetter, ja schon ein Hauch von Frühling in der Luft. Wenn es morgen am Sonntag so ist, gehe ich am Nachmittag über den Berg. Sonst bin ich zufrieden im Geschäft mit der Arbeit und in der Schule. Den Film ‚Die Buddenbrooks‘ habe ich mir nicht angesehen. Es liefen beide Teile bei uns. Ich habe ein Vorurteil gegen das Milieu des gehobenen Bürgerstandes mit der Liselotte Pulver und Nadja Tiller. Es wäre vielleicht interessant gewesen, aber ich hatte halt keine Lust am letzten Sonntag. Christl, ich höre jetzt auf zu schreiben. Vielleicht arbeite ich noch ein bissel, es täte mir gut in der nächsten Woche.“

Ehrfurcht vor dem Augenblick

Brief an Ch. Rumold aus Oberammergau am 23.4.1960: „Meine liebe Christl, ich habe mich so gefreut, als ich heute deinen lieben Brief gelesen habe. Es geht mir im Geschäft gut. Es ginge mir aber noch besser, wenn ich nicht so gute Kameraden hätte, die sich im Laufe des Jahres so allerhand einfallen lassen. Heute z. B. hat unser Toni geheiratet in der Ettaler Kirche. Es war ja sehr schön, nur an meine liegengebliebene Arbeit darf ich nicht denken. Aber es hat mir wirklich gut gefallen mit meinen sieben Kumpels in der Kirchenbank zu stehen, sitzen, knien, grad wie es die meisten von uns machen, so tun die andern auch. An Gott denkt dabei kaum jemand, aber wenn der Pfarrer vorne ein paar mahnende Worte an das Brautpaar richtet und die Orgel so schön spielt, hat man eine bestimmte Ehrfurcht vor dem Augenblick. Es ist doch die Liebe sichtbar geworden. – Schatz, ich denke so gerne an unsere Ostertage zurück, an unseren Kaffeetisch am Samstag und Sonntagmorgen, wie Lothar und Barbara so quicklebendig auf dem Sesselstuhl herumturnten. Ach, wir sind doch eine glückliche Familie. Ich bin verliebt in meine Kinder und vor allem in dich, Christl.“

Dazu ergänzend aus einem zwei Tage zuvor geschriebenen Brief: „Es war sehr schön bei dir und unseren Kindern. Vor allem habe ich mich über Lothar gefreut, denn um sein Herz hatte ich immer ein bissel Bange.“ Hier geht es nicht um das Herz im physischen, sondern gewissermaßen im metaphysischen Sinn. Das Getrenntleben ab Ende 1956 (im April 1960 seit ca. dreieinhalb Jahren) war offenbar meinerseits cordial nicht ohne Folgen geblieben. Wenn man bedenkt, dass die Ehepartner nicht häufiger als ungefähr dreimal im Jahr zusammenkamen (und dann immer nur für ein paar Tage) grenzt es an ein Wunder, dass anscheinend nur die Vater-Sohn-Beziehung emotional besorgniserregend war.

Jetzt hoffen wir halt, dass es mit mir einmal besser wird

Aus einem Brief an Ch. Rumold – Oberammergau, 9.1.1961: „Den Mantel, den ich für dich machen ließ, habe ich schon drei Wochen in meinem Schrank hängen. Er war eine grausige Enttäuschung in Farbe und Schnitt. Ich hatte ein zartes Weinrot ausgesucht. Es ist ein grausiges Grau geworden. Der Schnitt ist ja einfach, aber der Kragen so eckig und unweiblich, nicht ein bissel modern gefällig – und dafür muß ich noch 150 Mark zahlen. So schlaue Sachen mache ich am laufenden Band. Wenn ich wenigstens daraus lernen würde; aber da habe ich wenig Hoffnung. Sonst bin ich wenigstens gesund, ich gehe gerne mit meinen Schi einen Berg hinauf und puste mich dabei gründlich aus und fahre dann einen gemütlichen Weg hintenrum herunter. Das Wetter ist heut‘ Morgen immer ein bissel unter und etwas über dem Gefrierpunkt. Schneien tut es oft. Zum Schilaufen ist das recht schön. Wenn ich es nur ein bissel besser könnte, nur zu oft muß ich im Hochwald vor einem Baum die Notbremse ziehen, d.h. mich grad auf den Hintern setzen, bevor ich in einen Baum sause. Aber es geht doch von mal zu mal besser und schön ist es immer in der verschneiten Stille, wenn nur das Wild in gemessenem Abstand an einem vorbeizieht, oder verhoffend von oben herab auf einen lugt. Gestern bekam ich fast Angst vor einem großen Hirsch, der nicht aus dem Weg ging (ich kam gegen den Wind ganz still herangeschlittert er sah mich nicht beim Äßen und hörte nichts). – Am Abend sah ich O. W. Fischer in ‚Scheidungsgrund Liebe‘. Er hat sich da ein bissel arg in Szene gestellt und überflüssige „Boulevard-Milieus“ waren auch genug drin. Schade, es war so nett, wie er den Köder selbst bezahlen mußte (ein Fisch) mit dem er ‚geangelt‘ wurde. Christl, Schatz, jetzt hoffen wir halt, daß es mit mir einmal besser wird.“

Prolog (bei den Adventisten)

Wo ein Vater war, gab es notwendigerweise auch eine Mutter. Patrolog und Matrolog sind demnach in Teilen kaum voneinander zu unterscheiden. Und das gemeinsame, die Paarbeziehung ursprünglich stiftende Dritte ist hier mit im Bilde: die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten. Berthold Rumold stand zu dieser Zeit am Beginn seiner Holzbildhauerlehre bei Karl Kinsler.

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Gemeinsam beugt man sich über das Wort Gottes – in der Mitte: Christine („Christl“) Luise Burst, ab 1955 verh. Rumold (Aufnahme ca. 1950)

 

Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen

Brief an Ch. Rumold, Oberammergau, 30.4.1960: „In der Arbeit geht es zur Zeit sehr gut. Meine modernen Entwürfe machen sich immer mehr bezahlt, denn die einfachen Formen sind schnell zu schnitzen und gehen jetzt so gut los, daß der Künstlerspleen in mir schon beinahe beleidigt ist, weil der sich vor dem Beifall der Masse fürchtet. Aber wenn ich, wie es mir am Freitag gelang, in acht Stunden neunzig Mark verdienen kann, ist mir doch wohler als das Hungerkünstlerleben. Die übliche Schwarzarbeit mit Grünewalds ist mir schon nicht mehr rentabel, weil ich dabei viel zu sorgfältig bin und viel Zeit verliere. Wenn nur die Steuern nicht so hoch wären, geht es nämlich über die Hundert-Grenze, dann zahle ich Abgaben, daß mir’s graust. Gestern bekam ich auch endlich mein modernes Relief fertig. Die Hochzeit am vergangenen Wochenende ließ mich doch nicht zur Arbeit kommen und unter der Woche hatte ich keine rechte Lust und genug andere Arbeit zu erledigen. Ich bin aber zufrieden wie es jetzt geworden ist. Es wurde eine schöne klare Darstellung des Gespräches auf Golgatha zwischen Jesus und seiner Mutter mit dem hilflosen Johannes, der still dabei steht und alles nicht begreifen kann. Für die Modellierstunden am Dienstag habe ich einen neuen Gedanken von einem Abendmahl. Ich möchte einen Kreis anlegen und in seine Mitte Christus stellen mit Johannes in seinem Schoße. Im oberen Kreisbogen verteile ich die zehn Jünger hinter Christus und unten steht allein Judas, dem der Kelch gereicht wird. Es ist für mich das große Problem des Ausgestoßenwerdens. Judas muß gegen die zehn Jünger soviel Spannung ausstrahlen, daß er diese aufwiegt. – In München ist doch noch immer die Gauguin-Ausstellung. Zu gerne möchte ich mir diese anschauen, denn die Eindrücke, die so ein Genie auf mich macht, sind mir wichtig.“